chapter 2 - liability
♫ track no. 2
𝘽𝙖𝙗𝙖 𝙊'𝙍𝙞𝙡𝙚𝙮 𝘣𝘺 𝙏𝙝𝙚 𝙒𝙝𝙤
SONNTAGE TRANSPORTIEREN in ihrer regulären wöchentlichen Wiederholung normalerweise das Gefühl von einem Abschluss. Ein letztes Mal ausschlafen, ein letztes Mal nichts tun, zeitig zu Bett gehen... Sie sind immer belastet von einer gewissen Melancholie. Meist aber ganz sicher nicht von morgendlichen Panikattacken, weil sich ein Familienmitglied zu einem (fast) unangekündigten Überraschungsbesuch entschieden hat.
Yoongi war schneller wieder vom Balkon gestürmt, als es ihm in seinem verkaterten und bekifften Zustand eigentlich hätte möglich sein dürfen. Im Bad hatte er nur kurz einen Blick auf das Desaster geworfen, das sein Gesicht darstellte. Etwas schlampig aufgetragenes Make-Up und Augentropfen von Jin hatten ihren Zweck notdürftig erfüllt. Das größte Problem war damit aber noch lange nicht gelöst.
Die meisten Drogen sind noch Tage nach dem Konsum im Urin nachweisbar (mal ganz abgesehen davon, dass sein letzter Zug von einem Joint nicht mal fünf Minuten in der Vergangenheit lag). Dort sogar teilweise noch länger als im Blut. Aber wie entgeht man nun der bevorstehenden Entlarvung, wenn besagtes Familienmitglied so misstrauisch ist, dass es dir wahrscheinlich sogar bis auf die Toilette folgen wird?
Yoongi hatte keine Zeit mehr, sich künstlichen Urin auf Ebay zu bestellen (und schon mal gar nicht die Kohle dafür). Auch hatte er keinen Vorratsschrank mit eigenem aus nüchternen Zeiten. Zumal der ihm angesichts der Tatsache, dass die meisten modernen Tests Temperaturmesser besaßen und er schlecht das Zeug in Anwesenheit seines Vaters mit einem Föhn erhitzen konnte, auch rein gar nichts genützt hätte. Ergo gab es nur eine einzige Möglichkeit: frischen Urin von einer Person besorgen, die ganz sicher clean war.
»Namjoon-hyung!«
Der Kopf seines besten Freunds erschien am Eingang des Badezimmers. Sein Gesichtsausdruck und seine ganze Körperhaltung suggerierten bereits, dass er ahnte, worum es ging.
»Ich brauch deine Hilfe«, bestätigte es Yoongi ihm kurz angebunden, eine Hand um den Rand des Waschbeckens geklammert.
Namjoons Mundwinkel wanderten nach unten. »Nur wegen dem Weed oder...?«
»Müssen wir darüber jetzt diskutieren?«
»Ich will nur klarstellen, wie viele Sorgen ich mir machen muss und ob ich –«
»Joon!«
Yoongis Finger verkrampften sich um das Porzellan. Wie gerne hätte er Namjoon gesagt, dass er sich ändern würde, wenn er es könnte. Er wäre so gerne anders. Aber er konnte ihn nicht anlügen. Zumindest nicht in dieser Hinsicht.
»Komm schon...«, versuchte er es stattdessen in guter alter Manier. »Du kannst mir das nicht antun... Du weißt, was passiert, wenn der Test positiv ist.«
»Dann solltest du dir ja keine Sorgen machen müssen, oder? War doch nur Gras. Das versteht dann doch sicher auch dein Vater.«
Namjoons Schlagfertigkeit war nur eine Farce, doch sie traf Yoongi trotzdem. Immerhin war er derjenige, der etwas dringend brauchte und sein bester Freund war der Einzige, der ihm das gerade geben konnte. Der Einzige in diesem Haushalt, dessen Urin seit jeher rein wie frisch gefallener Schnee war. Natürlich nur, wenn man das eine Mal nicht mitzählte, als Yoongi ihn kurz nach ihrem Umzug nach Seoul bei Taehyung dazu gebracht hatte, mit ihnen Gras zu rauchen. Namjoon hatte nach drei Kotz-Orgien an jenem Abend beschlossen, dass er Drogen hasste. Ein für alle Mal.
»Bitte, Joon!«
Yoongi konnte wahrlich dabei zusehen, wie die Fassade seines besten Freundes nach und nach bröckelte. Und er befeuerte es mit dem flehendsten Blick, zu dem er imstande war. Er hasste sich selbst dabei. Wahrscheinlich nicht genug, denn sonst würde er Namjoon nicht immer und immer wieder in solche Situationen bringen. Yoongi wusste, dass es zwischen ihm und seinem Vater einen Deal gab. Dass dieser seinem Mitbewohner ein Versprechen abgerungen hatte, immer ein Auge auf seinen Sohn zu haben, solange er es nicht konnte. Es war die Bedingung gewesen, dass Yoongi nach dem sogenannten Entzug in Busan überhaupt wieder in die WG hatte zurückkehren dürfen.
Und was hatte genau der Yoongi vor etwas mehr als einer Woche getan? Jeongguk angehauen, ihm drei Gramm Gras, ein paar Oxycodon und Xanax zu organisieren. Er hatte so hart auf den Entzug, seinen Vater und ja, auch Namjoon geschissen, wie man überhaupt auf irgendwen hätte scheißen können. Aber am allermeisten hatte er auf sich selbst geschissen. Die Drogen hatten ihn vor etwas mehr als zwei Monaten fast umgebracht und trotzdem hatte er es am Dadaepo-Strand beim »Entgiftungs-Yoga« kaum erwarten können, sich zuhause wieder etwas reinzupfeifen. Ungeachtet des Schadens, den er wohlwissentlich damit verursachen würde.
Und nun stand Yoongi hier und durfte seinem besten Freund dabei zusehen, wie er ergeben seufzte. Wie er sich an ihm vorbeischob und die Fächer ihres Badschranks nach einem leeren Behältnis durchsuchte. Yoongi hatte gewonnen. Aber zu welchem Preis?
»Danke«, brummte er und schlurfte langsam in Richtung der Tür. »Stell's dann einfach –«
»Hinter die Klobürste. Wohin auch sonst.«
Yoongi wusste, dass es nun an der Zeit war, das Feld zu räumen und besser erst wieder aufzukreuzen, wenn es an der Tür klingelte. Mit gesenktem Kopf schlurfte er zurück in sein Zimmer, wo Bomi ihn prompt mit vorwurfsvollen Pfiffen in Empfang nahm. Yoongi hatte sie zwar nicht in den Käfig gesperrt, doch sie hasste es so oder so, nicht am WG-Leben teilnehmen zu dürfen. Um dies zu demonstrieren, flatterte sie aufgeregt zwei Runden durch Yoongis Zimmer und verlor dabei mindestens drei Federn.
»Du kannst mich mal kreuzweise«, zischte er dem Federvieh entgegen, ehe er genervt vor seinem Kleiderschrank in die Hocke ging und damit begann, die Schubladen zu öffnen.
Der trist gefärbte Vogel gab erneut ein lautes Pfeifen von sich und hämmerte dabei mit dem Schnabel auf die Gitterstäbe des Käfigs. Kurz darauf flatterte Bomi zu einem der Äste, die ihr Besitzer extra für sie an der Decke angebracht hatte.
Yoongi warf ihr einen bösen Blick zu und beschloss, sie ab sofort vollkommen zu ignorieren. Inmitten seiner Socken fand er auch schnell, was er suchte. Das, was ihm wohl besser vor gut zwölf Stunden in die Hände hätte fallen sollen. Mit gespitzten Ohren brachte er das Tütchen mitsamt Handspiegel zu seinem Schreibtisch. Eine Karte entnahm er aus seinem Geldbeutel.
Eigentlich hatte er sich vorgenommen, den Tag zum Ausnüchtern zu verwenden. Mit seinem letzten Gras ein paar sanfte Joints zu rauchen und dann einfach nur den verlorenen Schlaf nachzuholen. Pep zu ziehen, war eigentlich nicht sein Plan gewesen. Es würde ewig dauern, davon wieder runterzukommen. Naja, wenn er Glück hatte, lagen hier noch irgendwo ein paar Benzos zum Kontern rum. So oder so würde er sich jetzt diese Line genehmigen. Er sah keinen anderen Weg, einigermaßen fit und nicht halb tot vor seinem Vater auftreten zu können.
Bomi schrie erneut in ihrer vorwurfsvollsten Tonlage auf, als Yoongi damit begann, mit schnellen und geübten Bewegungen das Pulver, das er zuvor auf den Spiegel geschüttet hatte, mithilfe einer alten Fahrkarte zu zerkleinern und zu einer dünnen Linie zu schieben.
»Was?«, fragte er sie genervt. »Willst du mir jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen machen?«
Er rollte sich ein Stück Papier zu einem kleinen Röhrchen, legte einen Finger auf sein linkes Nasenloch und zog die verhältnismäßig kleine Line in einem Zug. Sofort breitete sich das bekannte Brennen auf seinen Schleimhäuten aus und der bittere Geschmack kroch bis in seinen Rachen. Es fühlte sich eklig an. Wie immer, wenn sein Körper eigentlich schon längst am Punkt angekommen war, völlig den Geist aufzugeben. Er war bereits über 24 Stunden wach. Und wenn er ehrlich zu sich war, konnte man die drei Stunden, die er gestern nach seiner Freitagsschicht geschlafen hatte, nicht wirklich zählen.
Yoongi nahm sich einen Moment, um über das eklige Gefühl hinwegzukommen, ehe er sich schleunigst daran machte, alles wieder zu säubern und aufzuräumen. Keine Sekunde zu spät, denn kaum hatte er zu guter Letzt sein Spiegelbild gecheckt, ertönte auch schon das widerlich schrille Geräusch ihrer Klingel.
Bomi gab ein aufgeregtes Zwitschern von sich und flog zu einem anderen Ast. Sie hasste das Geräusch genauso so sehr wie Yoongi.
Er schnaubte und reckte den Kopf. »Sonst noch irgendwelche motivierenden Worte?«
Als Antwort erreichte ihn nur ein desinteressierter Blick von ihrem kleinen schwarzweißen Gesicht. Sie hatte sich stets geweigert, sprechen zu lernen. Löcher in Yoongis Klamotten und Möbel (und manchmal auch Gliedmaßen) zu nagen war ihr meist Beschäftigung genug.
»Schön«, grummelte der Student und fuhr sich ein letztes Mal mit klopfendem Herzen über seine Nase. »Dann mal auf ins Verderben.«
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Min Pilwoo, Yoongis Vater, begutachtete den Teststreifen gut dreimal, bevor er dem Ergebnis darauf endlich Glauben schenkte. Sein Ausdruck hatte seither ein wenig an Wachsamkeit verloren und war wieder weicher geworden. Dies änderte jedoch nichts an Yoongis nach wie vor hohem Puls. Ob dieser nun von den Amphetaminen oder der Angst herrührte. Das inzwischen leere Fläschchen, das Namjoon ihm gegeben hatte, hielt er nach wie vor mit zitternden Händen in den überlangen Ärmeln seines Pullovers versteckt.
»Schön und gut«, waren Pilwoos erste Worte, »aber glaub ja nicht, mir wäre der Geruch von Rauch nicht aufgefallen. Man sollte sich am besten gleich von allen Suchtmitteln trennen, das weißt du.«
Yoongi wich seinem Blick aus. Dass er das Rauchen aufgeben sollte, durfte er sich bereits eine Ewigkeit anhören. Schon bevor sein Vater unfreiwillig Zeuge seines leblosen Körpers inklusive einer Überdosis geworden war. Das hatte man eben davon, wenn der alte Herr als Arzt im Seoul National University Hospital arbeitete.
»Ich gebe mein Bestes«, log Yoongi und besaß dabei sogar die Frechheit, ein falsches beschwichtigendes Lächeln aufzusetzen.
Pilwoo musterte ihn nur streng und ging ihm dann voraus in den Flur. Natürlich war er nicht hier, um mit ihm noch etwas essen zu gehen oder sonstigen Vater-Sohn-Aktivitäten nachzugehen. Auch wenn ein kleiner Teil von Yoongi es sich vielleicht sogar gewünscht hätte. (Wohlbemerkt der Teil, der nicht gerade erst eine Line Pep gezogen und damit jegliches Hungergefühl für die nächsten paar Stunden vernichtet hatte.) Sein Vater arbeitete meistens an den Wochenenden und so würde er auch heute zur Spätschicht in die Klinik müssen.
Yoongi nutzte den Moment alleine im Bad und warf schnell (und möglichst geräuschlos) den Behälter in den Müll, ehe er seinem Vater folgte. Auf dem Flur sah er Namjoon im Eingang zum Wohnbereich stehen. Er hatte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt und beobachtete sie beide still. Der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände. Würde Pilwoo sich die Zeit nehmen und ihn lesen, wüsste er sofort, von welch einem Schauspiel er gerade Teil geworden war.
»Danke, Namjoon-ssi«, sagte er stattdessen und blieb blind für all das, was Yoongis bester Freund ihm wahrscheinlich gerne ohne Worte gesagt hätte. »Du bist ein guter Einfluss, das wusste ich schon immer.«
Namjoons Mundwinkel verzogen sich zu einem wehleidigen Lächeln. »Das...ehm...das mit dem Rauchen bekommen wir auch noch in den Griff.«
Er hatte noch nie gepetzt. Wahrscheinlich war er anatomisch und geistig nicht einmal fähig zu so einer Tat.
Pilwoo wandte sich erneut seinem Sohn zu. »Dein Bruder würde sich freuen, dich mal wieder zu sehen.«
»Ja... Ich komm demnächst mal vorbei...versprochen.«
Yoongi presste beim Gedanken an Geumjae die Lippen aufeinander. Das Gesicht seines kleinen Bruders erschien vor seinem inneren Auge, im Mittelklasse-Wagen seines Vaters, auf der Autobahn aus Busan hinaus. Baba O'Riley, jener alte Rock-Klassiker von The Who, hatte aus dem Autoradio gedröhnt und Geumjae hatte lautstark jedes »teenage wasteland« mitgesungen, das der Song hergegeben hatte. Yoongi hatte mit ihm gelacht. Auf eine ehrliche Weise, wie sie ohnehin fast nur seinem Bruder vergönnt war. Aber er hatte seine Hand durch Geumjaes Haare wandern lassen und dennoch an seinem Entschluss festgehalten. Es war eben zu einfach, innerhalb eines Tunnels zu vergessen, nach rechts und links zu sehen. Auszublenden, dass sein kleiner Bruder ihm vertraute und Yoongi auf dem besten Weg war, ihn erneut zu verletzen. Es nun längst getan hatte und es auch weiterhin tun würde.
Er hing noch immer mit den Gedanken bei Geumjae, als sein Vater sich längst verabschiedet hatte und aus der Wohnung verschwunden war. So sehr, dass Yoongi sogar vergaß, dass er nun eigentlich Grund zum Durchatmen hatte. Es war ihm gelungen, seinen Rückfall zu verstecken. Zumindest vorerst.
Als sein Blick erneut Namjoons begegnete, besann sich Yoongi zurück ins Hier und Jetzt. Was blieb ihm auch anderes übrig bei der vorwurfsvollen Miene, die ihm da entgegenstarrte? Aus dem Gesicht eines Teddybären, das auf eine stumme Art und Weise ihm etwas entgegenschrie wie: »Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden.«
Vielleicht wäre es ein guter Moment für Yoongi gewesen, um »Danke« zu sagen. Doch noch ehe er überhaupt darüber nachdenken konnte, das unangenehme Schweigen zu brechen, ertönte das leise Quietschen von ungeölten Türscharnieren.
»Ey...ist dein Alter endlich weg?«
Yoongi schaute träge zu Jin, der sich während der ganzen Aktion natürlich in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte. Man konnte es ihm nicht übelnehmen. Er brummte als Antwort, woraufhin Jin erleichtert wie eine Dampfwalze aus seinem Zimmer preschte – fast so, als wäre er stundenlang gezwungen gewesen, sich darin zu verstecken.
»Oh, Himmel sei Dank. Ein Vorstandsmitglied der Uni darf mich nicht SO zu Gesicht bekommen. Nachher denkt dein Vater noch, ich wäre genauso verkorkst wie du.«
Yoongi zuckte unter seiner Hand weg, als Jin versuchte, ihm damit lachend die Haare zu zerstrubbeln. Er nahm ihm seinen Kommentar nicht übel (nicht so wie Namjoon jedenfalls, der ein empörtes Schnauben von sich gab), aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie plötzlich zu so etwas wie Körperkontakt übergehen mussten.
Jin ignorierte die Reaktion beflissen. »Da war doch vorhin noch was von dem Joint übrig, oder?«
»Und was wäre, wenn?«
»Yoongi-yah!« Namjoon schüttelte fassungslos den Kopf und trat in den Flur. »Dein Vater ist kaum zur Tür raus und du –«
»Und ich was?«
Yoongi hasste diesen Moment. Er hasste es, wie er wurde, wenn er bekommen hatte, was er wollte. Und er hasste, dass ihm bewusst war, dass sein bester Freund es mit sich machen ließ.
»Wie du selbst gesagt hast... Es ist nur ein bisschen Gras«, schob er hinterher und bewegte sich in Richtung des Wohnbereichs.
»Ja, nur ein bisschen Gras«, bekam er ungebeten Unterstützung von Jin, der wie immer kein Quäntchen Gespür für den eigentlichen Ernst der Situation aufwies.
Namjoon presste die Lippen aufeinander und warf ihnen einen enttäuschten Blick zu, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und in sein eigenes Zimmer ging. Alles, was er Yoongi zurückließ, war ein großer Haufen Schuld auf dem Boden. Yoongi betrachtete ihn nur kurz, ehe auch er sich abwandte und Jin auf den Balkon folgte.
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𝟷𝟷. 𝙼𝚊𝚒 𝟸𝟶𝟶𝟸 | 𝙷𝚒𝚖𝚖𝚎𝚕𝚜𝚠𝚊𝚕𝚍-𝙺𝚒𝚗𝚍𝚎𝚛𝚐𝚊𝚛𝚝𝚎𝚗 | 𝙳𝚊𝚕𝚜𝚎𝚘𝚗𝚐-𝚐𝚞𝚗, 𝙳𝚊𝚎𝚐𝚞
Der kleine Junge mit den rabenschwarzen Haaren weinte bitterlich, als er, so schnell ihn seine kurzen Beine in den Gummistiefeln tragen konnten, über den Rasen rannte – die Handflächen zu einer kleinen Kuhle geformt und vorsichtig übereinander gelegt.
»Eomma, Eomma!!«, rief er herzzerreißend. »Himchan hat ihn totgemacht! Er hat ihn totgemacht!!«
Die Frau im Mantel, auf die er zusteuerte, ging sofort in die Hocke, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Der Fünfjährige schnappte nach Luft, als er im Schutz ihrer ausgestreckten Arme zum Stehen kam. Tränen flossen ihm weiterhin in Sturzbächen über die Wangen. Zwischen den Bäumen um sie herum hörte man die anderen Kinder beim Spielen lachen und kreischen.
»Bärchen, was ist denn passiert?«, fragte Kim Junghwa sanft und strich ihm mit einer Hand über die etwas zu groß geratene Strick-Bommelmütze. Das Licht, das sich gebrochen durch die Blätterkronen über ihnen kämpfte, tanzte auf ihren glänzenden Locken. Ihre liebevollen Augen ließen keine einzige Sekunde von ihrem Sohn ab.
»Er h-hat ihn t-totgemacht. Da-dabei wollt...dabei wollt i-ich doch nur...«
Ihre schlanken Finger griffen nach seinen so viel kleineren und öffneten die Kuhle, die sie geformt hatten. Ein kleiner grüner Grashüpfer lag darin. Einer, der seinen letzten Sprung tragischerweise bereits getan hatte.
»Yoongi-yah, komm her.« Junghwa zog ihren Sohn, den beim Anblick des toten Insekts ein erneuter Heulkrampf gepackt hatte, in eine Umarmung und drücke seinen Kopf an ihre Schulter. »Wo ist denn das Terrarium, das du heute mitgenommen hast?«
»Die...d-die...«, schniefte Yoongi und bekam die Worte fast nicht hervor. »...Die h-haben es mir we-weggenommen...u-und...und J-Jihun hat es m-mit nach H-Hause ge-ge...«
Er brach wieder ab und erstickte sein Schluchzen im weichen Stoff des bereits nassgeweinten Mantels seiner Mutter. Junghwa griff mit den Händen an seine Hüfte und hob ihn hoch, ehe sie mit ihm auf den Armen dem Gelände des Kindergartens den Rücken zukehrte.
»I-ich wollt ihn doch nur fangen u-und in sein neues W-Wohnzimmer setzen... D-dann ist H-Himchan gekommen und h-hat auf ihn...hat auf ihn...«
»Bärchen, das war sehr gemein von Himchan und ich verstehe, dass du deswegen traurig bist. Hast denn schon mit deinen Erziehern gesprochen?«
»N-nein...d-die sagen i-immer nur, ich w-würde...i-ich würde mich ä-ärgen lassen...«
»Und Himchan selbst? Hast du dich gewehrt, als er gemein zu dir war?«
Yoongi zögerte, dann schüttelte er beschämt den Kopf. Junghwa strich ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die ihm dabei über die Stirn gefallen waren.
»Ich versprech dir, ich werde gleich morgen früh mal mit Jung Chaewon-nim sprechen. Aber hey... Es sind auch nur noch ein paar Tage, dann kommst du in die Regenbogengruppe, ja? Da wirst du ganz sicher neue Freunde finden.«
»A-aber...aber Himchan und Jihun h-haben allen erzählt... Sie haben allen erzählt, d-dass...«
»Was haben sie allen erzählt?«, hakte Junghwa geduldig nach.
»D-dass...dass niemand m-mit mir spielen darf, weil ich...w-weil ich komisch bin...«
»Wieso behaupten sie denn sowas?«
»I-ich weiß nicht...s-sie sagen es einfach u-und nehmen m-mir meine Sachen weg...«
»Du bist nicht komisch, das versprech ich dir.«
»A-aber –«
»Bärchen, du bist nicht komisch, du bist wenn dann jemand Besonderes. Besonders, weil du dem Grashüpfer ein Wohnzimmer gebaut und ihn nicht geschlagen hast. Und ganz besonders, weil du nicht zu anderen Kindern gehst und ihnen sagst, mit wem sie nicht spielen dürfen. Du bist ein guter Junge, Yoongi-yah...du hast nichts falsch gemacht.«
»A-aber warum...warum sagen sie dann –«
»Sie sagen solche Sachen, weil sie es nicht besser wissen. Aber Bärchen, ich verspreche dir, dass nicht alle so sind. Da draußen gibt es so viele Kinder, die es ganz sicher gar nicht erwarten können, sich mit dir anzufreunden. Du kommst jetzt in eine Gruppe mit Namjoon, von dem hast du mir doch schon mal erzählt, weißt du noch? Ihr habt zusammen bei der Bach-Wanderung nach Krebsen gesucht.«
Yoongi schniefte und schien einige Sekunden nachzudenken. Dann nickte er zögerlich. Inzwischen waren sie am Auto angekommen. Doch anstatt, dass Junghwa ihren Sohn wie üblich in den Kindersitz auf der Rückbank setzte – gleich neben den kleinen Geumjae, der dort in seiner Babyschale friedlich döste – ging sie mit ihm zum Kofferraum.
»Schau mal, Bärchen«, fragte sie ihn, kaum hatte sie die Klappe mit ihrer freien Hand geöffnet. »Weißt du, was das ist?«
Yoongis dunkle Augen schauten aufmerksam wie die einer Katze ins Innere des Autos. Sie blieben fast sofort an dem Gegenstand haften, der dort abgesichert in einem Korb stand.
»Eine Pflanze«, sagte er zögerlich.
Junghwa lächelte. »Das ist eine Calathea. Was hältst du davon, wenn wir deinen kleinen Freund in ihrem Topf beerdigen, hm? Hast du ihm denn einen Namen gegeben?«
Der Fünfjährige schniefte erneut und schüttelte den Kopf.
»Willst du ihm denn noch einen Namen geben?«
»Aber...aber er ist doch schon tot.«
»Das macht nichts, Bärchen. Niemand stirbt wirklich, solange sich jemand an ihn erinnert. Aber wir können ihn auch einfach als Grashüpfer verbuddeln. Das schreiben wir dann auf einen Stein, legen ihn in den Topf und jeder, der ihn sieht, wird wissen, dass Grashüpfer existiert hat. Was meinst du, sollen wir das so machen?«
Yoongi dachte wieder kurz nach und ließ seinen Blick dabei zu dem kleinen grünen Insekt schweifen, dass er nach wie vor in seiner Handkuhle mit sich trug. Dann nickte er zaghaft.
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Yoongi fühlte sich, als würde der Stuhl ihn in seine Billigpolster einsaugen. Immer tiefer sank er hinab in die einst quietschgelben Muster, die inzwischen einen gräulichen Ton angenommen hatten.
Der Joint zwischen seinen Fingern war nicht der, den er mit Jin gemeinsam am Tag zuvor geraucht hatte. Dazwischen hatte es noch mindestens drei andere gegeben. Diesen hier hatte Yoongi irgendwann um zwei Uhr nachts gedreht, in der Erwartung, durch ihn endlich etwas Schlaf finden zu können. Es war ihm mehr oder weniger gelungen. Um sechs Uhr hatte er allerdings endgültig aufgegeben und sich wieder nach draußen gesetzt. Mit einem Kaffee und in der Hoffnung, dass der heutige Tag an der Uni schnell vorbeigehen würde.
Es war nicht unüblich, dass Yoongis Kopf an Montagen mit Watte gefüllt war. Gäbe es keine Anwesenheitspflicht an der SNU, dann hätte er wohl schon an einigen von ihnen blau gemacht. Zugegeben, es war gerade auch nicht wirklich förderlich, sich einen Joint vor der ersten Vorlesung reinzupfeifen. Aber er hatte eben gerade Bock drauf. Und wenn es ihm in der Uni zu viel werden würde, hatte er ja immer noch etwas Speed zum Kontern.
»Was machst du denn schon so früh hier draußen?«, schreckte ihn Jin aus seiner Trance, der gerade mit zusammengekniffenen Augen an der Balkontür erschienen war.
»Natur genießen.«
»Das rieche ich.«
Yoongi hielt ihm den Joint hin, doch Jin schüttelte nur entgeistert den Kopf. »Ich muss fahren, du Vollpfosten...schon vergessen?«
Ja, natürlich hatte er schon wieder vergessen, dass Jin seit den Semesterferien ein eigenes Auto besaß und die anderen beiden – wenn es mit den Kursen hinhaute – mit zur Uni nahm. Aber wen wunderte das? Yoongis und Jins Unterhaltungen kreuzten sich meistens mit den Malen, die sie zusammen Drogen nahmen. Diese beschränkten sich bei seinem Mitbewohner zwar auf das, was moralisch vertretbar war, doch das änderte nichts am Prinzip. Dazu kam ja, dass Jin sich lediglich am Wochenende mal etwas genehmigte – die restlichen Tage der Woche unternahm er meistens etwas mit seinen anderen Freunden oder tat – man glaubte es kaum – tatsächlich etwas für sein Wirtschaftsstudium.
»Kannst du mich mitnehmen?«, fragte Yoongi, bevor er sich erinnern konnte, dass sie das ohnehin schon gestern festgelegt hatten.
Jin schnaubte. »Als ob ich dich so bekifft mit dem Skateboard fahren lasse... Sag mal, hast du keine Angst, dass das irgendwem auffällt?«
Die Frage war nicht vorwurfsvoll gestellt. Sie rührte eher von ehrlichem Interesse.
Yoongis Mundwinkel zuckten. »Ich bin unsichtbar...schon vergessen?«
Jin grinste angesichts seines begrenzt witzigen Versuchs, ihn sprachlich zu imitieren. »Wird mal Zeit, dass du dich um etwas mehr Freunde bemühst, findest du nicht?«
»Ich sehe keinen Bedarf.«
»Red' keinen Dünnpfiff. Und jetzt hopp, steh auf und mach dich fertig. Bevor du nicht geduscht hast, nehme ich dich ganz sicher nicht mit.«
Es kostete Yoongi trotzdem noch einmal ganze fünf Minuten, um sich endlich vom Balkon aufraffen zu können. Unter der Dusche war er dann allerdings relativ schnell. Nichts brachte ihn unter Drogen schneller dazu, das Weite zu suchen, als ein Namjoon auf dem Vormarsch. Der war neben den Professoren echt der Letzte, der heute mitbekommen musste, dass Yoongi es nicht einmal mehr nüchtern in die Uni schaffte.
Letzte Woche hatte es sogar noch irgendwie funktioniert. Zumindest am Montagmorgen...und auch nur solange er noch zuhause gewesen war. Yoongi hatte nur einen Kurs durchgehalten, bis er sich auf der Toilette was von dem Zeug gegeben hatte, das er noch vorrätig gehabt hatte. Mit der Ausrede: »Ist halt Montag, was soll's?« Dienstag hatte er sich zusammenreißen können. Mittwoch war er dann sogar zweimal auf dem Klo gelandet. Von da an hatte er nicht mehr wirklich aufgepasst. Seine Gedanken hatten sich ohnehin nur noch darum gedreht, wie lange ihm sein Stoff noch reichen würde und ab wann er mit seinem übrigen Budget wieder bei Taehyung kaufen konnte, ohne am Ende des Monats die Miete zu riskieren. Vor allem angesichts der Tatsache, dass sein Vater den Geld-Zuschuss nun radikal vermindert hatte.
Auch an diesem Tag ging Yoongi Ähnliches durch den Kopf, als er sich eine halbe Stunde später zusammen mit Namjoon in Jins babyblauen Nissan setzte. Wenn er diese Woche zum ersten Mal wieder seit langem bei Tae und dessen kleinen Bruder aufkreuzte, brauchte er definitiv wieder Speed. Außerdem seine üblichen Pillen und das Gras, das er ohnehin schon vorbestellt hatte. Als er damit begann, Rechnungen in seinem Kopf aufzustellen, geriet er allerdings an seine Grenzen. Der Joint hatte ihn an diesem Morgen ganz sicher nicht zu Höchstleistungen auflaufen lassen. Dementsprechend begnügte sich Yoongi damit, seine Kapuze über den Kopf zu ziehen und lustlos aus dem Fenster zu starren. Das Trinkgeld, das er dieses Wochenende bekommen hatte, würde schon reichen. Erst, als ein paar Gesprächsfetzen zwischen Namjoon und Jin an seine Ohren drangen, wanderte seine Aufmerksamkeit in kleinen Schritten wieder zurück ins Innere des Autos.
»...und Freitag ist dieses Uni-Festival. Dort wird dann vorgeglüht und danach geht's zu Jongin nach Hause. Ich schwöre dir, das wird die beste Semesterbeginn-Feier, die es je gegeben hat.«
Namjoon rümpfte die Nase. »Wenn Jongin sie organisiert, dann wird sie ganz sicher überragend.«
»Du solltest deine vortrefflichen Kontakte vielleicht auch mal nutzen und dich am Wohlstand der reichen Kids laben, mein Freund. Du und Yoongi seid hiermit eingeladen. Und wehe, du sagst schon wieder ab!«
»Yoongi hat, glaube ich, Besseres zu tun, als sich so kurz nach Busan in das nächstbeste Saufgelage zu stürzen! Schlimm genug, dass du ihn trotz Entzug zum Kiffen animierst!«
»Hey, das ist gar nicht wahr! Er hatte sich schon wieder was geholt, bevor ich überhaupt auf die Idee kam. Und so gesehen vermindere ich ja auch nur die Menge, die er eigentlich –«
»Ist doch scheißegal! Jedenfalls wird er ganz sicher nicht –«
»Wer kommt denn alles auf die Party?«, unterbrach Yoongi seinen besten Freund kalt und fixierte dabei einzig und alleine Jin am Steuer. Dieser begann sofort triumphierend zu grinsen.
»Alle, die man kennt, natürlich. Viele vom Department of Music aber auch einige vom –«
»Auch dieser...du weißt schon...der Neue?«
Yoongi wusste, dass es die plumpste Art überhaupt war, danach zu fragen, doch sein auf Notstrom arbeitendes Gehirn hatte sich mit der Blamage relativ schnell abgefunden. Er ignorierte Namjoons Kopfdrehen und dessen hochgezogene Augenbrauen geflissentlich.
»Du meinst Jimin?«, fragte Jin irritiert. »Hattest du seinen Namen schon wieder vergessen? Wir hatten doch erst gestern über ihn gesprochen.«
»Jimin?«, hakte Namjoon nach, ohne Yoongi dabei aus den Augen zu lassen. »Wer zur Hölle ist Jimin?«
»Echt jetzt?« Jin lachte laut auf und nahm dabei eine Kurve einen Hauch zu scharf. »Wie hat man den denn bitte übersehen können mit den Haaren?«
»Ich habe keine Ahnung, wer das sein soll. Aber wenn er in deinen Kreisen verkehrt, dann weiß ich auch nicht, ob ich ihn kennen will.«
»Das ist der Vollpfosten, der mein Handy geschrottet hat«, sagte Yoongi seelenruhig und zeigte demonstrativ seinen gesprungenen Bildschirm. »Will nur wissen, ob ich meine restlichen Wertsachen bis Freitag sichern muss, falls er denn auch da sein wird.«
»Yoongi-yah! Du willst doch nicht ernsthaft –«
Namjoon unterbrach sich selbst, als er dem Blick seines besten Freundes begegnete. Die Empörung wich Bitterkeit.
»Keine Sorge«, verdrehte Yoongi genervt die Augen. »Ich hab nicht vor, mich abzuschießen. Nur mal wieder ein bisschen...rauskommen eben.«
»Wenn dein Vater das erfährt, wird er mich eigenhändig köpfen.«
»Er wird es aber nicht erfahren«, schaltete sich Jin wieder ein. »Und wenn du so einen Bammel hast, dann kommt doch einfach als Anstands-Wauwau mit. Dir würde ein bisschen Gesellschaft auch nicht schaden. Echte, menschliche Gesellschaft und nicht nur die Pflanzen in euren Bio-Hanf-Gärten, mit denen du immer redest.«
»Es gibt weitaus mehr Pflanzen als Cannabis, die zu medizinischen Zwecken gebraucht werden...was du sicher wüsstest, wenn du die Wirkung mancher Dinge nicht immer nur durchs Anzünden rauszufinden versuchen würdest.«
Yoongis Mundwinkel zuckten angesichts des Streits, der nun zwischen seinen beiden Mitbewohnern entfachte. Jin liebte es, Namjoon mit dessen Biologie-Studium aufzuziehen und dieser ließ sich nur allzu gerne von ihm ärgern. So oder so ließen beide keine Gelegenheit aus, sich gegenseitig zu diffamieren, nur um dann abends doch wieder als Team in Mario Kart gegen die NPCs anzutreten.
Die Diskussion der beiden wurde erst auf dem Parkplatz vor der Sozialwissenschaftsfakultät unterbrochen, wo Jin mit einem letzten Mittelfinger an Namjoon von dannen zog. Yoongis bester Freund gab ein Schnauben von sich, während er ihm nachstarrte. Dann jedoch richtete sich sein wachsamer Blick wieder auf Yoongi, als wäre zwischen ihrem kurzweiligen Gespräch im Auto keine Minute vergangen.
»Jetzt aber nochmal im Ernst... Wer ist Jimin?«
Hinter der Frage steckte mehr, als es zunächst den Anschein haben mochte, und genau das ließ ein ungutes Gefühl in Yoongi aufsteigen.
»Wie ich bereits sagte...ein Vollidiot.«
»Wenn er das wäre, würdest du nicht nach ihm fragen. Vollidioten sind dir meistens egal.«
»Nicht, wenn sie mir Geld schulden.«
Namjoons Mimik gab ihm mehr als deutlich zu verstehen, dass er ihm nicht glaubte. Er war ein hervorragender Beobachter. Und genau deswegen fasste Yoongi rapide einen Entschluss, der einzig und alleine seinem Selbstschutz diente. Das redete er sich zumindest ein.
»Ich muss los«, schob er deshalb schnell hinterher und legte einen Zahn zu. »Hab noch was anderes zu erledigen.«
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Wichtige Erledigungen waren bei Yoongi oft relativ. In den meisten Fällen führte ihn diese Ausrede auf dem Gelände der Seoul National University nur zu einem ganz bestimmten Ort: dem Probesaal.
Es gab keinen Raum, der eine angenehmere Akustik besaß und der den Musik-Studenten zudem quasi rund um die Uhr freien Zugang bot. Yoongi kam oft hierher. Im Department of Music mit dem Mayor Piano war er ohnehin darauf angewiesen, immer ein Klavier parat zu haben, aber ein eigenes würde er sich so schnell niemals leisten können. Das alte gebrauchte Keyboard, das er zuhause stehen hatte, erfüllte nur bedingt seinen Zweck. Am liebsten kam er einfach hierher und nutzte jede Gelegenheit, in der nicht andere Studenten den Raum für ähnliche Zwecke frequentierten.
Das Klavierspielen war etwas, das Yoongi immer einen gewissen Komfort gebracht hatte. Seine ersten Akkorde hatte ihm seine Mutter schon gezeigt, als er noch ganz klein gewesen war und seine Füße noch nicht einmal die Pedale erreicht hatten. Das Klavier, an dem sie gespielt hatten, war das bei seiner Oma gewesen. Damals, in Daegu...
Beim Gedanken daran konnte Yoongi nur einmal mehr dankbar dafür sein, dass er tatsächlich ein gewisses Talent und diesen Studienplatz besaß. So sehr ihm das stupide Lernen, die Klausuren und all jene Verpflichtungen auch Angstzustände und Druck bescherten, so konnte er sich doch am Ende immer in die Musik flüchten – sie war sein Puffer, um das alles hier heil zu überstehen. Seine Zuflucht, in jeder Hinsicht. Sogar noch eine bessere als das VIBE.
Das bedeutete jedoch nicht, dass überall auf dem Gelände Gefahren auf ihn lauerten.
Professor Kim Sungho-nim trat gerade aus seinem Büro, als Yoongi kurz davor war, dieses zu passieren. Als er seinen Studenten entdeckte, nahm die ohnehin in sein Gesicht gemeißelte Strenge graduell zu. Yoongis Herz setzte einen Schlag aus. Es war das erste Mal, dass er an diesem Tag bereute, high in die Schule gekommen zu sein.
»Min Yoongi-ssi. Gut, dass ich Sie endlich antreffe«, kam sein Professor sofort zur Sache und versperrte Yoongi dabei rigoros den Weg. »Sie sind meiner Aufforderung, sich direkt nach den Semesterferien persönlich bei mir zu melden, nicht nachgekommen.«
Yoongi wich seinem Blick aus. »Ich...ich hatte viel zu tun...«
»Drei Wochen lang? Mit Verlaub, ich habe Ihre Anwesenheiten kontrolliert. Sie hätten genug Möglichkeiten gehabt, nach den Kursen zu mir zu kommen.«
Der stählerne Ausdruck von Kim Sungho-nim zwang Yoongi förmlich in die Knie. Nicht umsonst hatte er sich ganz besonders in seinen Kursen in den Schatten der hintersten Reihen versteckt und sich beim Verlassen der Säle immer geschickt unter seine Kommilitonen gemischt. Schon zu Beginn seines Studiums hatte der Professor Yoongi auf dem Kieker gehabt und ihn immer mit Adler-Augen beobachtet. Manche Menschen sind eben fähig, den Ärger über Meilen und Monate, nein, Jahre im Voraus zu riechen. Es war bereits dreimal vorgekommen, dass Kim Sungho-nim Yoongi fast mit Drogen erwischt hätte. Jedes Mal hatte der Student es nur einem enorm gutwilligen (und inzwischen bestimmt hochgradig abgefuckten) Schutzengel zu verdanken gehabt, dass er davongekommen war. Das änderte jedoch nichts daran, dass sein Professor ihn weiterhin bei jeder Gelegenheit mit Röntgen-Blicken durchbohrte und in den Vorlesungen bloßstellte, wann immer sich eine Gelegenheit bot.
»Es...es tut mir wirklich sehr leid«, brachte Yoongi hervor und rang sich zu einer tiefen Verbeugung durch, bei der ihm ungeschickterweise der lose getragene Rucksack von der Schulter rutschte.
Kim Sungho-nim sah keineswegs besänftigt aus, vielmehr verengten sich seine Augen nur noch mehr. »Sie sind hier nicht im Feriencamp, Bursche. Dieser Studiengang steht nur den Besten der Besten offen und dass Sie hier sein dürfen, ist verdammtes Glück. Vitamin B ist keine Freikarte, sich den Anweisungen zu widersetzen, haben Sie verstanden?«
Yoongi wollte kotzen. Stattdessen nickte er nur steif, den Blick fest auf den Boden gerichtet.
»Um gleich auf den Punkt zu kommen, weshalb ich Sie sprechen wollte... Das Gwanaksa Hanul Festival diesen Freitag hat noch nicht genügend Helfer und die Sprecher des Wohnheims haben mich darum gebeten, nach Freiwilligen zu suchen. Angesichts Ihrer fehlenden Bereitschaft, sich an einfache Regeln zu halten, werde ich davon absehen, Sie zu fragen. Sie tragen sich auf meine Empfehlung besser schnell ein und sind am Freitag pünktlich zum Dienst um 17 Uhr beim entsprechenden Helferzelt.«
Yoongis Mund stand schon offen zum Protest, doch er schaffte es gerade noch so, die gefährlichen Worte zurückzuhalten. Damit war sein Plan, mit zu Jongins Party zu kommen, offiziell gestorben. Rest in Peace Wochenendpläne. Die halbe Stunde war schön mit euch.
Kim Sungho-nim musterte Yoongi ein letztes Mal scharf, ehe er ohne eine Verabschiedung mit seiner Aktentasche an ihm vorbei marschierte. Dass er offensichtlich nicht erschnüffelt hatte, dass Yoongi immer noch breit wie die Hannam-Brücke war, war dabei nur ein kleiner Trost.
Yoongi warf den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Eigentlich war er die Konfrontation damit, dass er auf der SNU eigentlich nichts verloren hatte, schon gewohnt... Das änderte jedoch nichts daran, dass eine Erinnerung daran seinen Tag gut und gerne von Grund auf mit Frustration und Selbstmitleid füllen konnte. Aber wem machte er etwas vor? Er konnte sich in der Menge verstecken und nicht auffallen, aber dazugehören würde er deshalb niemals. Sein Vater und sein Einfluss im Universitätsrat waren der Grund, dass er Pianist werden durfte. Oder dass man ihm zumindest die Möglichkeit gab, es zu versuchen.
Apropos Versuchen. Yoongis Drang, dem Proberaum einen Besuch abzustatten, war nun größer denn je. Er musste sich abreagieren.
Das Gwanaksa Hanul Festival war eine alljährliche Herbst-Veranstaltung von und für alle Studierenden der SNU. Leute aus allen möglichen Kulturen eröffneten Food-Stände mit Gerichten aus ihren Heimatländern, Clubs organisierten Auftritte und Workshops und parallel dazu fanden einige Sport-Turniere statt. Letztes Jahr hatte Yoongi ziemlichen Spaß gehabt, sich dort mit Jin ein paar Pilze zu geben und sich über jeglichen Scheiß totzulachen. Dieses Jahr würde er das Spektakel auf eine unterschwellige Drohung seines Professors (welcher nunmal leider die Schlüssel zu seiner Zukunft in der Hand hielt) also von hinter irgendeiner Theke verfolgen müssen. Wirklich verlockend.
Yoongi ließ sich auf der restlichen Strecke zum Proberaum von den zermürbenden Gedanken einnehmen. Sie fraßen sich durch seinen Körper und mündeten in seinen Fingern, bereit, sich über die Tasten eines Pianos zu entladen. Die bessere Alternative zu jeglichem Scheiß, den er sich in einem der nahegelegenen Toilettenräume reinpfeifen könnte.
Aber was haben wir zu Beginn dieser Geschichte über das Schicksal gelernt? Richtig, es schlägt in den unpassendsten Momenten zu. Genau dann, wenn man eigentlich schon bestens bedient ist.
Als Yoongi die Klinke zum Raum am Ende des Flurs herunterdrückte und ihm prompt eine wohlbekannte Stimme an die Ohren wehte, fuhr es ihm durch Mark und Bein. Das Ganze wurde untermalt von einer furchtbar unpassenden Aneinanderreihung von Klaviertönen. Einer »Melodie«, die diesen Montag allerdings bestens zusammenfasste.
Er hatte es also geschafft. Park Jimin hatte nun offiziell alle von Yoongis Bunkern ausfindig und nutzlos gemacht. Dort saß er, auf Yoongis letztem Thron, wie ein Besatzer, der sich herrlich darüber amüsierte, wie einfach diese Invasion doch für ihn gewesen war. Umgeben von ein paar seiner Gefolgsleute, darunter auch Yeji, die halb über dem Flügel lehnte und Jimin mit einem verzückten Lächeln beim Spielen beobachtete.
Yoongi stand da wie versteinert. Er wollte gehen, wegrennen, aber seine Beine verweigerten ihm den Dienst. Er war gezwungen, weiter im Türrahmen zu stehen und die einem Unfall gleichende Szenerie vor sich zu beobachten. Das Lachen der Gruppe klang wie Alarmglocken in seinen Ohren – Jimins Klavierspiel wie das Weinen eines Kleinkinds. Sie waren ganz offensichtlich nur hierhergekommen, um an den Instrumenten herumzualbern. Was auch sonst? Soweit Yoongi wusste studierten sie alle Vocal-Music. Als wollte Jimin diese Tatsache in diesem Moment auch noch unterstreichen, begann er auf einmal zu singen. Es war fast so, als hätte er damit die Welt für einige Sekunden auf Pause gesetzt.
Yoongi hatte sich nie groß darüber Gedanken gemacht, ob es Sirenen gab und wie sie wohl klingen würden... Das hier gab ihm allerdings nun Anlass dazu. Jimins Gesang war etwas, was ganz sicher nicht Teil der irdischen Welt sein konnte. Nichts, was die Menschheit überhaupt zu hören verdient hätte. Nichts, was wirklich gesund für den eigenen Verstand war, wenn man ihn denn noch eine Weile behalten wollte...
Eigentlich wollte Yoongi seine Stimme nicht mögen. Aber sie drang ihm in Mark und Bein, ließ den Blutstrom in seinen Adern vibrieren und sein Herz unregelmäßig schlagen. Vielleicht wäre es ihm in einem anderen Leben möglich gewesen, sie als zu hoch und mädchenhaft abzutun. Obwohl...wahrscheinlich nicht einmal dann.
Das vermeintliche Konzert nahm ein jähes Ende, als die ersten Gestalten auf Yoongi aufmerksam wurden. Ihm fiel zu spät auf, dass er sich jetzt vielleicht wirklich aus dem Staub machen sollte...doch da hatte Yeji leider schon den Mund aufgemacht.
»Chim-Chim, ich glaube, da kommt endlich der Cocktail, den du bestellt hast.«
Jimin drehte verwirrt den Kopf, doch er kapierte schnell, als er Yoongi an der Tür stehen sah. Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit und wie automatisiert fuhr eine seiner ringbesetzten Hände durch seine orangene Mähne. »Oh verdammt, das wurde aber auch langsam Zeit!«
Yoongi spürte, wie ihm Magensäure den Hals emporkroch. Die Blicke, die auf ihm lagen, waren wie Fesseln. Er fühlte sich noch unfähiger zur Flucht als vor dem Zeitpunkt, seitdem ihn die Gruppe bemerkt hatte.
»Hey, was ist los?«, hakte einer der Typen hinter Yeji – Yoongi glaubte, sein Name war Han – lachend nach. »Bist du schüchtern oder was?«
„Schüchtern?", entfuhr es einem anderen. »Das ist der Mitbewohner von Jinnie-hyung. Hat Yeji nicht erzähl, dass –«
»Schhht!«, unterbrach ihn Yeji gehetzt, ehe ihre stechenden Augen zu Yoongi zurückhuschten. »Ich weiß nicht, ob es wirklich stimmt.«
Yoongi nahm einen tiefen Atemzug, der seinen unter Spannung stehenden Körper zum Erzittern brachte. Unwillkürlich fiel sein Blick zu Jimin, der nur stumm und mit zusammengepressten Lippen auf dem Hocker des Pianos saß.
»Wovon sprecht ihr?«
Es war lächerlich, überhaupt danach zu fragen. Natürlich ging es um den Entzug. Worum auch sonst? Yeji hatte es schon zur Genüge angedeutet, als sie ihn im VIBE darauf angesprochen hatte. Wenn man dich gesehen hat, war es ja schon irgendwie...offensichtlich, oder? Zumindest nach Namjoons Erzählungen hätte man wirklich nicht verklatschter aussehen können, wie Yoongi es in dieser Nacht getan hatte. Namjoon war davon traumatisiert gewesen. Wer konnte es ihm verübeln, nachdem er seinen besten Freund halb bewusstlos, halb kotzend auf der Toilette des Gastgebers gefunden hatte? Nachdem er es nur mit Ach und Krach geschafft hatte, diesen mit einer waschechten Überdosis in der Notaufnahme in die Hände von Yoongis Vater zu übergeben?
Es hatten eine Menge glücklicher Umstände dazu geführt, dass Yoongi heute hier sein und sein Leben ganz normal weiterführen konnte. Allem voran die Tatsache, dass sein Vater als an diesem Nacht leitender Arzt dafür gesorgt hatte, dass nichts von den Drogen in seine Akten gelangt war. Allerdings sollte sich Yoongi wohl wirklich langsam von dem Gedanken verabschieden, dass er für immer vor seinen Fehlern davonrennen konnte. Sie würden ihn einholen. Sie taten es genau in diesem Moment. Und Karma hatte ihm Park Jimin als Zuschauer dazugesetzt, um es noch einmal so viel peinlicher für ihn zu machen.
»Wovon wir sprechen? Ernsthaft?«, lachte Han ehrlich amüsiert. »Ach komm schon... Du hast ja nicht gerade ein Geheimnis daraus gemacht auf dieser Party. Du und dieser...wie heißt der kleine Dealer nochmal?«
Geh einfach, riet Yoongi die Stimme in seinem Kopf. Hau einfach ab und lass sie reden. Jin soll sich darum kümmern.
»Nennen die in der Szene ihn nicht Ashtray oder so?«, schaltete sich der andere Typ wieder ein. »Ich glaube, sein richtiger Name ist Jeongguk.«
Yoongi schmeckte Blut. Erst jetzt realisierte er, dass er sich kontinuierlich auf die Zunge gebissen hatte.
„Ja, Jeongguk, genau", bestätigte Han und beobachtete dabei genau seine Reaktion. „Klingelt bei dir da wirklich nichts, hm?"
Er sagte es, als wäre alles an dieser Konversation Spaß. Als gäbe es den wahren Ernst dahinter nicht wirklich. Sie ließen es nicht so wirken, als wären sie ein Rudel, das gerade ein Opfer umkreist – Yoongi genoss nach wie vor den Schutz, der ihm durch die Freundschaft zu Jin beschert wurde. Dennoch bot diese ihm keine Garantie...und ganz sicher keinen Freibrief, mit allem davonzukommen.
Yoongi versuchte sich fieberhaft daran zu erinnern, ob er bei Jeongguk an diesem Abend gekauft hatte. Um genau zu sein, war ihm bisher sogar entfallen, dass dieser überhaupt dort gewesen war. Nun überrollte ihn der Gedanke wie eine Lawine. Schürte Panik in Zellen, die er zuvor eigentlich mit dem Joint betäubt hatte.
Jimin, so sah er, beobachtete das Gespräch mehr neugierig als gierig nach Drama. Dennoch lag ein gewisses Amüsement in seinen Augen, das Yoongi tierisch auf den Piss ging. Er würde ihn nach wie vor am liebsten von dem Hocker schubsen, auf dem er eigentlich nichts verloren hatte. Sie alle aus dem Raum jagen, den er jetzt wohl auch nicht mehr seine Zuflucht nennen konnte.
»Ich hab nix von dem gekauft«, entschied Yoongi sich, dem ganzen Spiel endlich ein unbeholfenes Ende zu setzen. »Ich war einfach nur scheiße besoffen, also was ist euer Problem?«
Yeji biss sich auf die Lippen und Hans Augenbrauen wanderten nach oben.
»Dass du besoffen warst, dass haben wir schon geschnallt...aber erinnerst du dich echt nicht mehr daran, dass du mit der kleinen Schwuchtel rumgemacht hast?«
~⋆☽ ❊ ☾⋆~
☽ 𝐚𝐮𝐭𝐡𝐨𝐫'𝐬 𝐧𝐨𝐭𝐞 ☾
Eh yeah, we love a good conversation, right? :')
Sagt mir gerne, wie ihr den Schnipsel aus Yoongis Kindheit fandet – es werden in den kommenden Kapitel immer mal wieder solche Rückblicke gestreut werden, um Yoongis Background etwas mehr zu beleuchten.
An dieser Stelle nochmal vielen Dank an MsxWinter und ihre wundervolle Beratung bezüglich »Kinder-Verhalten« und ab wann ein Kind fähig ist, den Tod als solchen wirklich zu verstehen. Ein sehr interessantes Thema, worüber ich mir davor nie Gedanken gemacht habe o.O Aber für mich sind und bleiben Kinder kleine Aliens, denen ich nicht über den Weg traue.
Eine wichtige Frage hierzu: Empfindet ihr es als anstrengend, kursiven Text in langen Passagen zu lesen? Wenn ja, reicht es euch, dass darüber das Datum steht, um den Wechsel der Zeit wahrzunehmen? Ich bin mir sehr unsicher, ob ich so lasse oder nochmal umformatiere...
Wichtig: Ich musste leider die Trigger-Warnungen nochmal aktualisieren, da ich noch etwas vergessen hatte. Diejenigen unter euch, die darauf angewiesen sind, sollten diese vielleicht im Vorwort nochmal checken!
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