Kapitel 9

Durch das nervende Geräusch des Staubsaugers wurde ich aus meinem wohlverdienten Schlaf gerissen. Meine Mutter musste ja unbedingt an einem Samstagvormittag staubsaugen. Wie ich das hasste...

Verschlafen schaute ich auf die Uhr an meinem Handy und bemerkte, dass es erst zehn Uhr morgens war. Also quasi noch Nacht.
Stöhnend drehte ich mich um, zog die Decke weiter über mich und versuchte wieder einzuschlafen.
Der Staubsauger stieß von außen gegen die Tür.

Ich zuckte zusammen. Jetzt war ich mir sicher, dass ich nicht wieder einschlafen konnte. Ich griff nach meinem Kissen und zog es mir über die Ohren. Das Geräusch des Staubsaugers drang nur noch gedämpft an meine Ohren aber es war immer noch zu laut. Wie ein Schrei im Nichts.

Ich drehte mich auf den Rücken, kniff die Augen zusammen und rieb sie mir mit meinen Handflächen. Das Gefühl immer noch totmüde zu sein aber nicht mehr schlafen zu können übermannte mich.
Langsam und gequält öffnete ich wieder meine Augen und sah einfach nur an die Zimmerdecke.

Der Staubsauger dröhnte immer noch vom Flur aus und kurz schreckte ich zusammen, als meine Mutter ihn wieder gegen eine Tür stieß, sodass ich meinen Kopf zu Seite drehte und nun an die Wand gegenüber blickte.

Dort stand eine kleine Kommode, in der ich irgendwelche Sachen drinnen hatte, von denen ich zum Großteil wahrscheinlich wieder vergessen hatte, dass ich sie überhaupt besaß. Ich starrte sie an, konnte meinen Blick nicht von ihr lösen.
Eigentlich starrte ich nicht die Kommode selbst an, sondern das, was auf ihr drauf war.

Dieser Gegenstand war so wunderschön, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Er war so fein und mit vielen Details. Er war ein Kunstwerk. Es war meine Geige.

Ich starrte den geschlossenen schwarzen Geigenkasten an und bewegte mich nicht.

So lange hatte ich ihn nicht mehr geöffnet, dieses wunderbare Instrument rausgenommen und die Töne erklingen, die Geige erwachen, lassen.

Ich wusste ganz genau, dass es nicht gut für die Geige war, sie ihren schönen Klang verlieren würde und jetzt wahrscheinlich nicht mehr so schön anzuhören war, wie vor vier Jahren noch. Dieser Gedanke brach mir das Herz und ich wollte zu meiner Geige hingehen, sie aus ihrem sicheren Kasten nehmen, den Lack auf dem glatten Holz wieder spüren und die Saiten in meine Fingerkuppen schneiden fühlen. Ich wollte mich entschuldigen, dass ich sie so im Stich gelassen habe, zugelassen habe, dass sie ihren Klang verliert.

Aber irgendetwas hinderte mich daran. Es war wie eine unsichtbare Mauer, eine Absperrung, die verhinderte den Kasten zu öffnen. Ich konnte es einfach nicht.
So sehr ich es auch wollte, ich konnte es nicht.
Die letzten Jahre stand ich oft vor der Kommode, die Hände schon am Reißverschluss des Geigenkastens aber nie hatte ich ihn geöffnet. Meine Finger ruhten einfach nur auf dem schwarzen Stoff und bewegten sich nicht. Bis ich sie wieder weg nahm und mit hängenden Schultern etwas anderes machte.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich aufgestanden war und vor der Kommode stand, meine Hand schon ausgestreckt, den Kasten zu öffnen. Ich hielt in der Bewegung inne und ließ den Arm wieder sinken.

Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder in der Lage sein werde, den  Geigenkasten zu öffnen und das Instrument, das ich so liebte, wieder in der Hand halten werde.

Ich seufzte und drehte mich zur Tür.

Gähnend ging ich aus meinem Zimner und die Treppe runter in die Küche, wo meine Eltern am Küchentisch saßen.

Anscheinend hatte ich so lange vor meinem Geigenkasten gestanden und ihn angestarrt, sodass meine Mutter schon wieder fertig mit dem Staubsaugen war.

"Morgen.", sagte ich kurz und ging zur Kaffeemaschine.

Mein Vater klappte die Zeitung runter und sah mich über den Rand seiner Lesebrille mit einem Lächeln an.

"Guten Morgen Mäuschen."

"Guten Morgen mein Schatz.", begrüßte mich auch meine Mutter.

Als der Kaffee fertig durchgelaufen war, schlurfte ich zum Tisch und ließ mich auf einen Stuhl fallen.

"Kommt heute nicht dein Freund aus der Schule?", fragte meine Mutter. Der hoffnungsvolle Unterton in ihrer Stimme war nur schwer zu überhöhren.

Erst war ich etwas verwirrt, dann viel mir wieder dieses dumme Projekt in Geschichte ein.
Oh mann... Das hatte ich ja komplett vergessen.

Oder verdrängt.

"Er ist kein Freund von mir. Wir müssen nur so einen dummen Vortrag vorbereiten.", stellte ich klar.

"Wie auch immer.", meinte meine Mutter. "Jedenfalls ist es schön, dass du auch mal mit anderen was machst."

"Ich mache oft was mit Anna und Felix!", beschwerte ich mich.

"Aber euch drei kann man manchmal schon als eine Person sehen.", hörte man es hinter der Zeitung brummen.

Ich zuckte nur mit den Schultern und griff nach einer Schrippe und dem Nutellaglas.

"Wie heißt er noch gleich?", fragte meine Mutter weiter, den Kopf auf eine Hand gestützt.

"Chan."

"Und wann kommt er hierher?"
Das Verhör ging weiter. Ich seufzte.

"Um zwei.", antwortete ich. "Na dann ist ja gut, dass du heute mal früher aufgestanden bist! Sonst hättest du ja keine Zeit mehr dich fertig zu machen."

Okay? Was geht denn bei ihr ab? Meine Mutter führte sich ja fast so auf, als würde ich gleich auf ein Date mit meinem Traumtypen gehen und nicht an einem langweiligen Schulprojekt arbeiten. Und dazu würde ich mich nicht hübscher anziehen, als eine Jeans und einen Oversize-Pulli. Höchstens.

"Mama, wir arbeiten an einem Schulprojekt, ich kenne ihn nicht wirklich und hab keine Lust drauf! Warum sollte ich da vier Stunden brauchen, um mich fertig zu machen?"

"Ich mein ja nur, du solltest mal ausgehen. Du bist siebzehn! Sowas machen Leute in deinem Alter."

Als ich in ihre Augen sah, sah ich eine Vielzahl an Gefühlen. Trauer, Sorge, Liebe aber auch Hoffnung. Sie hatte Hoffnung, dass ich mehr mit anderen in meinem Alter unternehmen würde und nicht dieses einsame Mädchen bleiben würde, das ich bin. Sie hatte Hoffnung, dass es mir besser gehen würde, ich vergessen könnte. Obwohl, ich glaube nicht, dass sie sich wünschte, ich würde das alles vergessen können. Eher, dass ich damit zurecht kommen würde.

Und das war fast so schwerer, wie zu vergessen.

Und ich war mir sicher, ich würde ihn nie vergessen.

Niemals.

Er war mein Vorbild, einer meiner besten Freunde, die Person die mich zur Weißglut bringen konnte, wir aber fünf Minuten später wieder zusammen lachten. Er war immer da, wenn es mir schlecht ging, ich einfach jemanden zum Reden brauchte oder schwieg und saß einfach nur bei mir, wenn ich nicht reden wollte aber auch nicht allein sein.

Er verstand mich.

Er war meine Musik.

Aber jetzt ist sie verstummt. Ausgegangen. Von einem Moment auf den anderen war sie nicht mehr zu hören und kam zu einem abrupten Ende. Auch wenn man hörte, wie sie Stück für Stück etwas leiser und langsamer wurde, war es trotzdem so plötzlich. So unwirklich.

Die Musik in mir hatte aufgehört zu spielen und nicht wieder angefangen.

Und vielleicht würde sie es auch nie.

Vielleicht war es nicht nur die Pause in einem Konzert, bei der die Zuschauer den Konzertsaal verließen und sich draußen mit einem Glas Sekt in der Hand nett unterhielten. Mit ihren teuren Kleidern und Schmuck.
Vielleicht würden diese Zuschauer nicht wieder in den Saal zurückkehren und warten bis der nächste Satz anfing. Und sie würden nicht wieder auf ihren Plätzen im Publikum platznehmen und sich weiter unterhalten, bis der Dirigent zurück auf sein Podium stieg. Und das Orchester würde vielleicht nicht wieder anfangen, die Instrumente zu stimmen, bevor sie sich wieder in die Musik vertieften.

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

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