Kapitel 7

Am nächsten Morgen überhörte ich meinen Wecker und musste mich beeilen, um meinen Bus noch zu kriegen.

Total übermüdet ließ ich mich auf den ersten freien Platz fallen und lehnte meinen Kopf ans Fenster.
Ich hätte mir einen Kaffee mitnehmen sollen...

Da Chan heute nicht im Bus war, hoffte ich einfach, er würde krank sein. Unser "Treffen" gestern war mir immer noch total peinlich und ich hoffte, er würde mich nicht darauf ansprechen oder mich deswegen mehr beachten.

An der Schule angekommen war bisher nur Felix dort, der mit einem Kaffee-to-go an der Mauer lehnte.
Gähnend stellte ich mich zu ihm und murmelte ein unverständliches "Morgen".

"Du siehst ziemlich fertig aus.", sagte er darauf.
Wow, so wollte man doch begrüßt werden...

"Hab' nicht viel geschlafen."

Wortlos hielt er mir seinen Kaffebecher hin, den ich dankend annahm. Genüsslich nahm ich einen großen Schluck und reichte ihm den Becher zurück.

Bevor er etwas sagen konnte, wurde er von einer hysterischen, mir allzu bekannten Stimme unterbrochen.

"Heilige Scheiße, Mina! Du siehst aus wie ein Zombie! Was hast du denn gemacht?"

"Lange Geschichte.", murmelte ich. "Ich erzähl es euch später. Nach der Schule im Café?"
Ein Gähnen verließ meinen Mund. Automatisch hob ich eine Hand, um sie davor zu halten.

"Au ja! Da waren wir schon lange nicht mehr.", rief der Flummi neben mir aka meine beste Freundin aka Anna begeistert aus.
Kopfschüttelnd sah Felix zu Anna runter und schmunzelte.

Langsam schlenderten wir ins Schulhaus und gingen zum einzigen Kurs, den wir zusammen hatten: Mathe.
Eigentlich mochte ich Mathe, jedenfalls mehr als andere Fächer, aber heute hatte ich keine Lust darauf.
Sobald wir auf unseren Plätzen saßen, legte ich meinen Kopf auf meine Arme auf den Tisch und schloss die Augen.

Alle Geräusche, die Stimmen meiner Mitschüler, Annas gerede, die Schritte der Schüler auf dem Gang, nahm ich nurnoch gedämpft wahr.
Ich war in einem Bewusstseinszustand, in dem ich an nichts dachte. An gar nichts.
Das konnte ziemlich erholsam sein.

Kurz bevor ich ganz einschlief, piekste mir ein Finger in die Seite und ein seltsames Quieken entwich meinem Mund.

Grimmig schaute ich mich nach dem Übeltäter um und sah in Felix' grinsendes Gesicht.
Als ich gerade den Mund aufmachen wollte, um ihn anzumeckern, fing mein Mathelehrer an zu reden.
Wie schafften Lehrer es manchmal, unbemerkt den Raum zu betreten?

Also schwieg ich und fing an stattdessen auf einem losen Blatt rumzukritzeln.

Nachdem die ersten beiden Stunden überstanden waren und auch die Pause vorbei war, ging ich zusammen mit Felix zu unserem Geschichtskurs.

Mit einem fröhlichen "Guten Morgen meine Lieben!" betrat Herr Wesel den Raum und stellte seine Aktentasche mit Schwung auf dem Pult ab.

Die meisten Gespräche verstummten und mein Lehrer sah gut gelaunt in die Runde.

"Finden Sie nicht auch, dass es nichts besseres gibt, als ausschlafen zu können, weil man erst später unterrichten muss?"

Ein missbilligendes Grummeln ging durch den Kurs und ich musste ein Gähnen unterdrücken.

"Wenn ich mir Ihre Gesichter so ansehe, dann hatten Sie wohl nicht dieses Glück.", sagte der Sadist vor der Tafel, den es gerade Spaß zumachen schien, uns zu quälen.

"Dann wollen wir mal anfan-"
Weiter kam er nicht, da die Tür aufgerissen wurde und ein verschlafender Junge den Raum betrat.

"Ach Herr Bang! Wie schön, dass Sie auch noch kommen."

Und ich hatte die Hoffnung, ich müsste ihn heute nicht sehen...
Vielleicht lässt er mich auch einfach in Ruhe und verhält sich so wie immer. Wenigstens das.

"Tut mir Leid, ich habe meinen Bus verpasst.", meinte Chan nur schulterzuckend, denn natürlich war er es, und steuerte auf seinen Platz zu.

Als er an meinem Platz vorbeiging, lächelte er kurz, doch ich verzog keine Miene. Dafür war es einfach zu früh am Morgen.

Felix neben mir musterte mich kritisch.

"Da nun alle da sind, können wir ja jetzt richtig anfangen.", meldete sich Herr Wesel wieder zu Wort.
"Aber davor noch eine Sache. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass Sie zu zweit Vorträge über ein spezifisches Unterthema zu unserem neuen Thema Nationalsozialismus halten werden. Dieser Vortrag sollte ungefähr eine viertel Stunde dauern und in drei bis vier Wochen fertig sein. Bevor wir jetzt mit dem Unterricht anfangen, legen wir erst die Gruppen fest und vergeben die Themen.
Ich dachte mir, wir mischen den Kurs mal etwas durch und losen die Gruppen und Themen aus."
Nun war ein einhaltliches Stöhnen zu hören.

Was sollte das? Warum konnten wir die Gruppen nicht einfach selber festlegen? Die Wahrscheinlichkeit, dass Felix und ich eine Gruppe bilden würden, war jetzt ziemlich gering. Der Geschichtskurs war zwar nicht groß aber bei zwanzig Schülern gibt es dann immernoch 18 andere mögliche Partner.

"Ich weiß, ich weiß. Sie sind aus dem Häuschen vor Freude wegen meiner Idee aber da Sie schon fast erwachsen sind, sollte das eigentlich kein Problem sein."

Mein Blick schweifte über meine Mitschüler.
Zu keinem hatte ich ein besonders inniges Verhältnis. Um ehrlich zu sein, habe ich mit den meisten lange nicht mehr gesprochen und von einigen kannte ich nichteinmal den Namen.

"Also fangen wir an. Ich habe mir schon die Mühe gemacht und ihre Namen und die Themen auf Zettel geschrieben."
Herr Wesel zog zwei Tupperdosen aus seiner Aktentasche und hielt sie hoch.

"Frau Anton, wären Sie so freundlich und ziehen Sie die Paare? Und Herr Schmitt bitte die Themen."
Er sah Marie und Jakob in der ersten Reihe an.
Mein Geschichtslehrer war der einzige Lehrer, der uns nicht nur siezte, das machten mitlerweile viele, sondern uns mit den Nachnamen und als "Herr" oder "Frau" ansprach.
Ich fand es jedes mal aufs neue seltsam, mit meinem Nachnamen angesprochen zu werden.

Marie nahm die Dose mit den Namen und öffnete sie.
Ich hörte nur mit halben Ohr zu bis sie meinen Namen sagte.

"Seo und-"

Mein Kopf, der vorher auf meiner Hand stützte, schnellte hoch und mein Blick ging von der Wand nach vorne.

Sie griff ein zweites Mal in die Dose.

Bitte Felix. Bitte Felix. Bitte Felix...
Es war, wie ein stummes Stoßgebet und ich hoffte, Gott tat mir den Gefallen.

"Bang."

Warum? Was habe ich getan, dass mir mein Karma oder Gott oder was auch immer eine auswischen wollte? Ich wollte nach gestern eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun haben und ihm so gut es ging aus dem Weg gehen.

Das wird wohl nichts.

Mein Blick ging nach hinten und meine Augen trafen auf grüne.
Ich drehte mich wieder nach vorne und beobachtete wie Jakob in die Dose vor sich griff, um uns unser Thema zu sagen.

Egal was es werden würde, ich hatte keine Lust drauf.

"Das Thema ist Euthanasie."

Wenigstens interessant...

Meine Hand ging in meinen Rucksack und zog den Schuljahresplaner heraus, damit ich mir alles aufschreiben konnte.

Seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück, verschränkte meine Arme vor der Brust und sah zur Seite zu meinem besten Freund.
Er zuckte mit den Schultern, ändern konnten wir es sowieso nicht.

Die Zeiger der Uhr gingen nur schleppend voran. Immer wenn ich hinsah und dachte, es wären mindestens schon zehn Minuten vergangen, war der Minutenzeiger eigentlich erst zwei Striche weitergewandert.
Als er endlich auf die gewünschte Zahl zeigte, packte ich schnell zusammen und ging durch die Tür.

Ich wollte so schnell, wie möglich weg und dem unausweichlichem Gespräch mit Chan so lange, wie möglich aus dem Weg gehen.

Allerdings war Felix nicht so schnell und ich blieb vor der Tür stehen.

So stand ich also im Gang und wippte ungeduldig auf meinen Füßen hin und her. Die Schüler folgten dem Strom in die verschiedenen Richtungen wie automatisch.
Ein bischen wie Roboter, die einfach ihrem System folgten und nicht nachdachten.

"Das ist schon traurig."
Es war Weihnachtszeit und wir standen am Rande des vorbeiziehenden Menschenstroms.
"Was ist traurig?"
Ich sah den 17-jährigen an.
"Schau dir die ganzen Menschen an. Sie sehen aus wie Roboter, so emotionslos, wie sie hier die Straße langlaufen und nach Geschenken suchen. Die einzige Emotion in ihrem Gesicht ist Stress. Wenn das überhaupt zählt..."
Ich sah die Leute an, die an uns vorbeiliefen. Er hatte schon recht.
Die Mutter mit ihrem quängelnden Kind an der Hand, die in das nächste Geschäft lief, der Mann im Anzug, der gestresst telefonierte und sich dabei die Auslagen eines Juweliers ansah und auch das junge Pärchen bei dem der Freund von seiner Freundin in ein Geschäft geschliffen wurde. Sie alle schienen so als liefen sie automatisch.
Dann fiel mir ein älteres Paar auf einer Bank auf. Sie unterhielten sich, lachten und zeigten auf die vorbeilaufenden Menschen. Dabei griff der Herr nach der Hand der Dame und sie sah lächelnd zu ihm.
"Schau dir das Paar dort an. Sie sehen nicht so aus.",sagte ich und deutete auf die beiden.
Sein Blick folgte meinem Finger.
"Sie wissen noch, was wirklich wichtig ist." Er machte eine kurze Pause und sah zu mir runter.
"Weißt du Mina, ich habe dich lieb. Das sage ich dir viel zu selten."
Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
"Ich habe dich auch lieb."

"Mina?"

Ich schreckte aus meiner Erinnerung und sah auf. Chan stand vor mir und musterte mich.

"Huh?"

"Alles in Ordnung? Du wirkst so abwesend."

"Alles bestens."

Sein Gesichtsausdruck sah nicht überzeugt aus aber er beließ es dabei.

"Na ja, also eigentlich wollte ich dich wegen dem Projekt fragen. Sagen wir Samstag um zwei bei dir?"

Oh, das Projekt... Genau deswegen wollte ich ja so schnell aus dem Zimmer.

"Ähm also... Weißt du-"

"Dann ist ja alles geklärt. Wir sehen uns dann spätestens Samstag!"

Er lächelte verschmitzt, drehte sich um und schon verschwand er in der Schülermenge.

Verwirrt und etwas überfordert stand ich nun wieder allein im Gang und sah in die Richtung, in die er verschwunden war.

"Mina kommst du?"

Ich sah zu meinem besten Freund. Mein Gesicht sah wahrscheinlich immernoch verwirrt aus.

"War was? Du bist etwas neben der Spur."

Um meine Gedanken wieder zu ordnen schüttelte ich den Kopf und sah wieder hoch.

"Ich sag's euch im Café. Komm lass uns Anna suchen."

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