Kapitel 5

"Willst du noch etwas essen, Maus?", fragte meine Mutter und deutete auf meinen leeren Teller.
Es war Mittwoch und ich aß mit meinen Eltern zu Abend.

Ich schüttelte den Kopf.
"Ich bin satt."

Meine Eltern wechselten einen besorgten Blick. Ich hatte nur einen kleinen Teller gegessen, was für mich ungewöhnlich war.

Ich hatte heute einfach keinen Appetit.

"Und wie war die Schule?", fragte mein Vater.

"Wie immer.", antwortete ich nur.

Mein Vater seufzte und meine Mutter sah mich etwas verzweifelt an.

"Schätzchen, so kann das nicht weitergehen!", brach es schließlich aus ihr heraus.
"Dir geht es nicht gut, das sehen wir. Wir wollen dir helfen, weißt du. Aber das können wir nicht, wenn du nicht mit uns redest und dich uns gegenüber verschließt! Wir wollen doch nur das beste für dich." Beim letzten Satz wurde sie leiser.

Kurz sah ich sie verwundert an. Mit so einer Reaktion auf meine Antwort hatte ich echt nicht gerechnet.

Aber ich fing mich schnell wieder.
"Ich brauche keine Hilfe!", sagte ich entschlossen und stand auf.

Ich rannte die Treppe hoch in mein Zimmer und schloss die Tür ab.

Ich setzte mich auf die Fensterbank und sah nach draußen.

Ich brauchte keine Hilfe. Ich wollte sie nicht. Denn wenn Leute mir helfen wollten, dann hatten sie Mitleid. Und ich mochte kein Mitleid.

Es ließ mich schwach fühlen und ich wollte nicht schwach sein.

Es klopfte an der Tür und die Türklinke wurde runtergedrückt. Als die Tür nicht aufging fing meine Mutter an zu reden.

"Mina bitte mach die Tür auf." Ihr Ton war fast schon flehend.

Mein Blick war starr auf die Tür gerichtet.

"Bitte rede doch mit mir! Es ist schon so lange her. Man muss lernen damit umzugehen."

Ich hörte ein Schluchtzen von der anderen Seite der Tür. Es brach mir das Herz aber ich konnte ihr nicht antworten.

Ich hatte meine eigene Art, damit umzugehen. Vielleicht war es nicht die beste aber egal.

"Bitte! Bitte antworte mir.", vernahm ich leise und durch die Geräusche vermutete ich, dass sie sich auf den Boden setzte und gegen die Tür lehnte.

In den nächsten fünf Minuten starrte ich weiter auf die Tür. Immer wieder hörte ich meine Mutter schluchzen.

Dann hörte ich sie aufstehen und die Treppe runtergehn.

Mein Blick lag immer noch auf der Tür und mein Atem wurde schneller. Aufeinmal spürte ich einen Druck auf meiner Brust. Er wurde immer stärker.

Ich atmete immer schneller und setzte mich anders hin. Meine vorher angewinkelten Beine hingen nun schlaff über der Fensterbank und meine Hand legte ich auf meinen Brustkorb.

Ich fühlte mich immer eingeengter.

Eine Panikattake. In den letzten Jahren hatte ich häufiger welche aber jetzt hatte ich schon lange keine mehr gehabt.

Ich musste hier raus, musste an die Luft.

Doch meine Eltern sollten es nicht bemerken. Sie würden sich nur noch mehr Sorgen machen, wenn ich abends um halb elf schwer atmend, mit einer Panikattake aus dem Haus stürmte.

Schnell stand ich auf und öffnete mein Fenster.
Die frische Luft strömte in mein Zimmer und ich versuchte tief durchzuatmen.
Mein Atem wurde etwas langsamer aber noch lange nicht normal.

Genau neben meinem Fenster war eine Regenrinne.

Ich kletterte so auf die Fensterbank, so dass meine Beine an der Hauswand runterhingen.
Mit zittrigen Fingern griff ich nach der Regenrinne und stellte meinen Fuß auf die kleine Befestigung, die die Regenrinne mit der Wand verband.

Ich bin hier schon oft rausgeklettert aber noch nie mit einer Panikattake. Auch, wenn diese nur eine leichte war.

Mit einem Bein stand ich nun auf der Regenrinne und klammerte mich an ihr fest. Ich versuchte mich zu konzentrieren, sodass ich nicht durch die Panikattake meine Halt verlor.

Langsam und zitternd ließ ich mich runter und suchte mit meinem freien Fuß die nächste Befestigung.
Mein Atem ging immer noch zu schnell und stoßweise. Langsam bildeten sich Tränen in meinen Augen und meine Sicht verschwamm.

Ganz ruhig Mina, du hast es gleich geschafft.

Zum Glück war mein Zimmer nur im ersten Stock und ich jetzt nur noch knapp zwei Meter über dem Boden.

Ich sah nach unten auf die Erde, um zu schauen, ob irgendetwas dort lag, was mich verletzen konnte. Durch die Dunkelheit konnte ich nicht viel erkennen.

Ich versuchte mich etwas mehr zu beruhigen und stieß mich von der Regenrinne ab.
Unsanft landete ich auf dem Gras neben unserem Haus und viel auf mein Hinterteil.

Ich war draußen. Ich war an der frischen Luft und hatte Platz. Ich war nicht mehr so eingeengt, wie in meinem Zimmer.

Langsam wurde mein Atem ruhiger.

Ich stand auf und lehnte mich gegen die Wand.
Erst jetzt viel mir auf, dass ich Barfuß war.
Da es Frühling war, war es abends kühl aber ich konnte mir jetzt keine Schuhe holen.

Ich konnte fast wieder normal atmen.
Mit meinem Ärmel wischte ich die Tränen, die sich in meinen Augen gesammelt hatten weg.

Langsam ging ich die paar Meter zur Straße. Im Schein der Straßenlaternen lief ich durch die Straßen.
Auch wenn ich mich wieder beruhigt hatte, wollte ich noch nicht nach Hause. Ich brauchte noch Zeit hier alleine.

Es war so ruhig.

Nur einmal fuhr ein Auto vorbei.

Ich achtete nicht auf den Weg und ging einfach weiter. Kleine Steinchen pieksten in meine Fußsohlen.

Als ich mich umsah bemerkte ich, dass ich am Stadtpark unserer Kleinstadt war.
Ich stockte.

Dann ging ich weiter auf den Parkeingang zu.
Unter meinen Füßen spürte ich nun noch mehr kalte spitze Steinchen.

Jetzt wusste ich genau, wo ich hinwollte.

Ich lief den Schotterweg im Park entlang. Die Bäume schienen im Dunkel gruselig, es sah schaurig aus.

Ich fröstelte etwas.

Ein Fußgänger, der mit seinem Hund draußen war, sah erst auf meine nakten Füße und mich dann an.
Er musterte mich.

Wie ich wohl auf ihn wirken musste, ohne Schuhe und ohne Jacke. Abends alleine im Park und mit einem etwas verheultem Gesicht.
Hier gab es keine Laternen mehr, nur der Mond beleuchtete den Weg.
Wahrscheinlich wirkte ich verwirrt.

An meinem Ziel angekommen blieb ich stehen ich stehen.

Ich stand in der Mitte einer Brücke, ungefähr sechseinhalb Meter über einem kleinen Fluss.

Ich weiß, ein so tiefer Fluss war ungewöhnlich mitten in einem Park.

Ich lehnte meine Unterarme auf das Geländer und sah in den Himmel.
Die Nacht war klar und man konnte die Sterne perfekt sehen.

Wie viele es wohl sein müssten? Wie viele Sterne es wohl dort draußen in den Weiten des Weltalls geben müsste?

"Schau mal dort. Siehst du diese drei Sterne, die eine Reihe bilden?" Wir standen nebeneinander auf der Brücke im Park und schauten in den klaren Sternenhimmel.
Ich sah seinem ausgestreckten Arm nach und fand genau diese am Himmelszelt.
"Das ist der Gürtel des Orion.", meinte er der sechzehn-Jährige.
Es war Ende Januar und ziemlich kalt. Trotzdem waren wir an diesem Abend noch draußen.
"Warum Gürtel?", fragte mein elf-jähriges Ich.
"Schau, die Sterne dort obendrüber", er zeigte auf zwei Sterne, "und die zwei hier unter dem Gürtel, sie zusammen bilden das Sternenbild Orion. Und die drei Sterne in einer Reihe sehen ein bisschen wie der Gürtel eines Männchens aus, meinst du nicht?"
"Und der Orion ist dieses Männchen.", schlussfolgerte ich. Das Sternenbild sah wirklich etwas wie ein Männchen oder ein Alien am Himmel aus.
Ich liebte den Himmel und die Sterne aber ich kannte fast keine Sternenbilder. Außer vielleicht den großen Wagen aber den kennt jeder.
"Was glaubst du, wie viele Sterne dort sind?", fragte ich und sah ihn abwartend an.
"Unendlich viele. Das Weltall ist unendlich also muss es die Anzahl der Sterne darin doch auch sein.", philosophierte er.
Eine Weile sagte keiner etwas, nur das Rauschen des Flusses unter uns war zu hören.
"Die Welt ist voller Musik.", sagte er aufeinmal. "Selbst jetzt, wo alles leise ist. Der Fluss spielt weiter und erzählt seine Geschichten."
Ich stellte mich auf die untere Metallstange des Geländers und beugte mich so weit rüber, bis ich den schwarzen Fluss sehen konnte.
"Was erzählt er? Ich verstehe ihn nicht."
Seine Metaphern und die Art, wie er die Welt sah, mochte ich schon immer.
"Hör genau hin und er erzählt dir von seinen Erlebnissen.", meinte er schmunzelnd.
Wir standen noch ca. fünf Minuten dort an der Brücke.
"Komm, wir sollten gehen, es ist gleich halb sieben."

Durch einen Ruck wurde ich aus meiner Erinnerung gerissen und fand mich auf dem Boden wieder.
Allerdings wurde ich von einem starken Arm festgehalten.
Verwirrt und geschockt blieb ich liegen.

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