Kapitel 27
Am Mittwoch nach der Schule begleitete Chan mich nach Hause. Unsere Rucksäcke stellten wir auf den Boden und ich ging langsam aus meine kleine Kommode zu.
Kurz zögerte ich, dann wickelte ich vorsichtig das lilane Seidentuch wieder um die Geige und band die Schleife um das Griffbrett neu.
Bevor ich den Deckel schließen konnte, legte sich eine Hand auf meine Schulter.
Ein Lächeln zeichnete sich auf Chan Gesicht ab und brachte seine Grübchen zur Geltung.
Tief holte ich Luft und schloss den Deckel.
Ohne viel darüber nachzudenken, nahm ich den Geigenkasten von der Kommode. Das Holz an der Stelle, an der er lag, war dunkler, als die restliche Oberfläche der Kommode.
"Also dann,", sagte Chan. "Lass uns deine Geige zum Doktor bringen."
Dieser Ausdruck entlockte mir ein leises Lachen und ich folgte ihm aus der Tür.
Einen kurzen Augenblick blieb ich im Flur stehen und sah zur Tür des Nebenzimmers. Die Macke war wie immer zu sehen und präsentierte stolz ihre Kriegsverletzung.
Ich wusste noch genau, was sich hinter der Tür verbarg, wie es dort aussah, wie es roch, welche Wirkung das Zimmer auf mich hatte.
Unten an der Haustür begegneten wir dem verwirrten Blick meiner Mutter, die heute früher von der Arbeit kam. Sie sah den Geigenkasten in meiner Hand und ihr Gesicht hellte sich auf.
"Bin bald wieder da.", sagte ich schnell und zog Chan hinter mir aus dem Haus, bevor meine Mutter etwas sagen konnte.
"Ich war noch nie bei einem Geigenbauer.", brach Chan die Stille. "Warum auch. Jedenfalls, das muss doch total beeindruckend sein. Die ganzen Instrumente und das Wissen, wie sie funktionieren."
"Es ist toll." Ich war so nervös, dass ich nicht viel reden konnte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich war mir sicher, bald würde es ausreißen und einfach weghüpfen.
Lange schon war ich nicht mehr dort gewesen. Früher ging ich jedes Jahr zum Geigenbauer, damit die Geige nicht ihren Klang verlor und Öffnungen im Lack sofort behoben werden konnten. Ich wollte immer, dass sie perfekt blieb. So perfekt wie dieses Instrument in meinen Augen war.
Er hatte mich immer begleitet und seine eigene Geige hingebracht. Nie war ich ohne ihn dort gewesen.
Das machte mir den Weg heute noch schwerer.
Aber ich war nicht allein. Ich hatte Unterstützung.
Chan hatte mir irgendwie angesehen, dass ich es alleine nicht schaffte. Er war für mich da.
Als wir endlich vor dem mir bekannten Haus standen, sah ich die Fassade hoch. Es sah aus wie vor vier Jahren, als ich das letzte Mal hier war. Es war ein schöner Tag gewesen, so wie heute auch. Ein schöner, warmer Tag im Juni. Damals hatte ich noch keine Ahnung, was in den nächsten Wochen auf mich zukam, ich hatte nur die Schwere in der Luft gespürt aber beschlossen, sie fürs erste zu ignorieren.
"Bereit?", fragte Chan und nahm meine Hand.
War ich bereit? Nein. Aber ich musste es tun also nickte ich und zusammen betraten wir das Haus.
Es dauerte nicht lange, ich musste das Instrument schließlich nur abgeben.
Der Raum hatte sich nicht verändert, genauso wenig, wie der grummelige Geigenbauer. Er hatte einen riesigen Schrecken bekommen, als er den Koffer öffnete und die Violine sah.
Sein Murmeln beim näheren Betrachten der Geige ging in seinem weißen Schnauzer unter.
Es war mir ein bisschen peinlich, ein Instrument in diesem Zustand abzugeben aber dafür war ich ja hier. Damit meine Geige wieder repariert wurde.
Es würde etwas dauern aber sie würde wieder funktionieren.
Als wir wieder draußen waren, atmete ich tief die frische Luft ein. Mir war leicht schwindelig geworden und ich suchte nach Halt.
"Alles in Ordnung?", fragte mich Chan besorgt und hielt mich fest. Schnell konnte ich mich wieder fassen und nickte.
"Danke.", sagte ich. Fragend hob er eine Augenbraue.
"Dass du mit mir hier warst. Danke."
"Oh.", machte er. "Natürlich. Ich bin froh wenn ich dir helfen kann." Er strahlte mich an. "Ich hab dir doch gesagt, dass ich für dich da bin. Das habe ich auch genau so gemeint."
"Ich möchte dir etwas zeigen.", sagte ich. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich wollte ihm alles erzählen, wollte dass er wusste, was passiert war. Und jetzt nahm ich meine ganze Kraft zusammen, um diese Worte auszusprechen und in seine Augen zu sehen.
"Okay.", fragend sag er zu mir. "Und was."
"Das wirst du sehen, wenn wir da sind."
Ich wusste nicht, ob ich es ihm erzählen konnte aber ich konnte es ihm zeigen. Ich vertraute ihm und wusste, dass er mir nicht sagen würde, ich würde überreagieren. Ich wusste, er würde es verstehen.
Also ging ich los in Richtung der Bushaltestelle, die uns zu unserem Ziel führen würde.
Chan joggte mir hinterher, um mich einzuholen.
"Warte", lachte er. "Wir haben Zeit."
Sein Lachen war schön, das viel mir immer wieder auf.
Die Busfahrt über schwieg ich und sah aus dem Fenster. Immer wieder konnte ich Chans Blick auf mir spüren aber ich sah ihn nicht an.
Als wir den Ort erreicht hatten, zu dem ich wollte blieben wir stehen. Wir standen am Waldrand auf einem großen Parkplatz, der zu einem eisernen Tor führte.
Chan verspannte sich merklich neben mir.
Kurz sah ich zu ihm hoch und begegnete seinem unsucheren Blick, dann ging ich weiter und er folgte mir.
"Der Friedhof?", fragte er. "Was machen wir auf dem Friedhof?"
Ich antwortete nicht, nahm nur seine Hand und ging den vertrauten Weg entlang.
Es war ein schöner Waldfriedhof, überall war es grün, die Gräber umgeben von Bäumen, die über sie wachten.
Überall waren Farben. Dieser Ort war nicht war viel fröhlicher, als man vermutete. Alles war gepflegt und verziehrt, Kerzen brannten und die schönsten Blumen schmückten die unzähligen Gräber.
Es klang komisch, aber hier hörte ich die Musik immer.
Denn hier war er.
Ich konnte den grauen Grabstein schon sehen, zu dem ich wollte und festigte meinen Griff um Chans Hand. Er hatte nichts mehr gesagt, seit wir auf dem Parkplatz waren.
Meine Schritte wurden langsamer und wir bogen in die Reihe ein, bedacht darauf, nicht ausversehen über die Ränder der anderen Gräber zu stolpern, ließ ich Chans Hand los.
Ich blieb stehen und sah auf das Grab.
Rote, orangene, gelbe und weiße Blumen waren darauf gepflanzt und drei Kerzen standen vor dem grauen Stein. Sie brannten noch.
Chan sog hörbar hinter mir Luft ein. Als ich zu ihm aufsah, konnte ich die Überraschung deutlich von seinem Gesicht ablesen, das die eingravierten schwarzen Buchstaben auf dem Grabstein anstarrte.
"Seo Changbin", stand dort.
Als Todesdatum war der 20. Juli vor vier Jahren angegeben.
Chan sah zu mir und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
"Du musst gar nichts dazu sagen.", unterbrach ich ihn, bevor er überhaupt anfangen konnte.
"Er war krank.", sagte ich leise. "Aber es wurde zu spät erkannt. Man konnte ihm nicht mehr helfen."
"Das tut mir leid." Chan griff vorsichtig nach meiner Hand. Es war aufrichtig, was er sagte. Es tat ihm leid.
"Das muss es nicht. Niemand konnte etwas dafür."
Die Blätter der Bäume raschelten, vom warmen Sommerwind geschüttelt und ließen ihre Melodie erklingen. Sie war freundlich und voller Hoffnung. Warm, wie eine Umarmung, die man dringend benötigt.
"Hast du deswegen aufgehört auf deiner Geige zu spielen?" Langsam und vorsichtig, tastet Chan sich an die Fragen ran, die ihm schon lange auf der Zunge brannten.
Der Name im Grabstein war mir so vertraut und gab mir Kraft. Ich wusste, Changbin hatte gekämpft, hatte es so lange herausgezögert, bis er es nicht mehr konnte. Aber er hatte den Kampf verloren. Er wollte nicht gehen aber er hatte es akzeptiert. Er hatte seine Leben in ein acht Seiten langes Stück zusammengefasst und es für mich aufgeschrieben, damit ich wusste, dass es in Ordnung war. Damit ich etwas von ihm hatte, an dem ich festhalten konnte. Denn mein großer Bruder wusste, wie sehr ich zu ihm aufsah, ihn bewunderte und brauchte.
Ohne ihn wär mein Leben ganz anders verlaufen und ich wollte mir nicht vorstellen, was ich alles verpasst hätte. Er gab mir Mut, war für mich da, natürlich ärgerte er mich ab und zu aber ich konnte ihm nie lange böse sein. Man musste Changbin einfach mögen. Er brachte so viel Freude in mein Leben und nahm diese mit sich mit als er starb.
"Er war der Grund, warum ich angefangen hatte, zu spielen. Er war mein Vorbild. Er zeigte mir die Liebe zur Geige und ermutigte mich immer wenn ich daran frustrierte. Ich habe nie jemanden so schön spielen hören, wie er es konnte. Als er starb, nahm er die Musik in meinem Leben mit."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top