Kapitel 25

Es verging ein Monat und alles blieb, wie es war. Der Geigenkasten stand immer noch geöffnet an seinem Platz auf der Kommode und sah mich jeden Tag vorwurfsvoll an. Meine Gefühle waren ein Durcheinander, das ich nicht ordnen konnte.

Nur meine Beziehung zu Chan hatte sich wieder gebessert. Wir hatten nicht wieder über das Thema gesprochen, aber es schien so, als stünde es nicht mehr zwischen uns. Ich hoffte, er hatte es vergessen aber ich wusste, dass es nicht so war. Manchmal sah er mich noch mit diesem durchdringlichen Blick an, der rausfinden wollte, was geschehen war. Manchmal war er kurz davor mich erneut zu fragen. Aber er machte es nicht. Er ließ mir Zeit.

Und diese Zeit brauchte ich.

Wir lernten uns besser kennen, lachten zusammen und genossen die Momente. Oft waren wir draußen, saßen im Park, oder schlenderten durch die Stadt. Ich lernte seine Mutter und kleinen Geschwister kennen und begleitete ihn einmal zu einem seiner Handballspiele, nachdem ich eine Wette verloren hatte.

Es war schön mit ihm.

Er tat mir gut.

Anfangs hatte ich mich gegen ihn gewehrt und den Einfluss, den er auf mich hatte aber ich konnte nicht verhindern, dass ich ihn immer mehr in mein Herz schloss.
Wenn ich bei ihm war spielte leise Musik. Eine Musik, die ich noch nicht kannte und ich nie ganz erkennen konnte. Aber sie war da.

Es machte mir Angst und beruhigte mich gleichzeitig. Ich fühlte mich nicht mehr komplett leer.

Es ging mir besser, das konnte ich mit Gewissheit sagen. Und das fühlte sich so unglaublich gut an. Ich wollte mich wieder besser fühlen, wieder so wie früher. Ich wollte das Geschehene hinter mir lassen und wieder ein ungezwungenes, fröhliches Lied spielen. Ich wollte es so sehr.

Aber es war schwer.

Es war schwer damit zurecht zu kommen und ich wusste nicht wo ich anfangen sollte.
Wie sollte ich die restliche Stille wieder loswerden, die immer noch fest mit mir verbunden war?

Das alles war mir ein Rätsel.

Es war Samstag, meine Eltern waren auf einer Fahrradtour mit Freunden und ich saß am letzten Rest meiner Hausaufgaben für die nächste Woche als das Display meines Handys aufleuchtete und eine Nachricht ankündigte.

"Ich weiß, es ist kurzfristig, aber hast du heute Zeit?" Sie war von Chan. Augenblicklich musste ich lächeln.

"In einer Stunde bei mir?", schrieb ich zurück.

Eine Stunde später, standen wir zu zweit vor der Kaffeemaschine und füllten, dem Wetter entsprechend, unsere Tassen mit Espresso und einer Kugel Vanilleeis.

"Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinen Kaffee mit Eis zu mischen.", meinte Chan und beäugte misstrauisch den Inhalt seiner Tasse.
"Eiskaffee ist doch auch immer mit Vanilleeis, warum dann nicht auch ein einfacher Espresso? Das bekommt man in Italien übrigens auch oft und glaub mir, Italiener kennen sich mit Kaffee aus."

Er zuckte mit deb Schultern, lächelte dann aber, sodass sich auf seinen Wangen Grübchen bildeten.
"Ich vertraue dir einfach mal.", lachte er. "Wenn ich heute Abend tot bin, dann hast du mich mit diesem Gebräu vergiftet."

Dieser Spinner.
Leicht boxte ich gegen seinen Arm und grinste.

"Wenn ich vorhätte, dich zu vergiften, hätte ich es schon längst getan." Mit diesen Worten drehte ich mich um und verließ die Küche in Richtung Treppe.
Hinter mir konnte ich ein Auflachen hören und seine Schritte, als er mir folgte.
"Dann habe ich ja Glück, dass du mich magst."

"Wer sagt, dass ich dich mag?", entgegnete ich und drehte mich zu ihm um. Ich war auf der Treppe stehen geblieben, er eine Stufe unter mir, sodass wir uns in die Augen sahen.

"Deine Augen und dein Verhalten."

"Meine Augen?", wiederholte ich und musste auflachen. Mich zum weitergehen umdrehend wartete ich auf seine Antwort.

"Deine Augen.", sagte Chan. "Somst wirken sie zwar häufig so leer aber ich bilde mir ein ab und zu ein Funkeln darin zu entdecken." Der Ton in seiner Stimme zeigte, dass er nicht Scherzte, wie ich es eben tat.

In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich wieder auf die Fensterbank. Chan blieb neben der Tür stehen und sah mich an.

Da war wieder dieser Blick. Aber heute wirkte er anders. Es waren nicht nur die Fragen, die in ihm lagen, sondern auch eine Wärme, die er ausstrahlte, als wolle er mir sagen, dass ich ihm vertrauen kann.

"Es ist selten, dass ich dieses Funkeln sehe aber ich sehe es immer häufiger.", fügte er hinzu, immer noch an der Tür stehend.
Ich sah ihn ebenfalls an, wusste nicht, was ich darauf erwiedern sollte.

"Weißt du, ich frage mich wirklich oft, was wohl in dir vorgeht. Alles, was du mir nicht sagen willst, ich weiß, es hat etwas mit dem Funkeln in deinen Augen zu tun." Er machte eine kurze Pause und kam näher.

"Ich würde es gerne mehr sehen. Du bist mir wichtig geworden und uch möchte, dass es dir gut geht."

Nur noch wenige Schritte trennten uns aber er blieb stehen, stellte seine Tasse auf den Schreibtisch, neben dem er nun stand und lehnte sich dort an.
Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, ausgelöst durch seine Worte. Aber ich konnte ihn nicht länger in die Augen sehen und wandte meinen Blick ab. Ich spürte, wie die Traurigkeit wieder durch meinen Körper fuhr und sich mit der Wärme vermischte, zu einem unergründlichen Gefühlsknäuel.

Ein seufzen ertönte aus Chans Richtung aber ich hob meinen Blick nicht wieder.

Ein paar Minuten saßen wir so da. Schweigend, da er gesagt hatte, was er sagen wollte und ich nicht wusste, wie ich meine Gedanken zum Ausdruck bringen konnte.

Dann stand er auf und gab ein überraschtes Geräusch von sich.
"Ich habe deinen Geigenkasten noch nie offen gesehen." Neugierde klang in seiner Stimme mit.
Mein Kopf schnellte hoch und ich sah ihn mit weiten Augen an.

Meine Geige. Ich hatte vergessen, dass sie noch geöffnet dort stand. Natürlich war es mir bewusst aber je länger sie so dort lag, desto mehr gewöhnte ich mich an ihren Anblick. Doch jetzt wurde mir wieder deutlich vor Augen geführt, in welchem Zustand sie sich befand.

Sie war nicht spielbar, konnte keine Töne von sich geben, nichts zum Ausdruck bringen.

"Was ist passiert?" Er stand vor dem Objekt, dass mir einst so viel Freude gebracht hatte und sah es verwirrt an. Seine Augen folgten den vier zerrissenen Saiten und blieb an dem umgekippten Steg hängen.

Wieder sah er zu mir. Mein Blick richtete sich langsam und vorsichtig auf die Geige. Ein ziehender Schmerz zog sich durch meine Brust. Ich wollte nicht, dass das Instrument sich in so einem Zustand befand.

"Ich habe lange nicht gespielt.", sagte ich leise, kaum hörbar und hob meinen Blick.
Ich war mir sicher, er konnte erkennen, wie viel Leid damit verbunden war. Denn das war es, was es mit mir machte.

Ich litt so schrecklich darunter, hatte aber noch keine Kraft, es zu ändern.

"Aber...", Chan klang besorgt und überlegte sich seine Worte mit bedacht. "Hier sind so viele Bilder von dir mit einer Geige. Du musst sie wirklich gemocht haben."

Mit gesenktem Blick nickte ich leicht. Das altbekannte Brennen kehrte in meine Augen zurück.
"Sie war mein Leben."

Vorsichtig stellte ich meine Tasse auf die Fensterbank und ging zu ihm auf die Kommode zu.
Es wirkte, als wäre der Violine die Seele verloren gegangen. Sie war nicht dazu im Stande, ihren Zweck zu erfüllen. Sie konnte so wie sie war nicht funktionieren.

Ich schniefte.

Meine Hand fuhr sanst über das Holz und wickelte die kaputte G-Saite um meinen Zeigefinger.
Ganz leicht nahm ich eine Berührung an meiner andere Hand wahr. Finger verschränkten sich zögerlich mit meinen. Leicht drückte Chan ermunternd meine Hand und ich sah zu ihm auf.
Meine Augen waren nun endgültig mit Tränen gefüllt, die ich nicht mehr aufhalten konnte.

Er sah mich an mit so viel Zuneigung und Mitgefühl, als würde er meinen Schmerz mit mir teilen.
Sein Daumen strich leicht über meinen Handrücken.

"Wie lange hast du nicht mehr auf der Geige gespielt?", fragte er vorsichtig.

Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und fing an unkontrolliert zu schluchzen. Chan bereute seine Frage sofort und schloss mich in seine Arme.

Sie waren so warm.

Mein Körper bebte umschlossen von seinen schützenden Armen und ich versuchte Worte zu bilden.

"Seit...", ich schluchzte. "Seit fast...vier Jahren.", sagte ich schließlich doch und klammerte mich an sein T-Shirt.

"Ich...ich konnte es einfach nicht...ich hatte keine Kraft." Erneut wurde ich von Schluzern erschüttert. "Ich konnte nicht." Die letzten Worte waren so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er sie verstand.
Doch das tat er. Er hörte mir aufmerksam zu, ließ mich sein Oberteil mit meinen Tränen durchnässen und war einfach für mich da.

"Erzählst du mir warum?", fragte er vorsichtig und schob mich leicht von sich weg, um mich anzusehen.

"Ich...", fing ich an. Ich wollte es ihm erzählen, wollte mir alles von der Seele reden aber da war etwas, was mich davon abhielt. Ein vorgeschobener Riegel in meinen tiefen Gedankengängen, der nicht zuließ, dass ich mich ganz öfnete.

"Er ist weg.", hauchte ich. Ein neuer Tränenschwall bahnte sich den Weg über meine Wangen, bis zu meinem Kinn hinunter.

"Einfach so..."

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