Kapitel 18
Am Abend schlich ich mich wieder aus dem Haus, dieses Mal aber mit Schuhen und Jacke. Mein Weg führte mich wieder zu der kleinen Brücke im Park. Die Bäume wirkten auch nicht gruselig. Sie wirkten mysteriös, als würden sie eine alte Geschichte erzählen können, die keiner vorher gehört hatte. Eine Geschichte über all die Dinge, die sich an diesem Ort vor langer oder noch nicht so langer Zeit abgespielt hatten.
Wie gerne würde ich ein paar dieser Dinge wissen, die kleinen Geschichten von irgendwelchen Leuten, die Szenen, die man hier einmal beobachten konnte. Aber das würde ich nie. Die Bäume waren gute Geheimniswärter.
Sie würden auch nie die Geschichte von zwei Kindern erzählen, das Mädchen sechs und der Junge elf Jahre alt. Der schwarzhaarige Junge war kurz vor dem Verzweifeln, weil er das kleine Mädchen nicht mehr fand, welches beleidigt weggelaufen war.
"Mina!", rief der elf-Jährige aufgebracht. "Wo bist du?" Er erhielt keine Antwort. "Es tut mir leid, okay? Ich wollte das nicht. Bitte komm wieder her!"
Aus meinem Versteck hinter einem Busch beobachtete ich ihn. Aber so einfach würde ich es ihm nicht machen. Er hatte meinen Gänseblümchenkranz, den ich mit viel Mühe gemacht hatte und auf den ich am Ende sehr stolz war, zerstört. Zwar hatte er auch gesagt, dass es ein Versehen war aber trotzdem war ich wütend auf ihn und bin weinend weggerannt.
"Bitte Mina! Ich mach dir auch einen neuen Kranz, wenn du das willst! Auch wenn ich das wahrscheinlich nicht hinkriege." Er stand nicht weit von mir entfernt mit hängenden Schultern, den letzten Satz nur gemurmelt aber ich hatte es gehört.
Langsam tat es mir leid, dass ich weggelaufen war. Aber ich war zu stur, um aus meinem Versteck wieder aufzutauchen. Meine Sicht verschwamm wieder, als sich meine Augen erneut mit Tränen füllten. Mit sechs Jahren war ich ein bisschen überfordert mit dieser Situation. Ich versuchte zwar es zu unterdrücken aber ein Schluchzen entkam dann doch meinem Mund.
Der Junge schaute auf, sein Blick nicht mehr so verzweifelt, wie zuvor. Hoffnungsvoll schaute er in seiner Umgebung umher.
"Mina?" Wieder musste ich schluchzen und die Tränen rannen nun meine Wangen bis zu meinem Kinn herunter. Ich sah auf die Überreste meines Gänseblümchenkranzes in meinen kleinen Händen und fragte mich, warum ich deswegen so einen Aufstand machte. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass er das nicht mit Absicht gemacht hatte und eigentlich hatte ich ihm schon längst verziehen.
"Da bist du ja!", ertönte es erleichtert hinter mir. Ich zuckte zusammen, drehte mich um und sah in die braunen Augen des elf-Jährigen. "Es tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht! Ich mach' dir einen neuen!", wiederholte er seine Worte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Schnell stand ich auf und warf mich in seine Arme. Er schloss mich auch in die Arme und strich mir beruhigend über den Rücken.
Zwei Minuten später saßen wir auf der großen Wiese. Belustigt sah ich dem Jungen vor mir zu, wie er konzentriert versuchte, ein Gänseblümchen nach dem anderen zusammen zu fädeln. Sein Werk war keine Meisterleistung aber das interessierte mich nicht. Wie sagte man so schön? 'Der Wille zählt." Jedenfalls hatte ich gehört, wie meine Mutter das einmal gesagt hatte.
So stand ich also wieder an dieser Brücke und sah in den Himmel. Der Orion war noch zu sehen, was sich bald ändern würde.
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