Kapitel 11
"Ist es nicht irgendwie paradox, dass Hitler Menschen mit einer Behinderung systematisch hat töten lassen aber einer seiner engsten Vertrauten selbst körperlich behindert war?"
Wir hatten gerade beschlossen für heute mit der Vorbereitung aufzuhören. Das alles hatte mich größtenteils nur verstört.
"Das alles war einfach nur gestört.", antwortete ich. "Bei dem lief auch so einiges falsch im Kopf, sowas wundert mich dann schon gar nicht mehr."
"Das stimmt. Aber trotzdem finde ich diesen Punkt seltsam. Es hat eine gewisse Ironie an sich."
"Ja aber wie gesagt, der Typ war einfach nur krank."
Chan saß auf meinem Schreibtischstuhl und ich lehnte an der Fensterbank.
"Du, wie viel Uhr ist es eigentlich? Ich hab heute noch einen Wettkampf.", fragte er.
Ich griff nach meinem Handy auf dem Schreibtisch und sah nach. "Viertel nach fünf." Ich sperrte den Bildschirm wieder und legte es zurück.
Seine Augen weiteten sich und er sprang vom Stuhl auf. "Viertel nach fünf? Scheiße! Ich muss in einer halben Stunde da sein."
Hektisch sammelte er seine Sachen auf die auf dem Boden und Schreibtisch verteilt waren. Als Chan alles zusammen hatte fuhr er sich durch die Haare und sah mich entschuldigend an.
"Tut mir leid aber ich muss jetzt echt los."
"Kein Problem" Ich lächelte leicht und wir gingen zur Tür. "Was für ein Wettkampf ist das eigentlich?"
"Schwimmen."
Der Junge vor mir zog seine Schuhe an und öffnete die Haustür.
"Na dann, bis Montag.", er hob die Hand zur Verabschiedung und schloss die Tür hinter sich.
Endlich. Erleichtert seufzte ich. Versteht mich nicht falsch, er war nett aber ich war lieber alleine. Ich fand es oft einfach nur anstrengend, mit Leuten zusammen zu sein, man musste sich immer unterhalten und sowas mochte ich nicht. Ich war nicht gut darin. Und wenn man nicht redete, dann herrschte eine peinliche Stille. Außer bei Anna und Felix aber die zählten dabei nicht. Mit ihnen konnte ich reden. Sie waren die einzigen, bei denen es mir leicht fiel.
Ich ging wieder hoch in mein Zimmer. Dort angekommen räumte ich die restlichen Sachen, die wir gebraucht hatten auf und ließ mich auf mein Bett fallen. Dieser Tag war anstrengend. Ich war nicht für eine so lange Interaktion mit einem Menschen, den ich nicht wirklich kannte geschaffen.
Ich schloss die Augen und driftete langsam in den Schlaf.
Als ich wieder aufwachte war es dunkel und ich fröstelte.
Langsam richtete ich mich auf und fuhr mir verschlafen über die Haare.
Die Ellenbogen auf meinen Knien und den Kopf auf die Hände gestützt sah ich aus dem Fenster. Nur das Licht der Sterne und der helle Schimmer der Straßenlaternen erhellte mein Zimmer. Die Bäume, die ca. fünf Meter von meinem Fenster entfernt standen, warfen seltsame Schatten auf den Boden.
Es hatte etwas gruseliges aber auch mysteriös und märchenhaftes an sich.
Der Wind bließ durch die immer noch fast kahlen Äste und ließ sie wie Schattengeister oder Dämonen tanzen. Es war in seiner eigenen komischen Weise faszinierend. Als würden sie eine Art Fest feiern. Ein schauriges Fest.
Ein Klopfen erschreckte mich und brachte mich aus zurück meiner Gedankenwelt. Die Tür ging auf und meine Mutter steckte den Kopf durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen.
"Das Essen ist fertig. Oh, habe ich dich geweckt?", fragte sie.
"Ich bin gerade aufgewacht.", sagte ich und schüttelte verneinend mit dem Kopf. "Ich komme gleich runter, Mama."
Sie nickte nur und schloss die Tür wieder hinter sich.
Gähnend stand ich nun ganz auf und ging zu meinem Schreibtisch. Ich wollte Anna kurz schreiben, sie war wahrscheinlich schon am durchdrehen. Mein Handy lag auf den zur Seite geräumten Geschichtssachen.
Ich schaltete den Beldschirm an und stutzte. Als Hintergrund sah man ein Foto, auf dem man verschneite Bäume sah. Es wurde von einem Skilift aus aufgenommen, man sah die Sessel vor dem, auf den der Fotograph saß.
Das war nicht mein Hintergrund.
Ich drehte das Handy um. Es war schwarz, genau wie meins, auch die Marke war die gleiche. Beim genaueren Hinsehen sah man aber, dass die Form etwas anders war und auch die Größe.
Es war Chans Handy.
Na super.
Er hatte dann wahrscheinlich meins.
Ich schaltete den Bildschirm wieder aus und legte das Handy zurück, ich konnte jetzt ja eh nicht mehr das machen, was ich eigentlich wollte.
Kurz warf ich nochmal einen Blick auf das Gerät, wandte mich aber wieder ab und machte mich auf den Weg in die Küche.
Meine Eltern saßen schon dort, vor ihnen jeweils ein Teller mit Kartoffelsuppe. Ich setzte mich auf den Platz, wo ein weiterer Teller stand.
"Guten Appetit", sagten meine Eltern fast gleichzeitig, was mich zum Schmunzeln brachte.
"Guten Appetit."
Mein Blick schweifte zum Stuhl mir gegenüber.
Er war leer.
Zu lange schon war er leer.
Und das würde er auch bleiben, wir konnten es nicht ändern.
Ich senkte meinen Blick und fing an lustlos die Suppe zu löffeln. Wirklich hunger hatte ich nicht aber ich musste etwas essen. Es würde mir auch nicht weiterhelfen, wenn ich jetzt umkippen würde, weil ich den ganzen Tag fast nichts gegessen hatte.
"Wie war eure Arbeit an diesem Projekt?", fragte meine Mutter.
"Gut, wir sind fast fertig damit aber er musste los."
"Was war doch gleich das Thema?", fragte mein Vater weiter. "Euthanasie im Dritten Reich." antwortete ich wieder.
Irgendwie fühlte ich mich schlecht, nur so einsilbig zu antworten aber ich wusste einfach nicht, was ich meinen Eltern erzählen sollte. Sie wollten immer, dass ich ihnen alles erzählen konnte aber so ist es nicht. Nicht, wegen ihren Reaktionen, sondern einfach, weil ich eine Mauer um mich herum aufgebaut hatte.
Diese Mauer gewann mit der Zeit an Höhe und Breite. Sie wurde immer undurchdringlicher. Es war mitlerweile nahezu unmöglich, sie zu durchbrechen.
Aber ich wusste nicht, wie ich das ändern konnte.
Mein Blick glitt wieder zum leeren Stuhl vor mir. Ich erinnerte mich daran, wie es war, als er noch nicht leer war, als dort jeden Tag jemand saß. Ich erinnerte mich an das Lachen, was man oft von dort hörte.
An sein Lachen.
Und ich erinnerte mich an die Momente, an denen nur er und ich hier saßen, auch wenn ich das manchmal nicht wirklich mitbekommen hatte.
Mit meinem Lieblingsbuch in der Hand betrat mein zwölfjähriges Ich die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ich schlug die Seite mit dem Lesezeichen auf und fing an zu lesen. Warum ich dazu in die Küche ging? Um ehrlich zu sein, keine Ahnung.
Ich ließ mich in die Welt hineinziehen, blendete alles aus.
Ich hatte die ganze Buchreihe schon zweimal gelesen aber es wurde trotzdem nicht weniger spannend.
Ich verschlang die Wörter geradezu. Es faszinierte mich einfach. Diese ganze Welt.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon auf diesem Stuhl saß, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und einfach nur las. Aus dem Augenwinkel nahm ich jemanden auf einem anderen Stuhl sitzend wahr.
Ich sah auf. Dort saß er, seinen Zeichenblock in der Hand. Auch er sah auf und lächelte.
"Wie lange sitzt du da schon?", fragte ich. Ich hatte nicht bemerkt, wie er reingekommen ist.
"Eine halbe Stunde vielleicht." Seine Aufmerksamkeit widmete er wieder dem Zeichenblock und fuhr mit gekonnten Bewegungen mit dem Bleistift über das Papier.
Zwei Minuten lang hörte man nur das Schaben des Stiftes auf Papier und das Geräusch, wenn er den Stift ablegte, um mit einer anderen Bleistifthärte weiter zu zeichnen.
Er legte den Stift zur Seite und sah prüfend auf sein Bild und danach zu mir. Er schien zufrieden zu sein und drehte das Blatt so um, dass ich die Zeichnung sehen konnte.
Er hatte mich beim Lesen gezeichnet, wie ich auf dem Stuhl saß, vertieft in eine andere Welt und mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Seine Zeichnungen waren gut, er hatte ein Talent dafür.
Er riss das Blatt aus dem Block, schrieb etwas auf die Rückseite und schob es über den Tisch zu mir.
"Hier, für dich."
Ich lächelte.
Abrupt stand ich auf und lief aus der Küche. Meinen Teller hatte ich nur halb aufegegessen.
Wieder in meinem Zimmer schloss ich die Tür ab.
Langsam näherte ich mich meinem Nachttisch. Ich zog die oberste Schublade raus und schob alles beiseite, bis ich an das Papier am Boden kam.
Ich nahm es in die Hand und sah es an. Meine Finger glitten über die Zeichnung und meine Sicht verschwomm.
Mit zitternden Fingern drehte ich das Blatt um und sah auf die Worte, die dort standen.
"Lass dir diese Fähigkeit nicht nehmen. In deiner Fantasie ist alles möglich."
Ein Schluchzen entwich meiner Kehle, ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Das Handy auf dem Schreibtisch klingelte. Mit meinem Ärmel wischte ich mir über das Gesicht und ging zum Schreibtisch, das Bild noch in der Hand.
Die Nummer war nicht eingespeichert. Ich überlegte, ob ich drangehen sollte, es war schließlich nicht mein Handy. Aber vielleicht war es ja wichtig.
Ich drückte auf den grünen Hörer.
"Hallo?", schniefte ich.
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