Kapitel 1
"Mina!", riss mich die Stimme meiner Deutschlehrerin aus meinen Gedanken. Na ja, eigentlich habe ich an nichts gedacht, sondern nur aus dem Fenster gestarrt und den Baum davor beobachtet. So weit man Rinde anstarren beobachten nennen konnte.
Abwartend sah mich meine Lehrerin an und wartete auf eine Antwort. "Ähm...", war das einzige was ich gerade zustande brachte. Ich hatte keine Ahnung, was die Frage war.
"Was ist die Aussage dieser Metapher?", wiederholte Frau Weber ihre Frage und deutete auf die Projektion an der Wand.
Metaphern. Eigentlich liebte ich sie, es gibt wunderschöne. Aber jetzt machten sie mich nur noch traurig. Sie erinnerten mich an ihn.
Warum genau behandelten wir das Thema eigentlich? In der 11. Klasse? Das haben wir in der Unterstufe schon mal gemacht. Gut, heute war es nur für eine Stunde um in unsere Lektüre reinzukommen aber trotzdem war ich nicht gerade glücklich, als ich die Überschrift am Anfang der Stunde sah.
"Mina." Erneut wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Nur sah ich dieses Mal in die braunen Augen meiner Sitznachbarin und gleichzeitig besten Freundin Anna. Sie sah mich mitleidig und aufmunternd an, denn natürlich wusste sie, dass ich nicht gerne über dieses Thema redete, auch wenn ich oft Metaphern benutzte. Sie hatte ihn gekannt und wusste, wie er war.
Wieder sah ich nach vorne und versuchte mich auf die Worte zu konzentrieren, die groß an der Wand prankten. Betonung auf "versuchte". Es klappte nicht sonderlich gut.
Seit fast vier Jahren war es im Unterricht so, dass ich einfach aus dem Fenster ins Nichts starrte. Dementsprechend waren auch meine Noten aber bisher hat es immer geklappt. Mein Problem war nicht die Schule, mein Problem war größer.
Frau Weber seufzte und fuhr, nachdem ich nach einiger Zeit immer noch nichts gesagt hatte, mit dem Unterricht fort. Ich widmete mich wieder der Baumrinde vor dem Fenster und ignorierte gekonnt Annas Blicke, die ich auch mir spürte.
Heute war es schlimmer als sonst und das hatte auch Anna bemerkt. Heute war das Loch in mir, die fehlende Musik, nicht nur ein Teil von mir, wie sie es in den letzten Jahren geworden ist, sondern mehr. Diese Stille, die die verstummte Musik auslöste war erdrückend, sie schrie. Das hört sich vielleicht paradox an aber diese Stille war laut. So laut, dass ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte.
Das dritte mal in diser Stunde wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, aber dieses Mal von der erlösenden Klingel, die die Pause ankündigte.
"Komm, lass uns schnell hier raus.", sagte Anna und Packte ihr Mäppchen ein. Stumm nickte ich. Dafür liebte ich sie einfach. Sie wusste, dass ich es nicht viel länger in diesem Raum ausgehalten hätte.
Kurz bevor wir fliehen konnten, hielt uns oder eher mich eine Stimme zurück. "Mina warte noch kurz, ich würde gerne mit dir reden.", kam es von meiner Lehrerin. Mit einem kurzen Nicken gab ich Anna zu versthen, dass sie schon rausgehen sollte und blieb stehen. Gedanklich bereitete ich mich schonmal auf eine Rede vor oder eine Mahnung, ich solle mehr aufpassen. Oder einen besorgten Blick.
Als alle Schüler aus dem Raum waren, musterte mich die Frau vor mir. Ich hasste sowas, es war unangenehm und irgendwie bloßstellend.
"Ist alles in Ordnung bei dir? Du bist in letzter Zeit abwesender als sonst."
Und das will was heißen, setzte ich gedanklich hinzu.
Na ja, fast eine Rede oder Mahnung. Aber mit dem besorgten Blick lag ich richtig.
"Ich denke, ich bin nur etwas müde"
Mit einem schwachen Lächeln versuchte ich die Aussage zu unterstreichen.
Das war die schwächste Ausrede überhaupt aber leider auch die einzige, die mir einfiel.
Ich konnte erkennen, dass sie mir nicht glaubte. Diesen Blick kannte ich. Frau Weber war eine Frau Mitte dreißig und meine Lieblimgslehrerin. Sie hatte mich diese Frage schon oft gefragt und jedes mal gab ich die gleiche Antwort. Und auch jedes mal glaubte sie mir nicht.
Einmal rief sie deswegen sogar meine Eltern an aber die sind mitlerweile ratlos, wenn es um mich geht.
Nichtmal die Threapeuten, die ich in den Jahren alle durch hatte, halfen.
Ich hatte mich einfach vor allen verschlossen. Sogar vor meinen zwei besten Freunden, auch wenn nicht ganz so sehr, wie vor allen anderen.
"Okay. Dann geh jetzt, sonst hast du nichts mehr von deiner Pause."
Sie nickte in Richtung Tür.
Ich wand mich ab und ging zur Tür.
"Ach Mina!" Nochmal drehte ich mich um und sah meine Lehrerim fragend an.
"Du weißt, dass du zu mir kommen kannst, wenn etwas nicht stimmt."
Ihr Blick war mitleidig. Ich hasste Mitleid. Das war genau das, was ich nicht wollte. Die Leute dachten immer, sie wüssten, wie es einem geht, aber das taten sie nicht. Sie konnten es einfach nicht.
Ich lächelte schwach und ging endgültig zur Tür.
Draußen warteten Anna und Felix auf mich.
Anna war, wie gesagt meine beste Freundin und das schon seit der Grundschule. Sie hatte lange, blonde Haare und, wie ich, braune Augen. Sie war meistens fröhlich und man konnte mit ihr sehr viel scheiße reden.
Und Felix, er ist dann im Gymnasium zu unserer "Gruppe" dazugekommen. Er hatte schwarze Haare und braune Augen. Wir waren alle drei sofort auf einer Wellenlänge gewesen und hatten uns schnell angefreundet. Ihre beiden Lebenslieder spielten harmonisch mit meinem zusammen. Es gab zwar Momente, wo unser kleines Orchester die Töne nicht ganz traf aber wir korrigierten sie immer schnell.
Die beiden waren die einzigen, die es schafften mich wirklich zum Lachen zu bringen. Ein echtes Lachen. Auch, wenn das Leuchten in meinen Augen seit den Sommerferien nach der siebten Klasse erloschen ist.
"Und?" Beide sahen mich fragend an.
"Das Übliche.", antwortete ich knapp. "Los, lasst uns gehen. Ich habe hunger und außerdem will ich noch einen gescheiten Sitzplatz ohne kleine Kinder am Tisch."
"Typisch." Felix sah mich schmunzelnd an. "Egal, was ist, unsere liebe, kleine Phine denkt immer nur ans Essen."
"Oder schlafen."
Danke, Anna! Fall mir halt auch noch in den Rücken...
"Tze. Ich bin nicht klein! Nur weil du zu groß bist!" Gespielt beleidigt verschränkte ich meine Arme und schob die Unterlippe vor.
"Wie süß! Sie kriegt schon ihre Trotzphase." Während er das mit einem Grinsen im Gesicht, sagte hatte ich auch schon seine Finger im Gesicht, die mir, wie ältere Frauen bei kleinen Kindern, in die Wange kniffen.
"Nimm deine dreckigen Pfoten da weg!", entgegnete ich lachend und schlug die Hand weg.
"Die kleinen werden aber auch so schnell groß!", meinte nun auch Anna, voll in ihrer Mama-Rolle und sah uns beide belustigt an.
Kurz sahen wir uns an und fingen dann alle gleichzeitig an zu Lachen. Sie schafften es immer wieder, auch wenn ich gerade wirklich nicht lachen wollte.
Merkt euch eins meine lieben! Wenn ihr Menschen findet, die euch zum Lachen bringen können, wenn ihr nicht lachen wollt, dann müsst ihr auf diese aufpassen und schauen, dass ihr sie nicht verliert!
"Komm schon, Mina! Lächel mal. Ich habe das doch nicht ernst gemeint."
Mein siebenjähriges Ich sah ins Gesicht seines zwölfjährigen Ichs, dass mich entschuldigend ansah.
Wir standen mitten im Stadtpark auf einer großen Wiese.
"Aber du warst gemein!", gab ich trotzig von mir.
"Weißt du, du darfst nicht immer alles ernst nehmen. Ich will dich doch nur ärgern."
Er wischte die Tränen weg, die mir wie ein stummer Sturm über die Wangen liefen.
Beleidigt drehte ich mich weg.
Ich quiekte auf, als ich auf einmal hochgehoben wurde und wie ein Sack Kartoffeln über seiner Schulter lag. Ein paar Leute schauten uns schon seltsam an.
"Lass mich runter, du Doofer!"
Aber er ignorierte mich und drehte sich mit mir über der Schulter im Kreis.
Mein Weinen ging in ein Lachen über. Ich konnte ihm einfach nicht böse sein.
Traurig wegen der Erinnerung sah ich auf den Boden aber gab mein Bestes, meine Stimmung zu überspielen.
Die Mittagspause verbrachten wir in der Mensa, wo wir zum Glück gerade so noch einen freien vierer-Tisch bekommen hatten.
Noch zwei Stunden, die ich überleben musste. Dann war diese Woche, die gut mit meinem Geburtstag angefangen hatte und so schlecht wieder aufhört, endlich geschafft.
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