ওProlog »L'odio e l'amore« ✓
*Landgut der Familie Ainsworth,
05.Mai 1721*
Pov. Liliane Ainsworth - die Auserwählte
Der Ball war ein Fest des Lachens und des Frohsinns. Und auch die Bowle von Lady Maria Collins hatte eine zentrale Rolle inne, denn sie verursachte ein völliges Durcheinander in den Köpfen vieler Gäste. Ich für meinen Teil tanzte zu den Klavierklängen, bis mir die Zehen in meinen spitzen, weißen Schuhen schmerzten und lachte, bis das Lächeln beinahe unwiderruflich in mein Gesicht geprägt war, wo es Halbmondförmige Grübchen auf meine Wangen malte.
Meine Schwester, die wieder nur damit beschäftigt war, ihre Nase viel zu hoch zu tragen, ermahnte mich des öfteren. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie hatte schlicht etwas gegen Spaß - vorallem, wenn ihre Mitmenschen ihn hatten.
So fand sie meine ausgelassene Art, zu feiern, anstandslos.
"Für eine junge Frau wie dich aus einem Hause wie deinem schickt sich sowas nicht!", zischte sie mir zu.
"Ich bin nicht diejenige, die sich des Nachts heimlich mit Mr. George in den Wäldern trift, Thelma", flüsterte ich zurück und sah sofort, wie ihr Gesicht etwas an Farbe verlor.
Ich verurteilte sie nicht. Mr. George war meiner Ansicht nach ein höchst anständiger Mann. Höflich, intelligent, ansehnlich. Jedoch war er bloß der Sohn eines Schneiders und zudem ein paar Jahre jünger, als meine Schwester.
Mutter und Vater wären entzürnt, würden sie herausfinden, dass Thelma ihre Jungfräulichkeit bei einem unehelichen Verhältnis zu einem Mann, den sie, aufgrund seines gesellschaftlichen Standes, niemals als Schwiegersohn in Betracht ziehen würden, verloren hatte. Ja, ich hingegen verurteilte sie und ihre Taten zwar nicht, dennoch war Thelma wahrlich die letzte Person, die in der Position war, anderen Ratschläge darüber zu erteilen, was sich schickte.
"Sag kein Wort darüber! Sonst fangen die Leute noch an, zu reden.", zischte sie, strich nervös über ihr Kleid, dessen glänzender Stoff kurz unter dem Kerzenlicht aufblitzte - als würde er mir zuzwinkern und versichern, dass dieser Punkt an mich ging - und gewann ihre Fassung langsam zurück.
"Ich sage nichts", antwortete ich und grinste ihr entgegen.
Abwertend, gar ein wenig angewidert blickte sie mir entgegen.
"Bitte unterstehe dich, deine Zähne so zur Schau zu stellen. Das gehört sich nicht."
Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen - es sollte irgendetwas Amüsantes sein, das meine Schwester mal für einen Moment von ihrem hohen Ross herunter holte.
Doch just in diesem Moment verstummte das sanfte Klavierspiel und ein paar Damen atmeten geräuschvoll auf.
Ich streckte mich, um über die Ballgäste hinweg zu sehen und einen Blick auf den Grund für diese kollektive Erschrockenheit zu erhaschen.
Die Pianistin war einer Ohnmacht verfallen und lag auf dem Boden, auf dem sich ihre blonden Locken wie ein weiter Fächer ausbreiteten. Obgleich ihre Augen geschlossen und ihre Lippen leicht geöffnet waren, sah sie aus wie ein Engel. Wäre ich ein bisschen eitler, als mein Charakter es zuließ, wäre ich vermutlich neidisch auf ihre Schönheit. Die meisten Damen waren es - nach einem kurzen Blick, nach der Überwindung des ersten Schrecks, wanden sie sich ab, nicht ohne, dass sich eine klangheimliche Schadenfreude, über den für das Mädchen vorzeitig beendeten Ball, auf ihre Züge zeichnete.
Einige, ältere Damen, die in ihr aufgrund der Tatsache, dass sie bereits verheiratet waren, keine Konkurrenz sahen, scharrten sich dennoch um sie. Zudem ein paar starke Gentlemen, die sie davontrugen, um ihr eine Genesung ohne die Blicke hunderter Leute zu gewähren.
Ich musste gestehen, dass derlei Vorfälle mich nur bedingt berührten. Denn beinahe auf jeder Festlichkeit in unserem Hause, gab es eine Dame, der es so erging.
"Wen wundert es?", sagte mein Bruder, der Medizin studiert hatte, stets, "Wie soll man durch ein Korsett auch genügend atmen können?"
"Ob die Damen atmen können ist nicht relevant. Sie müssen ansprechend aussehen und das ist alles", tat Mutter derartige Äußerungen ab und vertrat damit eine allgemein als korrekt angesehene Position. Meine Meinung war eine andere. Doch, da meine Aufgabe als Frau, wie Mutter bereits sagte, darin bestand, ansprechend auszusehen, konnte ich wohl kaum erwarten, dass jemand mir zuhörte.
"Ich würde das wundervolle Klavierspiel der verehrten Miss Hemshire nun mit größtem Vergnügen fortsetzen wollen, wenn sie gestatten", hörte ich die Stimme eines Mannes, der damit meine sofortige Aufmerksamkeit erregte.
Der junger Mann schritt auf den großen, glänzenden Flügel zu und setzte sich mit einer geschmeidigen Bewegung vor das Klavier.
Er begann zu spielen und ich konnte nicht anders, als seine flinken Finger dabei zu beobachten, wie sie sanft über die Tasten glitten.
Es war beinahe hypnotisierend, ihm dabei zuzusehen.
Die Haltung seines Rückens, die Linie seines Halses - er strahlte solch eine Eleganz aus, dass es mich sprachlos werden ließ. Wenngleich die Züge der Pianistin und seine nicht das geringste gemeinsam hatten, waren sie sich doch in gewisser Form ähnlich. Es war das Gefühl, das in mir aufkam, wenn ich sie ansah. Es war das gleiche, wenn ich auch dem Mann etwas mehr davon, von der Faszination, entgegenbrachte.
"Wer ist dieser Mann?", fragte ich meine Schwester, die neben mir stand, während ich noch immer unfähig war, den Blick von ihm abzuwenden - ich war vollkommen gebannt.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie und folgte mit ihrem Blick ebenfalls seinen Fingern.
Als er das Stück beendet hatte, erhob er sich und seine Augen musterten die Menge, bis sie über mich glitten und dort verweilten.
Mein Herz zog sich zusammen, bevor es anschwoll und hüpfte, völlig überraschend, unberechenbar und ohne, dass ich etwas dagegen ausrichten konnte. Mir schien, als übte sein Blick eine magische Anziehungskraft auf mich aus, wie meiner auch auf ihn - ohne das geringste, auch nur minimalste Zögern oder Zweifeln gingen wir aufeinander zu, bis wir uns gegenüber standen.
"Mein Name ist Oliver Hemshire. Erfahre ich auch den ihren?", flüsterte er und lächelte charmant.
Der Name war mir vollkommen unbekannt. Dennoch bestand kein Zweifel darüber, dass er ein Gentleman mit einem beträchtlichen Einkommen sein musste. Allein sein Gesicht sah aus, wie ein aufwendig gearbeitetes Kunstwerk. Wer so schön war, musste reich sein.
"Liliane Ainsworth - sie befinden sich gerade im Hause meiner Familie", kicherte ich, während er zärtlich nach meiner Hand griff und einen sanften Kuss andeutete.
"Ein sehr schönes Haus". Er ließ seinen Blick über die mit Kronleuchtern bestückte Decke gleiten.
Der meine folgte ihm.
Derweil sah ich, wie Thelma elegant auf den Flügel zuschritt und hörte, wie sie nun zu spielen begann.
"Möchten sie tanzen, Miss Ainsworth?", fragte Mr. Hemshire und mir war, als würde mein Herz aussetzen.
Ich konnte nur nicken.
Wir tanzten eine Gavotte.
Und eine weitere.
So viele weitere, dass ich es irgendwann aufgegeben hatte, mitzuzählen.
Dabei sprachen wir über alles, was uns in den Sinn kam. Mr. Hemshire erzählte mir von seiner Kindheit in Nordengland und von seiner Schwester, Miss Annabelle.
"Meine Schwester ist die Dame, die uns, bevor ich mich dieser Aufgabe angenommen habe, mit ihrem Klavierspiel beglückt hat", erklärte er.
"Dann hoffe ich für sie auf eine schnelle Genesung. Sie spielt fabelhaft. Sie natürlich auch, Mr. Hemshire"
"Ich möchte ihnen meinen größten Dank ausdrücken". Er lächelte.
Dann fügte er mit gesenkter Stimme hinzu:"Und sie sind auch ganz und gar fabelhaft, Miss Ainsworth. Ich würde sie gerne wiedersehen. Am 20. Mai wird im King's Theatre in London eine Oper, L'odio e l'amore von Giovanni Bononcini aufgeführt. Würden sie mich vielleicht begleiten?"
Natürlich wollte ich ihn begleiten.
***
Die Oper war wundervoll, genauso wie Mr. Hemshire's Präsenz.
Er saß neben mir und obwohl wir uns in keinem Augenblick berührten, spürte ich seine Wärme.
In den lebhaften Momenten der Oper sah ich in seinen Augen, so blau wie der Himmel an einem sonnigen Frühlingstag, ein Funkeln.
Und in den stillen Momenten hörte ich seinen leisen, regelmäßigen Atem.
Nachdem Mr. Hemshire mich an dem Abend nach Hause brachte, schlief ich, mit einem Flattern in der Magengegend, ein und sein sanft gehauchtes:"Gute Nacht, Miss Ainsworth, ich danke ihnen für diesen wundervollen Abend", klang noch lange in meinen Ohren nach.
Doch, während ich in den Schlaf fand, verließ mich keine dieser Empfindungen. Sie waren wie Blumen, wunderschöne Rosen, die erst mit der traumhaften Besinnungslosigkeit erblüten. Ihre Blüten hauchten mir eine Vorstellungkraft ein, die mich sehen und spüren ließ, was ich wollte.
Einen Tanz, eine Hochzeit, ein Kuss. Zwei Leben verbunden zu einem, das auf ewig miteinander geteilt werden möge.
***
Am nächsten Morgen kam, gemeinsam mit der Zeitung der Schock ins Haus geflattert.
Mutter und Vater tobten, als sie diesen einen Artikel lasen - ein Aufdeckungsschreiben.
Über eine Affäre zwischen Mr. Anthony George und Miss Thelma Ainsworth, die während unzüchtiger Tätigkeiten entdeckt worden waren.
Eine kleine Welt brach im tausend Stücke.
"Niemand wird dich noch nehmen, Thelma! Bist du denn des Wahnsinns!? Wie kannst du es wagen, solch eine Schande in die Familie zu bringen!?", schrie Mutter. Thelma rechtfertigte sich nichteinmal. Sie weinte nur, bittere, lautlose Tränen. Meine Schwester, die Meisterin der Eleganz weinte und noch nie zuvor hatte ich sie so gesehen. Sie war am Boden zerstört.
Vater fügte hinzu:"Du hast deinen gesellschaftlichen Status zerstört, niedergerissen und uns reißt du einfach mit! Und nun haben wir mit den Trümmern zu kämpfen. Ich, deine Mutter und deine Schwester schaffen es vielleicht, uns davon zu befreien und unbefleckt davon zu kommen. Aber du, du Thelma. Du bist unter diesen Trümmern gestorben".
Erschrocken keuchte ich auf.
Meine Schwester sah Vater mit verquollenem Gesicht und glasigem Blick an.
Für einen Moment herrschte solch eine Stille, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Etwas in mir verkrampfte sich.
Dann hörte ich mich selbst sprechen, ohne vorher über meine, vor Fassungslosigkeit triefenden Worte nachzudenken:"Sie ist immernoch eure Tochter. Und meine Schwester. Sie hat einen Fehler gemacht, aber wir sind eine Familie. Ist das denn gar nichts wert?"
Zornig wandte Vater sich mir zu:"Thelmas Fehler hat sie um jeglichen Wert gebracht. Und, wenn du klug bist, Liliane, passt du auf, dass dir nicht auch ein Fehler unterläuft. Überlass das Reden darum lieber den Männern."
Ich war sauer, so sauer, dass ich das Feuer förmlich in mir spürte. Ich hatte es so satt, mir den Mund verbieten zu lassen. Doch gerade, als ich zu einer Erwiderung ansetzen wollte, rannte Thelma aus dem Haus und jeglicher Konter blieb mir im Halse stecken.
Und ich ließ zu, dass ich dran erstickte. Denn so war es in unserer Welt scheinbar: Man ließ die Frauen ersticken und niemanden störte es, solange sie dabei noch ein ansehnliches Aussehen bewahrten.
***
Ich wollte meiner Schwester die Zeit lassen, die sie brauchte. Unter keinen Umständen wollte ich sie bedrängen.
Doch, nachdem sie bereits seit einem ganzen Tag verschwunden war, begann meine Sorge um sie zu groß zu werden.
Ich suchte sie und fing bei Mr. George an. Er hatte sie nicht gesehen und bat mich harsch darum, sein Grundstück zu verlassen und es zukünftig nicht mehr aufzusuchen. Vielleicht war sein Wesen doch nicht so korrekt, wie ich geglaubt hatte.
Ich ging weiter zur kleinen Kirche, in der Thelma gerne ihre Zeit verbrachte und zum Markt. Keine Spur von ihr.
Anschließend fragte ich bei ihrer Freundin, Elinor, nach, ob sie sie gesehen hatte. Sie verneinte und jagte mich mit den Worten:"Wenn jemand mich mit deiner Familie in Verbindung bringt, zieht ihr mich vielleicht auch noch mit in den Dreck!", von ihrer Türschwelle.
Niedergeschlagen, jedoch in der Hoffnung, dass Thelma bereits wieder wohlbehalten Zuhause war, trat ich meinen Rückweg an. Ich ging einen kleinen Umweg durch den Wald, um ein paar Lupinen zu sammeln. Diese Pflanzen fand meine Schwester besonders schön, weshalb ich hoffte, sie damit vielleicht wieder ein bisschen glücklicher zu stimmen.
Und in Anbetracht dessen, was ich dort sah, schrie ich auf, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Ich fühlte, wie alles in mir zeriss - Mein Körper überlastet von dem schmerzlichen, verstörten Gefühl, das dieser Anblick auslöste.
Ich sah meine Schwester. Ihr Blick war leer und ihre schwachen Füße schwebten einige Zentimeter über dem dreckigen Boden. Ihre Arme, ebenso schwach, hingen schlaff an ihren Schultern herab und um ihren Hals wickelte sich eine Schlaufe.
Ihr Kopf war unnatürlich zur Seite gedreht.
Sie war tot.
Meine Schwester war tot. Und sie hatte es sich selbst angetan.
"Ich habe sie schreien hören, ist alles gut bei - ?", fragte Mr. Hemshire's Stimme, die plötzlich hinter mir auftauchte.
Er hielt inne, als er Thelmas Körper entdeckte.
Dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war. Als, hätte ein Windhauch ihn hinfort getragen.
Und ich sah ihn nie wieder.
Doch vergaß ich ihn nie und hörte nie auf, von ihm zu träumen - von uns zu träumen. Er hinterließ eine Leere und Erinnerungen. Nach einigen Jahren, verschwammen die Erinnerungen, sodass ich gar nicht mehr sicher war, ob es ihn wirklich gab, oder ob er nur ein Erzeugnis meiner Fantasie war. Er war fort gegangen und hatte Fragen und Geheimnisse hinterlassen. Wo war er? Warum hatte er mich allein gelassen? War ich ihm egal und falls ja, warum hatte er dann überhaupt begonnen, sich mir anzunähern? Was wollte er wirklich? War er nur eine Erscheinung? Wer war er?...
Unzählige Fragen, keine Antworten und dennoch ließ es mich niemals los - es war wie eine Plage.
Ich führte ein geplagtes Leben.
***
Derweil Liliane Ainsworth ein geplagtes Leben führte, erging es der Pianistin, Annabelle Hamshire - und dafür, dass dies ihr echter Name ist, gibt es keine Gewähr - gänzlich anders. Ihr Plan, die vorgetäuschte Ohnmacht, lief wie geschmiert. Er sorgte dafür, dass ihr Bruder für die Auserwählte, Liliane Ainsworth, wie ein Ritter in der Not erschien und sie somit schleunigst um den kleinen Finger wickelte.
Das war bei den Auserwählten stets ihr Ziel. Und, dass Annabelle auf diesem Ball mithilfe ihres besonderen Gehörs sogar noch von Thelma Ainsworths Affäre erfuhr und diese der Zeitung mitteilen konnte, war für sie noch ein Spaß obendrauf.
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