Kapitel 4
Es war einmal ein Ziel
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Fragend sehe ich mich im großen Gang um, die Stirn gekraust. Studenten laufen an mir vorbei, lachen und reden miteinander.
Ich befinde mich im zweiten Stockwerk, doch die Beschilderung ist ein wenig unübersichtlich. Gemälde verschiedener Künstler hängen an den weißen Wänden und an vereinzelten Bereichen stehen Blumen in Vasen.
Auf dem Zettel, den ich aus der Tasche herausgekramt habe, steht, dass ich zu Gebäude D Saal fünf muss, allerdings erweist sich dieses Vorhaben ein wenig schwierig, da ich nicht einmal weiß, in welchem Gebäude ich mich gerade befinde.
Müsste ich raten, würde ich Gebäude A, also das Hauptgebäude, sagen.
Ein Blick auf die Uhr an der Wand zeigt zehn vor acht an. Ich habe wenig Lust, gleich an meinem ersten Tag zu spät zur Vorlesung zu erscheinen.
Plötzlich trifft mich etwas Hartes mit Schwung am Kopf und reißt mich zu Boden, da ich über meine eigenen Füße stolpere. Verwirrt hebe ich mir mit einer Hand den Kopf.
,,Atkinson! Das hat Konsequenzen, das können Sie mir glauben!", schreit eine weibliche Stimme und die Studenten im Gang drehen sich zu jener Person, welche mit klackenden Schuhen den Gang entlang geht und mahnend den Finger hebt.
Ihre Kleidung besteht aus einem engen, schwarzen Rock und einer hellblauen Bluse. Ihre blonden Haare, welche vereinzelt von grauen Strähnen geziert werden, hat sie sich zu einem strengen Dutt nach hinten gebunden.
Böse funkeln ihre blauen Augen einen jungen Mann an, der lachend mit zwei anderen Kerlen den Gang entlang rennt.
,,Ihnen auch einen wunderschönen Tag, Mrs. Campbell", erklingt es scherzend neben mir und ich sehe hinauf zu einem gutaussehenden Jungen, der flink einen Football, welcher neben mir liegt, aufhebt. Sein dunkelblondes Haar ist nach hinten gekämmt und zeigt keinen Makel.
Er wirft mir kurz einen Blick aus seinen stahlgrauen Augen zu und lächelt mich verwegen an, dann setzt er seinen Weg fort und lässt mich perplex auf dem Boden zurück. So ein Arsch.
Mit einem roten Gesicht stehe ich vom Boden auf und hebe meine Tasche und den Zettel auf. Eigentlich habe ich mir den Beginn meines ersten Uni-Tages anders vorgestellt.
,,Geht es Ihnen gut, Miss?" Die ältere Frau, welche Momente zuvor noch den Jungen angeschrien hat, steht nun mit einem besorgten Gesicht vor mir. Sie trägt ein frisches Parfüm.
,,Oh, ja, nichts passiert", gebe ich leise von mir, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit der anderen auf mich zu ziehen, die ihren Weg nach und nach fortsetzen.
Die ältere Frau - oder Mrs. Campbell - mustert mich prüfend, dann formen ihre roten Lippen ein sanftes Lächeln.
,,Ich bin Mrs. Campbell, sind Sie neu hier?" Ihr Blick landet auf dem Zettel mit den Informationen, den ich in den Händen halte.
,,Heute ist mein erster Tag. Ich suche Gebäude D Saal fünf, können Sie mir bitte helfen?" Sie nickt freundlich und rückt sich ihre Brille zurecht.
,,Gehen Sie den Gang entlang und biegen Sie links ab, dann kommt ein Gang aus Fenstern, welcher Sie in Gebäude D führt. Die Säle sind nummeriert. Sie müssen in den ersten Stock."
,,Vielen Dank."
,,Falls Sie Atkinson erneut stören sollte, zögern Sie nicht, mir diesbezüglich Bescheid zu geben. Dieser Junge muss noch seine Manieren auffrischen", sagt sie, bevor sie sich verabschiedet und mit einem aufrechten Gang den Flur durchquert.
Das Klacken ihrer Absätze hallt im Gang wieder.
Meine Augen weiten sich vor Schreck, als ich feststelle, dass es nur noch zwei Minuten sind, bis die Vorlesung beginnt. Also renne ich los und versuche mich an Mrs. Campbells Beschreibung zu halten, was bisher gut funktioniert.
Ich laufe, im Gebäude D angekommen, die Treppe hinunter ins erste Stockwerk und laufe an den Sälen vorbei, die außen ein Schild mit einer Nummer stehen haben.
Drei, vier und fünf! Schnell gehe ich zur Tür, welche gerade jemand schließen möchte. Mit einer gehobenen Augenbraue sieht mich der Mann mit dem grauen Bart an, lässt mich aber in den Saal treten, welcher riesig ist. Mindestens hundert Plätze sind hier in mehreren Reihen aufgeführt und Studenten sitzen auf ihren Plätzen und unterhalten sich miteinander.
Immerhin schenken sie mir keine besondere Aufmerksamkeit.
Außer Atem laufe ich ein paar Stufen nach oben zu der ersten Reihe, die freie Plätze hat und setze mich leise an den Tisch, der wie der Stuhl aus Holz ist. Meine Tasche stelle ich neben mir ab.
,,Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten." Der Mann mit dem grauen Bart steht vorne am Pult und sieht die Studenten und mich ernst an. Er trägt einen eleganten, schwarzen Anzug mit einer roten Krawatte und sogar seine dunklen Schuhe glänzen. Seine Miene ist ernst und lässt nicht viel Spielraum für Emotionen oder Gefühle. Unter seinen Augen liegen kleine Falten.
Ich hole meine Schreibunterlagen aus der Tasche und lege sie vor mich auf den hölzernen Tisch. Nervös falte ich meine Hände im Schoß und versuche, mich zu beruhigen. Ich wippe mit meinem Fuß, nicht in der Lage, die Nervosität in eine Kiste zu sperren, mit dutzenden Schlössern zu verriegeln und in eine hintere Ecke zu werfen.
Meine Gedanken kreisen um alles Mögliche, was mir die Situation nicht gerade erleichtert.
Es kommt mir so unwirklich vor, endlich im Saal zu sitzen, um mein Medizinstudium zu beginnen. Hätte mir jemand vor zwei Jahren erzählt, dass ich nach der Schule den Test für medizinische Studiengänge beim zweiten Mal bestehen und daraufhin in Washington studieren würde, hätte ich die Person für verrückt gehalten.
Doch jetzt sitze ich hier und beginne mein Studium. Vor Aufregung könnte ich platzen.
,,Hiermit heiße ich Sie zu Ihrer ersten Vorlesung im Studiengang Humanmedizin willkommen. Ihnen wird Einiges abverlangt werden und die nächsten vier Jahre werden keinesfalls einfach, doch rate ich Ihnen, Ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Am Ende wird sich die harte Arbeit, für die sie Mühe, Zeit und Energie investieren, gelohnt haben." Er räuspert sich und rückt seine Krawatte zurecht.
,,Nun denn, beginnen wir mit der Vorlesung."
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Nach den drei Vorlesungen schlendere ich gemütlich durch die Gänge.
Mein neuer Block ist bereits mit Themen wie Zelle, Zellzyklus und anderem Kram gefüllt worden und auch wenn ich zwischen acht und dreizehn Uhr drei Vorlesungen beigewohnt bin, so ist die Zeit wie im Flug vergangen. Akribisch habe ich mir Notizen gemacht und den Worten der Dozenten gelauscht, welche die unterschiedlichsten Dinge gelehrt haben.
Ich möchte gerade am Sekretariat, welches sich im Gebäude A zweiter Stock befindet, vorbeigehen, als mir ein kleines, buntes Plakat ins Auge sticht. Neugierig sehe ich es mir genauer an. Es handelt sich um eine Einladung in den Theater Club, von welchem Dad mir gestern erzählt hat.
Gelbe Sterne heben sich vom blauen Papier ab. Bis Freitag diese Woche habe ich Zeit, um mich für den Club einzutragen, doch Zweifel kratzen an meinem Selbstbewusstsein. Schon länger bin ich nicht mehr vor Leuten aufgetreten. Vielleicht kann ich es seit dem Vorfall auch gar nicht mehr.
Es stehen bereits zweiundzwanzig Namen auf der Liste, zwar mehr Mädchen als Jungs, doch das ist bei solchen Aktivitäten meistens der Fall.
Unschlüssig, ob ich mich eintragen soll oder nicht, beschließe ich, darüber noch ein wenig nachzudenken und setze meinen Weg fort.
Immerhin habe ich bis Freitag für eine Entscheidung Zeit.
Den Ausgang finde ich relativ schnell und bahne mir einen Weg durch die Menge, welche sich auf dem Hof der Universität befindet. Autos parken aus, Studenten verabschieden sich oder laufen gemeinsam durch das große Tor.
Der Hof wird von Bäumen geschmückt und Holzbänke stehen an verschiedenen Bereichen. Hinter der Universität befindet sich ein großer Sportplatz, den ich aus einem Fenster heraus gesehen habe. Dort würde man mich jedoch nicht oft antreffen, eher gar nicht.
Gegenüber der Universität reihen sich Studentenwohnheime an, kleine Läden, sowie Bäckereien. Wenn man das Essen in der Cafeteria nicht bevorzugt, so hätte man genug andere Möglichkeiten.
Es ist ziemlich praktisch, direkt gegenüber der Uni zu wohnen.
Ich laufe zu meinem Fahrrad und öffne das Schloss, woraufhin ich es in meine Tasche fallen lasse, die ich nun in den Korb lege. Kurz schaue ich mich um, dann steige ich auf und fahre los.
Inzwischen hat sich meine Aufregung ein wenig gelegt und mein Herz schlägt in einem ruhigen Rhythmus.
Meine offenen Haare werden vom Wind erffast und fliegen mir vereinzelt ins Gesicht, weshalb ich mir mehrmals mit der Hand die Haare zur Seite streiche.
Ich fahre an einer Gruppe Jungs vorbei und erkenne den Jungen von vorher wieder. In seinem Polo Hemd wirkt er wie ein arroganter Schnösel, dem alles immer mit Kusshand zugeworfen wird.
Wer kommt bitte auf die geniale Idee, Football im Gang zu spielen?
Nur ein Idiot, beantworte ich mir die Frage selber.
Sein Blick findet zu meinem, aber dieses Mal lächelt er mich nicht an.
Bilde ich es mir ein oder sieht er mich gar genervt an?
Ich wende meinen Blick von ihm ab und fahre durch das Tor auf die Straße. Mal abgesehen von den interessanten Vorlesungenen, ist mein erster Tag ein wenig seltsam verlaufen. Erst das Mädchen, welches absichtlich vor mein Fahrrad gelaufen ist und dann der Junge, dem eines seiner Hobbys der Football ist. Ein Schmunzeln legt sich auf meine Lippen.
Für den ersten Tag ist es ein guter Anfang gewesen. Jedoch weiß ich nicht so recht, wie ich mich bei anderen verhalten soll. Damit meine ich nicht Dozenten, sondern die Studenten. Daran muss ich noch ein wenig arbeiten, auch wenn ich kein Interesse an Freundschaften habe. Ich möchte aber auch keine Außenseiterin sein.
Weiß ich überhaupt, wer ich sein möchte?
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