Valerie - Kapitel 79

„Können Sie einschlafen?" Ich nicke nur und warte darauf, dass die Schwestern sich endlich aus meinem Zimmer verpissen. Silas ist seit einer halben Stunde weg, und ich will endlich wissen, wie es gelaufen ist. Mr. Reynolds hat sofort einen viel besseren Eindruck auf mich gemacht als all die anderen Psychologen, die ich bisher getroffen habe, und irgendwas sagt mir, dass Silas bei ihm wirklich gut aufgehoben ist.

Seufzend lasse ich mich in die weichen Kissen zurückfallen und fange an, vor lauter Langeweile Löcher in die Wand zu starren. Kleine Tropfen ticken im Sekundentakt gegen die Fensterscheibe, und irgendwas in mir ist erleichtert darüber, dass Sid, Silas und ich wenigstens den Regen nicht noch draußen miterlebt haben. Sid hat mir eben eine Nachricht geschickt, dass er nach Hause gegangen ist, da die Besuchszeit ja eigentlich schon längstens vorbei ist, und er somit nicht mehr zu uns kommen durfte.

Das letzte Pflaster des EKG's wird gesetzt, und die Schwester lächelt mich an. „Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Nacht." Mit diesen Worten verschwindet sie mit ihrer Kollegin endlich aus dem Zimmer, und ich seufze erleichtert auf. Das Bett neben mir wurde tatsächlich für Silas hergerichtet, und jetzt warte ich eigentlich nur noch darauf, dass er endlich fertig ist und ins Zimmer kommt.

Mein Blick bleibt an einer Laterne hängen, die ihr Bestes gibt, um die dunkle Nacht etwas erträglicher zu machen. Ein Blick auf meinen Wecker verrät mir, dass es schon drei Uhr ist, und instinktiv entfährt mir ein lauter Gähner.

„Na das klang wirklich sexy."

Mit einem verschmitzten Grinsen betritt Silas das Zimmer, und ich sehe ihm an, dass eine kleine Last von seinen Schultern gefallen ist. Ich lächle breit, setze mich auf und klopfe dann auf mein Bett. Silas kommt her und setzt sich vor mich, und eine Weile starren wir uns nur an. „Wie ist's gelaufen?" frage ich dann leise, und trotzdem zerreißt meine Stimme die Stille um uns herum fast.

„Besser als erwartet" sagt Silas, und räuspert sich kurz. „Ich glaube, Mr. Reynolds ist nicht wie jeder andere Therapeut. Er ist nicht einer dieser „Ich verschreibe dir was und dann geht's dir schon besser" Therapeuten, er scheint sich wirklich für die Anliegen seiner Patienten zu interessieren. Er hat mir zugehört, nachgefragt, mir irgendwie das Umfeld gegeben, das ich gebraucht habe. Es war von Anfang an eine Art Vertrauensbasis da."

Ich lächle breit und schliesse Silas kurzerhand in die Arme. „Das freut mich wirklich" murmle ich in seinen Pulli rein, und spüre, wie Silas zuerst etwas zögerlich seine Arme um mich legt, mich dann aber an sich drückt. „Valy?" Ich nicke und löse mich etwas von Silas, welcher mich mit einem unergründlichen Blick mustert. „Es tut mir leid was die letzten Stunden passiert ist" sagt er dann leise, und schluckt. Ich will anfangen zu sprechen, doch er hält die Hand hoch und signalisiert mir so, ihn weitersprechen zu lassen.

„Ich glaube, ich habe euch alle, vor allem aber dich und Sid durch die Hölle gehen lassen. Naja, gewissermaßen bin ich ja selbst auch durch die Hölle gegangen. Aber ich habe nicht an euch gedacht. Es war mir egal, ich wollte einfach nur, dass meine Schuldgefühle mich endlich in Ruhe lassen. Dass ich niemanden mehr verletzen kann, und das ginge nur, wenn ich jeden von mir abstoße. Dachte ich zumindest. Als du auf dem Dach erschienen bist habe ich für einen kurzen Moment darüber nachgedacht, vor deinen Augen zu springen, damit du realisierst, dass ich hoffnungslos bin. Aber dann hast du angefangen zu sprechen, und... ich konnte nicht. Ich konnte es einfach nicht. Erst als du mich dann umarmt hast habe ich angefangen darüber nachzudenken, wie es wohl für euch war. Und ich bin zum Schluss gekommen, dass es mindestens so schlimm gewesen sein muss, einem Menschen hilflos dabei zuzusehen, wie er sich langsam selbst zerstört und vor einem zerbricht. Keiner hat diese Erfahrung verdient, und ich habe dir angesehen, wie sehr du gelitten hast. Und deshalb möchte ich mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass du wegen mir sowas miterleben musstest."

Ich schlucke und schaue Silas eine Weile sprachlos an, ehe ich mit dem Daumen vorsichtig über seine Wange fahre. Kleine Tränen haben sich in meinen Augen gebildet, doch mein Lächeln macht sie wett. „Entschuldigung angenommen" flüstere ich mit brüchiger Stimme, und schlucke. „Es war wirklich schlimm. Aber es ist vorbei, okay? Du bist noch am Leben, und das ist alles was ich im Moment will. Du bist alles, was ich im Moment will."

Silas lächelt ebenfalls, und wischt mir eine kleine Träne weg. Dann schaut er mich lange einfach nur an, und ich merke, wie mir bei jeder Sekunde die Röte mehr ins Gesicht steigt. Ich wurde noch nie einfach so angestarrt. „Darf ich dich um was bitten?" fragt Silas dann flüsternd, und ich nicke leicht. „Also ich... naja, das hört sich vielleicht sehr dumm an" fängt Silas an rumzudrucksen, und ich hebe eine Augenbraue. Daraufhin grinst er nur unsicher und beißt sich dann auf die Unterlippe.

„Bitte lass mich nicht alleine" sagt er dann so schnell, dass es eine Weile dauert, bis mein Hirn den Satz völlig verarbeitet hat. Ein Lächeln verirrt sich auf meine Lippen, und ich schmunzle. „Silas Garcia. Ich sehe weit und breit keinen Grund, dich auch nur annähernd alleine zu lassen. Ich habe geschworen mich an deine Fersen zu heften, und das werde ich auch halten. Also nein... ich werde dich nicht alleine lassen. Aber nur, wenn du mir versprichst, dass wir ab jetzt immer offen miteinander umgehen, okay?"

Silas sieht mich an als wäre ich der größte Lotteriegewinn, und so grinst er auch. Dann nickt er leicht und sieht mich direkt an. „Ich verspreche es. Aber dann muss ich dir jetzt noch was erzählen." Gespannt nicke ich, bin jedoch trotzdem etwas überrascht, als Silas sich einfach hinlegt und einen Arm von sich streckt. Sofort lege ich mich auf seine Brust und spüre eine Sekunde später, wie seine vertraute Wärme mich einhüllt und mein Herz schneller schlagen lässt.

„Die Schwester eben im Eingang" fängt er an, und ich erinnere mich an seine kleine Panikattacke, als wir ins Krankenhaus zurückgekehrt sind. „Ich kenne sie. Sie war die beste Freundin meiner Mutter, oder hat jedenfalls so getan, als ob. Sie war der Ursprung dafür, dass meine Mutter mit so viel zu kämpfen hatte. Sie hat Mom immer wieder hinter ihrem Rücken verarscht und abgezockt, ihr das Leben zur Hölle gemacht. Sie war immer eifersüchtig auf ihr Leben. Als Mom verstarb, wollte sie Leo und mich von zu Hause wegholen und uns in ein Heim stecken. Sie hat mir die Schuld an Moms Tod gegeben und mir eingeredet, dass ich egoistisch war. Dass sie sich wegen mir umgebracht hat. Es tat weh, so unglaublich weh, und ich war so verletzt, dass ich Marina geglaubt habe. Sie hat Genugtuung an meinen Schuldgefühlen gefunden und mich weiterhin tyrannisiert mit banalen Anschuldigungen, aber ich dachte sie hätte es ja wissen müssen, sie war ja die beste Freundin meiner Mutter. Also habe ich ihr alles geglaubt, solange sie Leo in Ruhe ließ. Sie hat oft vor Dad vorgegeben, auf uns aufzupassen, doch als Dad weg war, hat sie damit gedroht mir Leona wegzunehmen. Sie hat mich alles machen lassen, was man machen musste. Damals wollte keiner Dad was sagen, weil er immer noch so wegen Mom litt. Irgendwann ist Dad jedoch reingeplatzt, weil er Leo hat schreien hören."

Silas' Stimme zittert, und ich umfasse seine Hände um ihm so zu vermitteln, dass er nicht alleine ist. Dass ich da bin, dass er mir vertrauen kann. Mein Mund ist vor Schock geöffnet, und meine Augen verlassen kleine Tränen. „Das ist schrecklich" flüstere ich, und sehe, wie meine Tränen auf Silas' Pulli einen dunklen Fleck hinterlassen. „Ja, das war es wirklich" murmelt Silas, und räuspert sich leise.

„Dad hat Marina rausgeworfen und mit Hilfe der Polizei veranlasst, dass sie sich uns nicht mehr nähern darf. Dass sie noch immer hier arbeitet, wusste ich nicht. Ich wäre niemals auch nur in die Nähe dieses Krankenhauses gekommen." Ich drehe mit meinem Daumen kleine Kreise auf Silas' Handrücken und versuche mir vorzustellen, wie schlimm das für einen fünfzehnjährigen Jungen gewesen sein muss, zuerst seine Mutter zu verlieren, und dann auch noch dafür bestraft zu werden. Dafür beschuldigt zu werden, obwohl keiner bei einem Suizid Schuld trägt.

Eine unglaubliche Wut auf diese Frau kriecht in mir hoch, und ich würde ihr so gerne meine Meinung sagen. Wie kann ein Mensch nur so viel Hass in sich tragen, um Kindern sowas anzutun? Um Kinder, die erst gerade durch eine schreckliche Art und Weise ihre Mutter verloren haben, noch mehr leiden zu lassen? Und wie kann einem Vater sowas nicht auffallen? Wie kann einem liebenden Familienvater nicht auffallen, dass seine Kinder geschlagen und beschuldigt werden für etwas, was sie nicht getan haben?

Wie?

„Valy?" Ich vernehme Silas' dunkle Stimme über mir, und blicke etwas hoch. „Ja?" Silas löst eine Hand aus meiner und streicht mir mit dem Daumen eine Träne weg. „Ich spüre, dass du wütend bist" murmelt er, und ich schlucke. „Ich bin nicht wütend. Ich bin verdammt wütend" sage ich, und versuche meine Stimme so ruhig wie möglich zu halten. Silas schmunzelt etwas und platziert dann einen Kuss auf meinem Kopf.

„Du musst nicht mehr wütend sein. Marina wird mich und alle anderen in Ruhe lassen, sonst wartet die Polizei auf sie. Vertrau mir, es ist okay. Solange ich die Frau nicht nochmal sehen muss, ist alles okay." Ich nicke leicht und versuche, meine Wut wieder etwas zu bändigen, war gar nicht mal so leicht ist. „Ich verstehe es einfach nicht" sage ich deshalb nach ein paar Minuten, und seufze.

„Ich verstehe nicht, wie man sowas tun kann, ohne sich schuldig zu fühlen. Ohne Mitleid zu haben." Silas sagt eine Weile nichts, und ich spüre nur seinen ruhigen Atem. „Weißt du Valy, nicht jeder der dir begegnet will was Gutes für dich. Manche wollend ich leiden sehen, aus Neid oder Hass, manchmal auch aus Trauer. Viele Menschen sind nicht das, wofür sie sich ausgeben. Es gibt viele falsche Leute auf dieser Welt, und ich bin froh, nicht einer von ihnen zu sein."

Ich schlucke und denke eine Weile über Silas' Worte nach. Es stimmt, nicht jeder gönnt dir was du hast. Wahre Freunde findet man nicht so leicht, und wenn man sie hat, sollte man sie unter keinen Umständen gehen lassen. Niemals.

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„Du bist müde." Ich schmunzle und starre an die Decke. „Du auch." Silas' leises Lachen dringt zu mir durch, und ich schaue rüber zu seinem Bett, in das er sich mittlerweile gelegt hat. Es ist jetzt gegen halb sechs Uhr morgens, und keiner von uns hat wirklich geschlafen. Wir haben lange geredet, aber auch viel geschwiegen, und beides war irgendwie genau richtig. Es war notwendig, mal in Ruhe und langsam über alles zu sprechen. Zu versuchen, den anderen zu verstehen und sich in seine Situationen zu versetzen.

„Wir sollten vielleicht mal schlafen" schlage ich leise vor, und Silas dreht sich zu mir. „Ich kann aber nicht." Eine Weile starren wir uns von Bett zu Bett nur an, ehe ich mich seufzend aufsetze. „Es ist zu eng." Silas setzt sich ebenfalls auf und streckt die Beine von sich. „Wenn wir nebeneinander liegen schon." Ich hebe eine Augenbraue und beiße mir kurz auf die Unterlippe.

„Aber eben ging's auch ganz gut."

„Bin ich nicht zu schwer?"

Jetzt sieht Silas mich mit einem „Ist das dein Ernst" Blick an, und seufzt. „Valerie, du bist definitiv nicht zu schwer." Ich schaue Silas zweifelnd an, bis dieser einfach aufsteht, sich neben mich auf mein Bett quetscht und mich dann an sich zieht. „Siehst du? Geht doch. Und jetzt Augen zu."

Ich schmunzle und lege meinen Kopf wie eben auf Silas' Brust ab, was mich sofort entspannen lässt. Ich spüre wie seine Hand auf meinem Kopf ruht, und er ab und zu mit ein paar Haarsträhnen spielt, während seine Brust sich regelmäßig hebt und senkt. Im Gegensatz zu meinem Herzen ist seines soweit ruhig, während meines fast aus meiner Brust hüpft.

„Ich sagte Augen zu" murrt Silas plötzlich, und ich schmunzle. „Okay, okay, gute Nacht." Lächelnd schliesse ich die Augen und merke, wie ich wenig später tatsächlich endlich in einen traumlosen Schlaf abdrifte.

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Wie würdet ihr reagieren, wenn euer Freund euch von einer Frau wie Marina erzählen würde?

Und omg... ich liebe dieses Band zwischen Valy und Silas *-*

- Xo, Zebisthoughts

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