Valerie - Kapitel 67
Nate ist nicht mehr lange in der Küche geblieben, und auch miteinander gesprochen haben wir nicht mehr wirklich. Jetzt gerade liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke, tief in meinen Gedanken an was sich jetzt alles ändern wird versunken. Seit ich von zu Hause weggelaufen bin sind mittlerweile einige Stunden vergangen, und ich habe vor ein paar Minuten erst mein Handy wieder an mein Ladekabel gehängt, mehr oder weniger vorbereitet auf die vielen Nachrichten meiner Freunde und meiner Tante.
Tatsächlich fängt mein Handy in dem Moment an zu summen, in dem es wieder funktionsfähig ist, und ich schliesse kurz meine Augen. Etwas genervt und nervös rolle ich mich langsam auf den Bauch, schnappe mir mein Handy mitsamt dem Ladekabel und aktiviere fast vorsichtig den Bildschirm.
Viele Nachrichten sind immer noch dabei anzukommen, weshalb ich vorerst nicht abschätzen kann, wie viele ich erhalten habe. Doch auf den ersten Blick sehe ich sofort, dass es viele sind. Ich schalte mein Handy wieder aus, lege es neben mir hin und warte darauf, dass das Summen endlich aufhört. Dabei schliesse ich abermals die Augen, wodurch meine Gedanken automatisch zu Nate zurückkehren.
Ich weiss nicht so recht, was ich von ihm halten soll. Er scheint, wie er schon gesagt hat, nicht wirklich viel mit den Gefühlen anderer und seinen eigenen anfangen zu können, wodurch er vorerst eher desinteressiert und abwesend rüberkommt. Aber dass er heute Morgen nach keinen fünf Minuten erkannt hat, wie es mir geht, beweist mir das Gegenteil.
Ich denke, er hat Schwierigkeiten damit, Gefühle zu zeigen und sie zuzulassen, sich auf Gefühle anderer einzulassen. Ich hege den Verdacht, dass er Angst hat, verletzt zu werden, jedenfalls kann ich das aus seiner Vergangenheit heraus schließen. Er selbst hat noch kein Wort darüber verloren, was ich ja irgendwie auch verstehe. Wir kennen uns kaum, ich würde ihm auch nicht direkt die dunkelsten Seiten meines Lebens auftischen.
Seufzend rapple ich mich etwas auf, da das Summen meines Handys wohl noch eine Weile so weitergehen wird, und laufe zum Fenster. Die Gegend hier ist wirklich noch viel wohlhabender als das Quartier in dem ich eigentlich wohne, doch wirklich einen Unterschied mache ich da nicht. Mir ist es egal, wie viel Geld jemand hat, wenn er nur nett zu mir ist.
„Summt dein Handy immer so?"
Erschrocken fahre ich herum und entdecke Nate, der mit einer gehobenen Augenbraue wie aus dem nichts mitten in meinem Zimmer steht und mein Handy argwöhnisch betrachtet. „Ähm, naja, ich hab' es seit gestern nicht mehr geladen und somit auch keine Nachrichten erhalten" stammle ich leise, und sehe den kleinen Anflug eines Lächelns auf Nates Gesicht.
„Du bist abgehauen, oder?" Ich nicke langsam und prüfe Nates Gesicht genau. „Ja" bestätige ich noch leise, und Nate seufzt. „Wieso?" Ich schüttle nur den Kopf und schaue wieder raus. „Es sind einige Dinge passiert, die ich auf Dauer einfach nicht mehr ausgehalten hätte. Ich brauche eine Pause." Da ich Nate nicht mehr sehen kann, weiss ich nicht, wie er reagiert, doch ich höre, dass er sich auf mein Bett setzt.
Eine Weile schweigen wir beide, und ich schaue lustlos raus in der Hoffnung, dass ich dabei nicht allzu komisch aussehe. Ein kleines Räuspern erfüllt den Raum, und ich schlucke. „Da scheint dich jemand wirklich zu vermissen" murmelt Nate plötzlich, und ich drehe mich ruckartig zu ihm. Mein Halbbruder sitzt mit meinem Handy in seiner Hand auf meinem Bett und scheint gerade all die Nachrichten zu lesen, die ich bekommen habe.
„Wer hat dir erlaubt das zu lesen?" frage ich überrascht, aber nicht wirklich wütend. Ich habe keine verbotenen Kontakte. „Na wenn du es nicht tust, muss es ja jemand tun." Ich seufze und setze mich ebenfalls auf mein Bett. „Ist Silas dein Freund?" Bei Silas' Namen spüre ich einen kleinen Stich im Herzen, ehe ich nicke. „Ja" sage ich nur mit einer etwas belegten Stimme, und reibe meine Hände aneinander.
„Aber ich will gerade nicht mit ihm reden oder sonst was von ihm hören. Ich muss zuerst mit mir selbst klarkommen." Nate sieht mich mit gerunzelter Stirn an und seufzt dann. „Na wenn du meinst" sagt er nur, legt mein Handy weg und streckt sich auf dem Bett aus. „Echt bequemes Teil hast du da" stellt er nach einigen Sekunden fest, und scheint mein Bett damit zu meinen. Ich lache leise auf und nicke dann. „Ja, da hast du Recht."
Wir schweigen lange, und irgendwann lege ich mich neben Nate, da mir die Sitzposition etwas zu unangenehm wurde. „Bist du eigentlich nicht wütend?" fragt Nate irgendwann, und ich runzle die Stirn. „Wieso denn?" Nate zuckt mit den Schultern und sieht mich dann aus dem Augenwinkel heraus an. „Naja, wegen Mom und Will" sagt er dann, und starrt wieder an die Decke hoch. Ich überlege lange, wie ich meine Gefühle am besten beschreiben sollte, was sich gar nicht als so leicht herausstellt.
„Ich war lange wütend" fange ich dann endlich an, und spüre sofort, dass Nates volle Aufmerksamkeit mir gilt. „Ich habe mich so oft gefragt – warum? Warum ich? Und was war das Problem? War ich nicht gut genug oder so? Oder lag es an ihnen? Waren sie etwa krank? All diese Fragen habe ich mir immer wieder gestellt, und bei jedem Mal wurde ich etwas wütender, weil ich dachte, nie Antworten zu erhalten. Meine Eltern haben sich kein einziges Mal bei mir gemeldet, sie hätten genauso gut tot sein können. Ich hätte es nicht mal gemerkt. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt, nicht mit meinen leiblichen Eltern aufzuwachsen. Ich habe eine neue Familie bekommen, die ich über alles liebe. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich wohl nie jemandem Mom oder Dad nennen würde, und irgendwann war es mir fast egal. Ich habe tolle und schlechte Dinge erlebt und überstanden, Erinnerungen ohne meine Eltern erschaffen. Und dann lag da plötzlich dieser Brief."
Ich schlucke und lache bitter. „Du kannst dir glaube ich nicht vorstellen, wie wütend ich war. Wütend darüber, dass sie dachten ich würde ihnen nach dreizehn Jahren lachend in die Arme laufen und alles vergessen. Ich habe mir geschworen, nie auf den Brief zu reagieren und meine Eltern komplett zu ignorieren. Und dann stand ich hier vor der Türe."
Nate sieht mich nachdenklich an, während ich wieder mal nach den richtigen Worten suche. „Ich dachte mir, dass ich eh nicht klingeln würde. Und dann stand Dad plötzlich in der Türe, und als er mich zuerst nicht erkannt hat dachte ich, ich könnte mich mit einer Ausrede aus der Situation retten, aber dann kam Mom..."
„... und hat dich sofort erkannt, nicht?" Ich nicke lächelnd und schaue an die Decke. „In dem Moment, in dem ich die Augen meiner Eltern gesehen habe, war irgendwie alles weg. Ich war nicht mehr wütend. Ich war froh. So unglaublich froh meine Eltern zu sehen, während ich jahrelang dachte, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Es war überwältigend, und ich realisiere es immer noch nicht wirklich."
Nate sagt lange Zeit nichts, und starrt mich weiterhin nur an. „Ich glaube, du hast Mom sehr glücklich gemacht" sagt er dann irgendwann doch leise, und ich lächle. „Ich hoffe es" murmle ich, und seufze. Dann setze ich mich auf, greife nach meinem Handy und entsperre den Bildschirm. „Ich weiss, dass du nicht gut mit Gefühlen umgehen kannst" fange ich leise an, und spüre Nates Blick auf mir. „Aber würdest du einfach bei mir sein?"
Für einen kurzen Moment sagt keiner was, und ich hoffe, dass ich nicht zu weit gegangen bin. Ich weiss nicht mal ein bisschen, wie ernst Nate manche Sachen nimmt, weshalb ich so vorsichtig wie möglich versuche, mich langsam an ihn heranzutasten. „Ich bin da" murmelt Nate langsam, und setzt sich neben mich, mit seinem Blick auf meinem Bildschirm. Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen, und ich drücke auf das Icon von WhatsApp, um den ersten Chat zu öffnen. Silas.
Silas: Wo bist du?
Silas: Okay... ich weiss jetzt wo du bist. Auch wenn der Typ es geleugnet hat, entweder wusste er noch nichts von dir oder hat dich geschützt. Valy, bitte, lass uns reden. Hör auf wegzulaufen und lass mich und unsere Freunde dir helfen. Wir wollen doch alle nur, dass es dir gut geht. Dass du glücklich sein kannst, dich und dein Leben lieben kannst. Aber das geht nicht, wenn du uns von dir stößt. Wenn du wegläufst. Du kannst dich nicht alleine da rausziehen, das weißt du. Valy ich liebe dich, wirklich. Du hast mein Leben verändert und ich bin dir so unglaublich dankbar dafür. Aber ich werde immer ehrlich zu dir sein, und genau deshalb werde ich nicht einfach schönreden und ignorieren, wie es dir geht, auch wenn du das nicht willst.
Sidney: Okay, ich bin eigentlich als Held und Spaßvogel bekannt, aber ich darf auch mal ernst sein, und das werde ich jetzt. Ich habe dich kennengelernt als du gerade mal einen geraden, grammatikalisch soweit richtigen Satz sagen konntest, und du warst so stolz drauf. Du hast immer ein Lächeln auf den Lippen getragen, welches die Leute um dich rum hypnotisiert hat. Du hast immer alle aufgemuntert und Stimmung mitgebracht. Als ich das erste Mal hörte, dass es dir nicht gut geht, dass dir dein Herz gebrochen wurde, brach mein eigenes Herz auch etwas, denn sowas hattest vor allem du nicht verdient. Du warst immer so aufgestellt. Man musste dich einfach lieben. Als ihr hergezogen seid habe ich mir vorgenommen, gut auf dich und Josh aufzupassen. Bisher glaubte ich, meinen Job ganz gut erledigt zu haben – und dann wurdest du wieder dünner. Dein Lächeln und das Leuchten in deinen Augen verschwanden wieder, und du warst nicht mehr glücklich, auch wenn du es uns immer vorgespielt hast. Und es hat mir erneut das Herz gebrochen, dich so zu sehen. Und ob du willst oder nicht, ich werde alles daransetzen, dass du wieder glücklich willst. Ich mag die glückliche Valerie nämlich mehr als die unglückliche ;)
PS: Ich hoffe du kannst dir bei deinen Eltern die Pause holen, die du brauchst. Aber bitte stoße Silas nicht von dir weg. Er braucht dich genauso wie dich.
Ich schlucke schwer und atme kurz tief ein und aus, ehe ich den Chat wieder verlasse und mir fest vornehme, Sid später zu antworten. Seine Nachricht hat mich wirklich berührt, und ich frage mich, wie oft Sidney Hall wirklich so ernst ist. Die restlichen Nachrichten bestehen nur aus Sätzen wie „wir vermissen dich hier", „hoffentlich geht es dir gut" und „bitte melde dich irgendwann mal bei uns."
Ich schliesse den Tränen nahe die App wieder und schüttle dann nur den Kopf. „Ich habe solche Freunde nicht verdient" flüstere ich leise, und beiße mir auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. „Doch, jeder hat das" widerspricht Nate mir leise, und ich spüre seine große Hand an meinem Rücken.
Wahrscheinlich ist er sich nicht so sicher dabei, was er gerade tut, weshalb er seine Hand etwas hilflos auf meinem Rücken liegen lässt. Doch ob er's glaubt oder nicht, genau diese eine Hand spendet mir gerade wirklich viel Trost. „Darf ich dich umarmen?" frage ich leise, und weiche Nates Blick aus. Als Antwort verfestigt sich der Druck an meinem Rücken etwas, und wenig später schlingt sich ein starker Arm um meinen Körper.
„Wenn es dir hilft, dann immer" nuschelt Nate leise, und ich lege meine Arme um seinen Nacken, ehe doch eine kleine Träne mein Auge verlässt. „Danke" flüstere ich, und schniefe leise. „Immer gerne. Aber nur als kleine Vorwarnung: ich habe keine Erfahrung mit weinenden Mädchen" sagt Nate halb ironisch, halb ernst, und ich lache leise.
„Keine Angst, das kriege ich schon alleine hin" sage ich dann leise, und unterdrücke eine weitere Träne. „Ich bin trotzdem da, falls du mal alleine sein solltest" sagt Nate eine Weile später, und ich lächle. „Sieh an, der weiche Nate kommt hervor." Ich spüre ein leichtes Zwicken an der Seite und lache auf.
„Pass bloss auf, ich kann auch wieder ganz kalt und desinteressiert werden" warnt Nate mich, doch ich spüre sein Grinsen. „Wehe dir" murmle ich, und schliesse die Augen. Ich kenne meinen Halbbruder nicht mal einen Tag und er ist mir schon jetzt ans Herz gewachsen.
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Ich liebe diese Beziehung zwischen den Beiden jetzt schon omg
Und Sid *.* So cute *.*
- xo, Zebisthoughts
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