Valerie - Kapitel 55

Selbstmord.

Dieses Wort, und die Verletzlichkeit, der Schmerz und die Trauer in Silas' Stimme, als er dieses Wort ausgesprochen hat, hallen noch Sekunden später in meinem Kopf umher. Ich wusste, dass Silas' Mutter gestorben ist, doch ich hätte nicht gedacht, dass sie sich das Leben genommen hat.

Tränen sammeln sich in meinen Augen, wenn ich daran denke, was Silas wohl alles durchgemacht haben muss. Ich erinnere mich vage an den Abend zurück, an dem Silas mich aus der Badewanne gefischt hat und mir dann später erzählte, dass er schon mal mit Selbstmord in Verbindung kam. Und dass die Person einige Jahre später trotz der gelungenen Rettung dann doch gestorben sei.

Ich erinnere mich an den Ausdruck in seinen Augen, den er laut Sid kaum jemandem gezeigt hat. Dieser Schmerz, diese unbeschreibliche Trauer, und irgendwo auch ein Funken Wut. Es war überwältigend, all das in einem Blick zu sehen.

Jetzt ergibt es für mich langsam einen Sinn, wieso dieses Thema Silas so unglaublich wehtat. Wieso er die Art des Todes seiner Mutter nicht versteht, nein, wieso er es regelrecht verabscheut. Wieso er kaum über sie spricht.

Ich schlucke und räuspere mich leise, in der Hoffnung, dass Silas nicht direkt austickt, wenn er merkt, dass ich wach bin. Als keine Reaktion kommt, drehe ich mich langsam um und setze mich auf.

„Silas?" frage ich leise, als ich ihn gegen eine Wand gelehnt sehe. Seine Augen sind geschlossen, und er zieht verwirrt seine Augenbrauen zusammen, als er meine Stimme hört. Martin sieht mich etwas erschrocken an, doch Martin ist mir gerade nicht so wichtig wie Silas.

Ich habe nämlich keine Ahnung, wie gut der seine Emotionen im Griff hat.

„Valerie?" fragt er mit einer mir fast fremden Stimme, die ich nur damals am Grab schon mal gehört habe. Bevor wir gestritten haben. „Ich wusste nicht, dass du wach bist" stellt Silas fest, und sein Blick bohrt sich in meinen.

„Ich wollte eigentlich nicht lauschen" fange ich an, und versuche Silas' Emotion aus seinem Gesicht zu lesen, doch das ist schwieriger als gedacht. Er ist vollkommen ausdruckslos. „Aber?" fragt er nach, und ich schlucke.

„Naja, ihr habt über mich gesprochen als ich aufgewacht bin. Und dann... naja, danach konnte ich einfach nicht weghören. Es tut mir leid." Ich senke den Blick und schlucke. „Eigentlich würde ich normalerweise ausrasten" fängt Silas leise an, und seufzt.

„Aber erstens bist du es, zweitens hast du mir ja deine Geschichte auch schon erzählt, und drittens – ich glaube, so eine Krankenzimmerausrüstung ist teuer. Ich will da keinen Schadensersatz zahlen müssen." Ich schmunzle etwas und richte den Blick wieder auf Silas, der jetzt etwas mehr Emotionen in seinem Blick hat.

„Erzähl es bitte einfach keinem weiter" murmelt er, und ich schlucke. Dann nicke ich heftig und lächle etwas. „Versprochen, Silas. Du kannst mir vertrauen." Silas lächelt, und zum ersten Mal heute sehe ich den kleinen, verletzlichen Jungen in ihm. Derjenige, der schon so viel erleben musste, der einen für ihn so wichtigen Menschen verloren hat.

Und all diese Fragen, die er sich wohl immer noch stellt. „Komm mal her." Ich breite den Arm aus, der weniger verkabelt ist, und Silas seufzt. „Ja, Mutter." Ich zwicke den frechen Jungen vor mir kurz in die Wange, ehe ich ihn in die Arme schliesse. „Ich weiss, dass du das brauchst."

Silas vergräbt seinen Kopf in meine Halsbeuge, und ich spüre seinen warmen Atem, der auf meine Haut prallt. „Woher kennst du mich so gut?" flüstert er, und ich spüre plötzlich seine Lippen an meinem Ohr. Mein Atem stockt, und ich werfe einen prüfenden Blick zu Martin, der jedoch wieder tief in sein Handy versunken ist.

„Vielleicht weil ich nicht ganz so sehr wie alle anderen bin, wie du denkst" murmle ich zurück, und spüre Silas' Lächeln an meinem Ohr. „Das war mir schon klar als du mit blutiger Nase neben mir hergelaufen bist." Ich lache leise und schüttle den Kopf. Dann werde ich wieder ernst und entferne mich etwas von Silas.

„Weißt du... ich glaube, ein Mensch der selbst viel durchgemacht hat sieht es einem anderen Menschen, der ebenfalls viel durchmacht an, wann er eine Umarmung braucht. Wann Worte einfach nicht ausreichen."

Ich streiche Silas eine widerspenstige Strähne aus der Stirn und fixiere dann seine grauen Augen, die mein Gesicht mustern. „Ich habe dich nicht verdient" sagt er dann leise, und senkt den Blick. Er setzt sich zu mir aufs Bett, und ich schüttle den Kopf. „Doch Silas. Du hast mich verdient und insgeheim weißt du das auch."

Ich schlucke und nehme Silas' Hand, um unsere Finger miteinander zu verschränken. „Du willst doch, dass ich dir vertraue, oder?" Silas hebt den Blick und nickt leicht. „Dann vertrau du mir auch." Es vergehen einige Sekunden der Stille, die sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlen. „Bitte" flüstere ich, und schaue Silas eindringlich an.

„Ich hätte sie retten können" flüstert dieser plötzlich leise, und ich sehe Tränen in seinen Augen. „Hätte ich mich mehr geachtet hätte ich es ahnen können. Hätte ich nicht einfach weitergemacht wie vor ihrem ersten Versuch, dann-"

„Dann wäre sie vielleicht noch am Leben, ja. Vielleicht aber auch nicht. Silas, deine Mum wollte gehen. Sie hat sich dazu entschieden. Sie hat es schon mal getan, und der zweite Versuch zeigt nur, dass auch du nichts mehr hättest ändern können. Sie hat sich innerlich schon lange dazu entschieden, Silas. Dafür kann keiner was. Keiner trägt die Schuld an ihrem Tod. Auch du nicht."

Silas wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und seufzt. „Ich will das nicht glauben" murmelt er, und ich schüttle den Kopf. „Aber es ist die Wahrheit. Keiner hätte was ändern können." Silas fängt heftig an den Kopf zu schütteln, und ich drehe sein Gesicht so zu mir, dass er mir in die Augen schauen muss.

Ich stocke kurz, als ich die Panik in Silas' sonst so friedlichen grauen Augen sehe, und versuche meine Tränen zu schlucken. „Silas sieh mich an" sage ich mit fester Stimme, und hindere Silas mit meinem Griff daran, seinen Kopf zu schütteln. „Sieh mich an, bitte. Hör mir zu. Hörst du mir zu?"

Silas nickt leicht, und ich seufze. „Atme tief durch. Sieh mich an, und beruhige dich. Bitte." Silas folgt meinen Anweisungen tatsächlich, und allmählich beruhigt sich seine Atmung wieder. Irgendwann lehnt Silas seine Stirn frustriert gegen meine und legt seine Hände an meine Wangen.

„Ich habe eine Bitte" flüstert er, und ich nicke leicht. „Welche denn?" Silas hält kurz inne und sieht mich mit schmerzerfüllten Augen an. „Sollte ich dir jemals wehtun" fängt er an, und fährt mit der Zunge über seine trockenen Lippen. „Dann bitte, erinnere dich daran, dass ich es nicht so meine. Ich würde dich nie verletzen wollen. Du bist alles für mich."

Ich weite die Augen und starre etwas fassungslos in Silas' Augen. Sowas hat noch kein Junge zu mir gesagt, und diese Worte aus Silas' Mund lösen ein warmes Kribbeln rund um mein Herz aus. „Silas, ich werde bleiben. Ich bin da und ich bleibe bei dir, okay?"

Silas nickt, und ich lächle leicht. „Wieso solltest du mich verletzen?" frage ich leise, da es mich doch interessiert. Silas schließt die Augen und befeuchtet seine Lippen wieder.

„Ich habe solche... Momente, Tage, Phasen eben, in denen ich innerlich komplett leer bin. Ich stoße alles ab was ich abstoßen kann. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um meine Liebsten vor mir zu schützen. Ich sage schlimme Dinge, die so manch eine Person dazu gebracht haben, mich zu hassen und mir die Pest an den Hals zu wünschen. Ich werde dich auch irgendwann versuchen abzustoßen. Aber bitte... geh dann nicht. Geh nicht und lass mich bitte nicht mit meinen Gedanken alleine. Genau dann brauche ich jemanden, dem ich blind vertrauen kann. Jemanden wie dich, Valy."

Ich höre den Schmerz der vergangenen Jahre deutlich aus Silas' Stimme heraus, und sitze eine Weile nur stumm da. Silas hält meinen Kopf immer noch fest, und ich spüre seinen unregelmäßigen, flachen Atem auf meinem Gesicht.

Ich versuche mir vorzustellen, wie sehr Silas leiden muss. Unter seinen unberechenbaren Emotionen, seinen Schuldgefühlen und dem Schmerz. Ich kneife kurz die Augen zusammen und seufze.

„Ich bleibe, Silas."

„Wehe du kommst nicht."

Ich schaue Martin streng an, der die Hände hebt und lacht. „Wie könnte ich es auch wagen nicht zu kommen" sagt er, und ich lächle zufrieden. „Guter Junge. Stell bitte nichts an, okay?"

Ich trete von einem Bein aufs andere, weil ich ehrlich gesagt nicht verstehen will, dass ich jetzt wieder ohne Martin nach Hause gehen werde. „Ich doch nicht. Das könnte ich eher dir sagen. Ich geb dir einen aus, wenn du bis in ein paar Tagen schon wieder was ausgelöst hast."

Ich verdrehe die Augen und strecke Martin meine Zunge entgegen. „Ich dich auch" sagt er jedoch nur lachend, und ich seufze grinsend. „Hey, ich glaube die anderen wollen los" murmle ich, und werfe einen flüchtigen Blick zu Silas' Wagen. „Komm her und denk nicht dran zu heulen."

Martin zieht mich in seine Arme, und grinsend drücke ich ihn fest an mich. „Danke" flüstere ich als wir uns wieder lösen, und streiche eine Strähne hinter mein Ohr. „Für alles." Martin lächelt und tritt mir aus dem Weg.

„Ich habe das gerne gemacht. Es war trotz allem amüsant mit dir. Und jetzt hau schon ab, wir sehen uns ja in paar Tagen wieder." Mit einer letzten Umarmung und einem frechen Grinsen verabschiede ich mich von Martin und steige auf dem Beifahrersitz von Silas' Wagen ein, den er mir fast mit Gewalt freigehalten hat.

Wir fahren hupend aus der Einfahrt von Martins Haus, und ich winke Martin wild zu, der gerade seine Schwester in den Arm nimmt. Celia und Hunter haben sich tatsächlich wieder vertragen, und ich glaube, da läuft was.

Als wir den Ort verlassen lehne ich mich mit einem zufriedenen Grinsen zurück, und es fühlt sich an als würden wir nicht nur Sidneys Heimat hinter uns lassen, sondern auch alle schrecklichen Ereignisse. Martin wird in ein paar Tagen mit Celia zu uns fahren um mit mir meinen Geburtstag zu feiern.

Eingeladen sind noch Hunter, Nick und Caine, Sid und Micah, natürlich Silas, Joshua und Jessie, dann eben noch Celia und Martin, und selbstverständlich Jay und Malik. Ich scanne die an uns vorbeifahrende Landschaft und merke kaum, wie meine Augen langsam zufallen und ich in einen tiefen Schlaf drifte.

„Oh mein Gott! Kind!"

Maria kommt auf mich zugerast sobald ich einen Fuß aus dem Auto gesetzt habe, und gerade kann ich mich noch am Auto anlehnen, um ihre stürmische Umarmung abzufedern. „Zum Glück geht es dir gut" murmelt Maria, und lächelnd umarme ich meine Tante ebenfalls.

„Ja, es geht mir gut, Maria. Du musst dir keine Sorgen mehr machen, immerhin habe ich hier die besten Freunde an meiner Seite." Maria löst sich von mir und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Silas und Joshua lächeln mir über Marias Schulter zu, und ich lächle zurück.

„Ich bin so froh, dass du Freunde hast" sagt Maria aufrichtig ehrlich, und ich fange selbst gleich an zu heulen. „Ich bin so froh, dass du endlich wieder glücklich bist." Maria streicht mir mit liebevollen Handbewegungen ein paar widerspenstige Strähnen aus dem Gesicht, und mustert mich dann glücklich.

Sie hat die letzten Jahre ebenfalls ziemlich darunter gelitten, dass es mir so schlecht ging. „Na kommt, geht rein. Maria hat extra Kuchen gebacken für euch." Juan erscheint in der Haustüre und beobachtet lächelnd, wie Maria sich wild die Tränen aus dem Gesicht wischt.

„Ja, kommt!" Mit diesen Worten zieht sie einen überrumpelten Silas, einen lachenden Josh und mich ziemlich zackig ins Haus, und ich grinse breit. Wir betreten das Wohnzimmer, und auf dem Esstisch thront ein grosser Kuchen. Maria stellt sich stolz daneben und grinst so breit wie sie nur kann. Ich lächle glücklich und bin wirklich kurz davor, zu heulen. So kenne ich Maria, und so liebe ich sie.

Was haltet ihr von dem Gespräch zwischen Silas und Valerie?

- xo, zebisthoughts

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