Valerie - Kapitel 41
„Silas, hochheben!"
Zwei starke Hände packen mich von hinten an der Hüfte und heben mich mit einer solchen Leichtigkeit hoch, als wäre ich eine Feder. Ich bekomme die Ringe zu fassen und klammere mich daran, als würde mein Leben davon abhängen. Silas lässt mich los, nur um mir kurz darauf Anlauf zu geben. Seit unserem Gespräch ist eine ganze Woche vergangen, und heute hat die letzte Schulwoche vor den Ferien angefangen.
Es ist Oktober, und langsam komme ich in das Herbstgefühl rein. In zwei Tagen haben wir diese Aufführung der Schule, und gerade üben wir die ganze Choreographie nochmal durch, damit auch sicher alles klappt. Da Silas und ich in den Wochen, in denen wir gestritten haben nicht sehr produktiv waren, mussten wir letzte Woche eine Menge aufholen, aber wir haben es geschafft.
Ich schaukle hin und her und lasse mich dann in Silas' Arme fallen. Mittlerweile ist es für mich kein Problem mehr, ihm die ganze Kontrolle zu geben. Ich habe gelernt ihm zu vertrauen, und dass er mich nicht fallen lassen würde. Ich halte mich gut an Silas fest, während wir uns zur Musik bewegen, als hätten wir nie was Anderes gemacht.
Ich spüre seinen Atem hin und wieder in meinem Nacken, und jedes Mal jagt es mir einen Schauer über den Rücken. Ich habe mich noch nie so in Gegenwart eines Jungen gefühlt. Nicht mal bei Hunter. Egal was wir machen, ich fühle mich wie ein Magnet zu ihm hingezogen. Ich frage mich, wie ich es jahrelang ohne so jemanden ausgehalten habe. Klar, Joshua war immer da. Aber Joshua ist eben Joshua und nicht Silas. Joshua ist wie mein Bruder. Silas ist viel mehr als nur das.
Die Musik endet, und unsere Bewegungen frieren ein. Jubelnd kommt plötzlich jemand auf uns zu, und als ich mich umdrehe erkenne ich Sid – mit Micah. „Das war verdammt gut!" Ich lächle und schliesse den rothaarigen Jungen kurz in die Arme. „Was machst du so spät noch in der Sporthalle?" frage ich, während ich Micah umarme und Sid sich mit Silas abklatscht. „Euch zuschauen, was denn sonst?"
Ich grinse und schaue auf die Uhr. Halb acht. „Wie habt ihr Mrs. Chester überhaupt soweit bekommen, dass sie euch die Halle zur Verfügung gestellt hat?" Ich zucke mit den Schultern und nicke zu Silas. „Frag das deinen besten Kumpel." Sid dreht sich wieder zu Silas um, welcher grinst. „Ich habe ihr eine ziemlich dramatische Story hingelegt. Dass wir uns die letzten Wochen kaum auf etwas fokussieren konnten, weil jemand aus der Familie krank war."
Ich starre Silas mit grossen Augen an. „Du hast ihr gesagt jemand aus der Familie wäre krank und sie hat dir das geglaubt?" frage ich dann leise, und Silas nickt. „Scheint so. Ansonsten wären wir jetzt nicht hier, oder?" Ich seufze und nicke. „Mach das nicht mehr okay?" Silas zuckt mit den Schultern. „Ich meins ernst Silas" murmle ich, und er nickt ergeben. „Ich weiss, dass es nicht gut war, okay? Aber wir brauchen diese Zeit wirklich. Außer du willst dich unbedingt bei der Aufführung blamieren."
Ich strecke dem Jungen mit den grauen Augen den Mittelfinger entgegen und schmunzle. „Ich dich auch Valy" lacht Silas nur, und wendet sich Sidney zu. „Twentyone?" Sid nickt begeistert, während Micah genervt aufstöhnt. „Nur, wenn Val auch mitkommt" presst sie dann hervor, und ich verdrehe die Augen. „Keiner von euch ist so besoffen, dass wir euch nach Hause schleifen müssen" sage ich warnend, und die Jungs nicken synchron.
Kopfschüttelnd lächle ich und gehe dann in Richtung der Umkleiden. „Gebt uns zehn Minuten" sage ich, und verschwinde hinter der Türe. Schnell wechsle ich mein lockeres Shirt, welches jetzt jedoch nicht mehr ganz so locker an mir klebt, gegen ein sauberes Top. Ich wasche mich kurz um das gröbste an Schweiß von mir zu kriegen. Dann ziehe ich mir meine Lieblingsjeans an und ziehe meine Lederjacke über.
Meine Sportsachen stopfe ich in meine Tasche, schnappe mir meinen Kulturbeutel und gehe zum kleinen Spiegel. Ich lasse meine Haare offen über meine Schultern fallen und trage eine dünne Schicht Mascara auf. Zufrieden trete ich etwas weiter weg und betrachte mich im Spiegel. Dafür, dass ich eben zwei Stunden lang durchgeschwitzt habe, sehe ich erstaunlich frisch aus.
Ich lasse meinen Blick über meinen Körper schweifen und bleibe an den Stellen hängen, die ich überhaupt nicht mag. Meinen Bauch zum Beispiel. Oder meine Oberschenkel. Nur noch ein paar Wochen weniger essen. Dann hast du's. Ich seufze und drehe mich in dem Moment zu meiner Tasche um, in dem Micah reinkommt.
„Was machst du denn da so lange?" fragt sie mich, und ich schrecke auf. „Nichts, alles gut. Ich habe mich nur noch etwas gewaschen." Micah nickt verwirrt und hält mir dann die Türe auf, als ich mir die Tasche über die Schulter hänge und an ihr vorbeigehe. Draußen stehen Sidney und Silas schon und schauen zu mir, als ich die Umkleide verlasse.
„Da bist du ja!" sagt Sid mit einem fetten Grinsen im Gesicht, und ich lächle ebenfalls. „Hast du mich etwa schon vermisst?" Silas legt einen Arm um Sidneys Schultern und grinst. „Quatsch, er würde nie jemanden außer mich vermissen, nicht wahr Siddy?" Silas kneift seinem besten Kumpel in die Wange, und ich schmunzle. Sidney stößt Silas mehr oder weniger von sich und legt warnend eine Hand an seinen Hosenbund.
„Das Angebot mit meinem Schwanz steht noch."
„Vergiss es. Du vermisst mich nicht. Alle, aber nicht mich."
„Richtig so."
Micah sieht die Jungs nur verstört an, während ich lachend über Silas' geschockten Gesichtsausdruck meinen Arm auf ihre Schulter lege. „Gewöhn dich dran. Die beiden haben eine sehr spezielle Bindung zueinander." Micah nickt nur und grinst dann. „Sieht man." Die Jungs diskutieren immer noch, und ich seufze.
„Jungs, seid ihr soweit?" Sofort drehen sich beide Köpfe in meine Richtung. „Klar, ich fahre." Sidney hält seine Schlüssel hoch und verlässt die Halle. „Du bist auch als einziger mit dem Auto hier" schmunzelt Silas. Wir sind tatsächlich mit dem Bus hergekommen, weil Silas' Auto von einem seiner Kumpel ausgeliehen wurde. Im Bus war es extrem eng, da die meisten von wo auch immer nach Hause wollten.
Ja, sowas wie Abendverkehr gibt es auch im öffentlichen Verkehr.
Leider.
Schon nur deswegen bin ich heilfroh darüber, morgens eigentlich immer mit dem Auto zur Schule und zurück zu fahren. Ich glaube nicht, dass es keine Toten gäbe, wenn man mich jeden Morgen in dieses Gedränge stecken würde.
„Erde an Valerie Jones." Silas wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht rum, und ich schrecke hoch. „Was?" frage ich leise, und Silas lacht. „Wir wollen los. Alles okay bei dir?" Ich nicke schnell – vielleicht etwas zu schnell – und gehe zum Ausgang. „Klar, alles bestens. Ich war nur in Gedanken." Silas folgt mir etwas verwirrt und bedankt sich leise, als ich ihm beim Rausgehen die Türe aufhalte.
Sidney und Micah sitzen schon im Auto und warten. Schnell drücke ich mich auf die Rückbank, und wenig später befinden wir uns auf dem Highway. Sidney dreht die Musik voll auf, und Micah und ich fangen an die Lyrics mitzusingen. Nach einigen Liedern stimmen Silas und Sid auch endlich mit ein, und somit sind wir schon bei der Ankunft im Twentyone bestens gelaunt.
Die Ironie an dieser Bar ist ihr Name. Da man in den USA erst ab einundzwanzig trinken darf, heißt die Bar ja auch Twentyone. Aber bisher hat hier jeder über sechzehn schon Alkohol ausgeschenkt bekommen.
Wir betreten das Gebäude, und der Geruch von Alkohol und Rauch schlägt uns entgegen. Die Bässe der Musik vibrieren in meinem Körper, aber jetzt gerade ist es einfach das, was ich brauche. Mal raus aus dem Alltag der irgendwie immer gleich abläuft. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch in der Ecke und bestellen je einen Caipirinha. Ich liebe dieses Getränk seit ich Alkohol trinke.
Wir lehnen uns im abgewetzten Polster des Sofas zurück, und ich lege meinen Kopf in den Nacken. „Ich bin so froh, wenn wir Ferien haben" stöhnt Micah neben mir, und ich brumme zustimmend. „Aber sowas von" nuschle ich, und schliesse die Augen. „Was habt ihr eigentlich vor?" fragt Sidney, während er einen Schluck von seinem Getränkt nimmt. Ich zucke mit den Schultern und seufze.
„Ich denke mal, dass ich Netflix wieder zu meinem besten Freund machen werde" sage ich dann lustlos, und Micah schmunzelt. „Du wirst mir von Sekunde zu Sekunde sympathischer" sagt sie dann lächelnd, und ich öffne die Augen wieder. „Will ich doch hoffen." Eine Weile sagt keiner was, und wir lauschen nur der lauten Musik und beobachten die tanzenden Leute. Dann räuspert Sidney sich und sieht abwartend in die Runde.
„Was haltet ihr davon, wenn wir einen Ausflug machen?" Ich hebe eine Augenbraue und beuge mich etwas nach vorne. „Einen Ausflug?" frage ich nochmal nach, und Sidney nickt begeistert. „Meine Eltern haben ein Ferienhaus irgendwo am Strand. Es ist etwa vier Stunden Fahrt von hier entfernt und wirklich schön da. Wir könnten die anderen Jungs auch noch einladen."
Ich lehne mich nachdenklich zurück und lege meinen Kopf auf Silas' Schulter. „Ich wäre dabei" sagt Micah ziemlich schnell, und auch wir nicken bald darauf. „Ich würde auch mitkommen" sage ich noch zustimmend, und Sidney quiekt fast auf. „Ich würde sagen wir fragen Joshua, Jessie, Jay, Malik und Nick noch, okay?" Ich hebe erstaunt eine Augenbraue.
„Wie groß ist denn das Haus bitte?" frage ich zwischen zwei Schlucken, und Sidney grinst. „Groß. Sehr groß." Ich nicke anerkennend und stelle mein Glas wieder ab. „Gut, dann machen wir das so. Fragen wir morgen?" Meine Freunde nicken, und ich lächle. „Dann bin ich mal eben weg." Ich stehe auf und schlängle mich durch die Menge in Richtung Toilette. Ich drücke mich an einem ziemlich betrunkenen Mädchen vorbei und stoße die Türe zur Mädchentoilette auf.
Sofort wird die Musik etwas gedämpft, und ich stöhne erleichtert auf. Ich trete vor den Spiegel und mustere mein Gesicht. Dass es dünner geworden ist sehe sogar ich, aber es macht mir nichts aus. Viel mehr: ich freue mich fast darüber.
Aber im Gesicht will ich ja nicht abnehmen!
Frustriert stoße ich eine der Kabinentüren auf und verschwinde. Gerade als ich fertig bin und wieder raus will höre ich, wie noch jemand die Kabine betritt.
„Wir werden sie fertigmachen" vernehme ich eine mir bekannte Stimme, und mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Wer könnte das sein? Fieses Gelächter ertönt, und ich öffne die Kabinentüre einen winzigen Spalt breit. Sofort erkenne ich Jelena, die mit dem Rücken zu mir vor dem Spiegel steht und sich ihre knallroten, aufgespritzten Lippen nachfährt.
Sie könnte mich hier nicht entdecken, immerhin ist die Türe so einen kleinen Spalt offen, dass nicht mal ich wirklich viel erkenne. Hinter Jelena steht das Mädchen, welches mich im Restaurant vor allen beleidigt hat. Sie lacht fies und nickt dann. „Aber sowas von. Zu gut, dass wir über sie recherchiert haben und so einiges rausfinden konnten... die Arme wird untergehen, mit all ihren Freunden."
Jelena grinst, wobei sie ihre gebleichten Zähne zur Schau stellt. „Bye bye, Valerie Jones" flötet sie mit einem gefälschten, mitleidigen Lächeln, und ich merke, wie mir der Caipirinha langsam wieder hochkommt. Informationen meiner alten Schule?
„Schade eigentlich, dass Hunter sie nicht mehr fertigmachen will. Ich habe ihm sogar einen Deal angeboten... aber den hat er abgeschlagen. Schwächling. Er wird dann wohl mit unserer lieben kleinen Brünette untergehen. Armer Silas, wenn er das erfährt... er wird sich wünschen, die Finger von Joshuas billiger Cousine gelassen zu haben."
Das zweite Mädchen lacht wieder fies und langsam frage ich mich, ob das das einzige ist, was sie eigentlich kann. „Joshua hätte mich an sich ranlassen sollen. Dann wäre das alles hier niemals passiert. Er hätte mir auch nicht so viel erzählen sollen über seine hinreißende kleine Cousine... wir mussten ja kaum noch nach was suchen."
Was?
Jelena dreht sich fies lächelnd zu ihrer Freundin um, und ich höre, wie sie aus der Toilette verschwinden. Sofort verschließe ich die Türe, drehe mich zur Toilette um und übergebe mich. Sie wissen es. Sie wissen alles. Sie werden mich fertigmachen. Joshua hat mich verraten.
Ich übergebe mich oft und spüre, wie heiße Tränen meine Wangen runterlaufen. Meine Hände zittern, und irgendwann lasse ich mich einfach gegen die dünne, hässliche Kabinenwand fallen. Wie konnte ich mich ausgerechnet in ihm täuschen?
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:(((
Hättet ihr das erwartet?
- Xo, Zebisthoughts
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