Silas - Kapitel 78

Der eisige Wind weht mit einer immensen Kraft über das Dach, auf dem ich mit Valerie im Arm sitze und mir die Seele aus dem Leib heule. Als Valerie auf das Dach gekommen ist und angefangen hat, auf mich einzureden, ist diese Wand in mir gebrochen und hat alle Gefühle zugelassen.

Vorsichtig lege ich meine Arme um Valeries zitternden Körper, der sich fest an mich drückt. Sobald ich sie an mir spüre, verfestigt sich mein Griff, und ich schreie vor Schmerzen auf, was zur Folge hat, dass Valerie sich noch fester an mich drückt. „Du darfst lieben, Silas. Du darfst fühlen. Es ist okay. Es wird alles gut. Es ist alles okay, ich bin da. Wir alle sind da. Lass es raus, du darfst es rauslassen. Du bist nicht schuld, glaub mir. Du. Bist. Nicht. Schuld."

Immer wieder widerholt sie diese Worte flüsternd, und fährt mit ihrer Hand meinen Nacken auf und ab. Mein Herz tut so unglaublich weh, dass ich glaube, es zerspringt bald tatsächlich in seine Einzelteile, während ich krampfhaft versuche, Valerie zu glauben. Mein Körper erzittert mehrere Male, und immer noch dringen laute Schluchzer aus meiner Kehle, die durch Valeries Haare jedoch etwas abgedämpft werden.

Ich traue mich nicht die Augen zu öffnen, zu sehen, wo ich mich gerade befinde und zu realisieren, was ich gerade tun wollte. Stattdessen kneife ich meine Augen noch fester zusammen, und lasse alles raus. All den Schmerz, den ich die letzten Jahre in mich reingefressen habe. Alles, was ich schon immer sagen wollte, jedoch nie gesagt habe. All diese kleinen Momente, die mir das Herz gebrochen haben, die sich in mir angestaut haben. Die nur so darauf warteten, endlich rausgelassen zu werden.

Es ist das erste Mal, dass ich mich freiwillig jemandem anvertraue. Sid war dabei, als wir Mom gefunden haben – daher wusste er auch von Anfang an, was los war. Ich habe ihn nicht mehr abwimmeln können, egal wie wütend ich war. Egal wie verletzend ich gegenüber ihm geworden bin. Er ist geblieben. Aber jetzt hatte ich selbst die Wahl, ob ich Valerie in meine richtigen Gedanken einweihen soll.

Ob ich ihr den richtigen Silas zeigen soll, der Silas, der sich hinter all dem glücklichen Getue versteckt. Der Silas, der ständig auf der Lauer nach negativen Dingen ist, um sie dann an sich zu reißen, ein tiefes Loch zu buddeln und sich dann dort drin zu verstecken. Der Silas, der keine Gefühle hegt, und wenn doch, sie so gewaltsam unterdrückt, dass es wehtut. Der Silas, der alle von sich stößt, der alle um sich rum verletzt um sie von sich fernzuhalten, der sich selbst in Gedanken fertigmacht.

Der unaufhaltsam trinkt, raucht, Drogen nimmt, alles tut, um nur für ein paar Stunden seinem eigenen Kopf zu entfliehen. Der Silas, der zerstört ist. Der schwierig zu verstehen ist, und noch schwieriger zu lieben.

Doch tatsächlich hat es jemand geschafft, dass auch dieser Silas sein Herz öffnet. Und diese Person ist niemand anders als Valerie Jones, die mit einer Magensonde aus dem Krankenhaus abhaut, um mich zu retten, bevor ich ganz auseinanderfalle. Um mich davon abzuhalten etwas zu tun, was ich nur bereuen würde. Ich weiss bis jetzt noch nicht, womit ich Valerie verdient habe – aber sie ist für mich wie eine Droge. Wie die Droge, die ich früher auf Partys eingeschmissen habe, damit ich entfliehen konnte. Diese Droge ist jetzt ein Mädchen.

Sie schafft es meinen Kopf, der seit Jahren nur noch an eine Sache denkt, davon zu überzeugen, dass diese Sache falsch ist. Dass es eigentlich komplett andres aussieht. Dass ich mir selbst jahrelang was vorgemacht habe. Und das schafft sie in keinen zehn Minuten. Ihr Lachen, und das Funkeln ihrer blauen Augen bringen mich um den Verstand, machen mich verrückt. Ihre weiche Haut, ihren Duft, ihre Stimme die etwas so unglaublich Beruhigendes an sich hat. Valerie ist ein Mädchen wie kein anderes, und erst jetzt wird mir klar, dass ich sie nie hätte gehen lassen sollen.

Instinktiv drücke ich sie noch etwas fester an mich und gehe das Risiko ein, sie könnte ersticken. Ich brauche diese Nähe gerade einfach so sehr wie noch nie. Ich brauche die Nähe eines Menschen, der mich mit bloßen Blicken beruhigen kann. Ich brauche Valeries Nähe.

Ein leises Räuspern löst Valy und mich schlussendlich aus unserer Umarmung, und ich entdecke Sid, der hinter Valerie steht. Eine Weile starren wir uns nur sprachlos an, und ich sehe Sid die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben. Valerie robbt etwas zur Seite, und Sid geht vor mir in die Hocke. „Mach sowas nie wieder" murmelt er, und ich sehe in seinen Augen, dass er bis vor kurzem noch geweint hat. Ich kann nur mit einem Schluchzen antworten, dann packt Sid mich an den Schultern und zieht mich an sich.

„Es tut mir so leid" flüstere ich, und schaue zu Valy, die wie betäubt neben uns sitzt und zum Rand des Dachs starrt. In ihren Augen spiegeln sich Angst, Schock und aber auch Erleichterung wieder, und ich schlucke. Das erste Mal seit mittlerweile gestern denke ich wieder daran, wie es meinen Mitmenschen damit ging. Wie sie gelitten haben, was sie alles aushalten mussten und wie sie damit umgegangen sind. Ich frage mich, was in ihren Köpfen vorgegangen ist.

„Du hast mir 'nen verdammt grossen Schrecken eingejagt, weißt du das?" fragt Sid auch schon, und ich schlucke abermals. „Ich war es mir nicht bewusst, ich war... zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt" sage ich mit rauer Stimme, und langsam werden die Tränen weniger. „Wie hast du eigentlich davon erfahren?" frage ich nach einer Weile, da ich Sid ja gar nichts geschickt habe. Valerie sieht zu mir und lächelt leicht.

„Ich habe ihn angerufen" sagt sie leise, und umarmt sich zitternd selbst, als ein weiterer Windstoß über das Flachdach fegt. „Und habe ihm dann das Foto geschickt. Er wusste sofort, wo du bist." Ich nicke langsam und vergrabe mein Gesicht in Sidneys Schulter, der wohl vorerst nicht daran denkt, mich loszulassen. Irgendwann strecke ich einen Arm nach Valerie aus, nehme ihre Hand und ziehe sie zu uns. Sid und ich nehmen sie ebenfalls in den Arm, und so verharren wir sicher zehn Minuten.

Valerie zittert immer noch vor Schock, und ich versuche immer noch krampfhaft, meine Gedanken auszublenden. „Leute, was machen wir jetzt?" fragt Sid irgendwann, und sieht in die Runde. „Ich meine, wie geht's jetzt weiter? So kann es nicht mehr laufen." Valy schluckt und schaut auf ihre Hände. „Ich werde später wieder ins Krankenhaus gehen" sagt sie dann leise, und ich nehme instinktiv ihre Hand als ich sehe, wie sie sich deutlich anspannt. „Und dann werde ich die Tage irgendwann eingewiesen."

Ich nicke langsam, und ein großes Unwohlsein macht sich in mir breit bei dem Gedanken daran, dass mein Halt vielleicht einige Wochen lang keinen Kontakt zu mir aufnehmen darf. „Und was ist mit dir?" Valerie nickt zu mir, und verschränkt unsere Hände miteinander. Ich schlucke schwer und zucke dann leicht mit den Schultern. „Ich weiss nicht" sage ich leise, und fahre mir mit der freien Hand seufzend durch die Haare, die durch den Wind aber sowieso wieder verstrubbelt werden.

„Ich denke, ich werde vielleicht mal darüber nachdenken, mir doch nochmal Hilfe zu holen" sage ich dann langsam, und merke erst beim Sagen, wie schwer mir der Satz fällt. Einen kleinen Moment schweigen Valy und Sid, dann fängt Valerie an zu lächeln, und mein Herz erwärmt sich augenblicklich. „Wir werden dir helfen" sagt Sid grinsend, als er sich dann doch von mir löst, und ich schaffe es tatsächlich, ein kleines Mundwinkelzucken zustande zu bringen.

Meine Gedanken sind ohrenbetäubend und drohen immer noch, mich wieder zu kontrollieren, doch jetzt gerade lasse ich ihnen keine Chance. „Und jetzt kommt, ich will nicht erfrieren." Ohne groß nachzudenken zieht Sid mich auf die Beine, und dank dem vielen Alkohol schwanke ich kurz gefährlich hin und her, bis Valerie meine Hand ergreift und mich vom Abgrund wegzieht, bis ich ganz sicher nicht mehr fallen kann.

Ich verschränke unsere Hände kurzerhand miteinander und spüre Valy's Wärme durch meinen Körper fließen. Mit vorsichtigen Schritten bewegen wir uns auf die Leiter zu, und klettern langsam nach unten, wobei Sid immer aufpasst, dass ich nicht runterfalle. Meine Hände zittern immer noch stark, und das Adrenalin hat meinen Körper noch lange nicht verlassen, doch irgendwie bin ich froh darum, doch nicht gesprungen zu sein. Vorerst jedenfalls.

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„Was haben Sie sich dabei gedacht?" Die Krankenschwester steht vor Valerie und stemmt ihre Hände in die Hüfte, doch das alles scheint Valy scheiss egal zu sein. „Ich habe mir dabei gedacht, dass ich gerne ein Leben retten würde. Wenn das falsch ist tut's mir leid, aber dann werde ich auch nicht länger in diesem Gebäude bleiben." Valy sieht angriffslustig zu der Schwester hoch, welche die Augen weitet.

„Wie meinen Sie, ein Leben retten?" fragt sie erschrocken nach, und ich schlucke. „Silas... naja, wollte sich das Leben nehmen." Mein Kopf wird mit einem Rauschen gefüllt, als ich sehe, wie die Frau mich langsam wahrnimmt und dann an meinen geröteten Augen hängen bleibt, die deutlich zeigen, dass Valerie leider keine Geschichte erfindet. Ungläubig sieht sie mich an und kommt dann langsam auf mich zu. „Geht es Ihnen gut?" höre ich ihre Stimme zu mir durchdringen, und als sie mir die Hand auf die Schulter legt, schrecke ich zurück und werde panisch.

„Nein, nein, nein, fassen Sie mich nicht an" keuche ich, und die Frau wird noch einen Tick besorgter. Sie kommt wieder auf mich zu, und ich trete noch weiter nach hinten. „Ich kenne Sie" keuche ich, und zeige auf die Frau. „Ich kenne Sie!" Die Frau bleibt stehen und sieht mich lange an, bis ihre Augen sich langsam weiten. „Silas" flüstert sie leise, doch ich höre es genau. „Ja verdammt der bin ich!"

Die Frau zuckt bei meiner lauten Stimme zusammen, und ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. „Silas sieh mich an!" Ich schüttle zuerst den Kopf, dann legt sich noch eine Hand an meine Wange, und mein Kopf wird zu Valy gedreht. „Sieh mich an" wiederholt sie nochmal etwas ruhiger, und deutet Sid an, mit der Schwester wegzugehen. Valerie legt beide Hände an meine Wangen und fährt mit dem Daumen vorsichtig auf und ab.

„Beruhige dich" murmelt sie, und schluckt. „Sie ist weg, es ist alles okay. Alles gut. Ich bin bei dir." Ich konzentriere mich auf Valeries Gesicht und versuche meine erneut ausgeartete Panik wieder unter Kontrolle zu kriegen, und langsam aber sicher kehre ich in die Realität zurück. Doch der Hass, die Abneigung – sie bleibt.

„Ich bin müde" sage ich irgendwann, und Val nickt, ehe sie mich nochmal ansieht. „Bist du... okay?" Ich sehe die Angst in ihren Augen, dass diese Frage zu viel war, und zucke mit den Schultern. „Nein" sage ich dann wahrheitsgemäß, doch bevor Valerie was sagen kann, lege ich ihr einen Finger auf die Lippen. „Aber ich halte es aus. Also mach dir keine Sorgen, ich bin hier und ich bleibe hier." Valerie nickt langsam, und ich spüre ihr Lächeln an meinen Lippen.

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„Du darfst bestimmt bei mir im Zimmer schlafen" verkündet Valerie, als wir ihr Krankenzimmer betreten, und ich nicke resigniert. Während zwei Schwestern hereinkommen um Valerie wieder an alle Schläuche und Monitore anzuhängen, setze ich mich auf das unbenutzte Bett, welches mit einem dünnen Plastikschutz überzogen ist. Ich schaue betäubt dabei zu, wie Valerie wieder eine Infusion bekommt, und merke nicht, wie sich jemand neben mich setzt.

Erst als sich die Person räuspert, drehe ich mich etwas um, und entdecke einen jungen Mann, den ich etwa auf Mitte Zwanzig schätzen würde. Er sieht mich durch seine dunkelgrünen Augen irgendwie aufmunternd an, ehe er mir seine Hand hinhält. „Sie sind Silas Garcia, richtig?" Ich nicke stumm und schüttle die Hand des Mannes. „Ich bin Mr. Reynolds, Psychologe." Ich nicke nur und reagiere kaum, bis Mr. Reynolds mir eine Hand auf die Schulter legt.

„Möchten Sie darüber sprechen?" fragt er mich vorsichtig, und als ich Valeries bittenden Blick auf mir spüre, nicke ich zögernd. „Ich kann's ja mal versuchen" murmle ich, und kann Valeries breites Grinsen nicht übersehen. Mr. Reynolds nickt lächelnd und steht dann auf. „Ich weiss, es ist spät, aber ich halte es für besser, wenn wir ganz kurz ein bisschen zusammenfassen, was passiert ist, damit ich Ihnen eventuell etwas für die Überbrückung dieser Nacht geben kann." Ich nicke nur und stehe ebenfalls auf. Valy lächelt immer noch, und ich lächle leicht zurück, ehe ich Mr. Reynolds in sein Büro folge.

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Silas hat Hilfe angenommen ^.^

Was haltet ihr so von seinen Gedanken?

Und woher denkt ihr, dass er die Schwester kennt?

- Xo, Zebisthoughts

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