Silas - Kapitel 36

„Dich so zu finden überrascht mich."

Ich stelle die Musik ab und wische mir über die verschwitzte Stirn. „Sid? Was machst du hier?"

Sidney kommt mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir und stellt seine Tasche ab. „Tanzen, was man in einem Tanzstudio so macht. Ich frage mich eher, was du hier machst." Ich seufze und setze mich auf den Boden. „Tanzen, was man in einem Tanzstudio so macht" ahme ich meinen besten Freund nach, und Sid lässt sich grinsend neben mich fallen. „Du weißt schon was ich meine. Abgesehen von der Schule hast du seit ihrem Tod das Tanzbein nicht mehr geschwungen."

Ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck aus meiner Wasserflasche. „Ich musste mich ablenken" sage ich dann bloss, und ziehe die Nase hoch. „Normalerweise bist du dafür boxen gegangen." Ich verdrehe die Augen und starre Sid durch den Spiegel hindurch an. „Jetzt wollte ich aber tanzen. Ich wollte ihr nah sein, Sid." Mein bester Freund nickt nur und steht dann auf. „Dann bring ich dir mal was bei, du bist ziemlich eingerostet."

Ich grinse und lasse mir von Sid aufhelfen. „Stell dich hier hin." Ich folge Sidneys Anweisungen, wobei er mir sicher mindestens zwei Knochen bricht, doch es macht mir tatsächlich Spaß. Tanzen macht mir immer noch Spaß.

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„Alter ich fühle ich als hätte mich was überfahren." Ich setze mich müde auf den Boden und trinke die letzten Tropfen aus meiner Flasche. „Du bist einfach nur aus der Übung." Sidney steht immer noch topfit neben mir und fährt sich mit seinem Handtuch übers Gesicht. „Wovon wolltest du dich eigentlich überhaupt ablenken?" Sid sieht mich interessiert an, und ich lehne mich gegen die Wand hinter mich. „Valerie. Haben uns mal wieder gestritten."

Sid setzt sich verwirrt neben mich. „Das ist ja nichts Neues. Worüber?" „Na worüber wohl. Über das, was am Freitagabend passiert ist. Nur ist mir erst jetzt bewusst geworden, dass die ganze Situation für sie so ausgesehen haben muss, als wäre ich von Anfang an nur auf einen schnellen Spaß mit ihr aus." Sid pustet sich eine seiner roten Strähnen aus dem Gesicht und seufzt dann. „Scheisse" sagt er schlussendlich nur, und ich zucke mit den Schultern. „Ja, das trifft es ziemlich gut."

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Ich bin müde. Und damit meine ich so müde, dass ich im Stehen locker einschlafen würde, wäre da nicht Jay, der mir immer eine überzieht, wenn ich wegknicke. „Geh doch früher schlafen anstatt immer im Unterricht Ärger zu machen" murmelt er nur, doch ich zucke nur gleichgültig mit den Schultern. „Solange ich gute Noten schreibe können sie nicht sehr viel sagen."

„Ja, nur schreibst du bei Mr. Lawrence keine guten Noten."

Ich verdrehe die Augen und wende sie dann wieder unserem Geschichtslehrer zu. Jay hat schon Recht, ich sollte früher schlafen gehen. Aber ich habe sicher noch bis ein Uhr morgens getanzt, was ich jetzt übrigens immer noch merke: ich spüre Muskeln von denen ich keine Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gibt.

„Lass mich für heute bitte einfach" murmle ich, und Jay schmunzelt. „Nichts da. Es wird aufgepasst!" Übermotiviert lehnt er sich etwas über sein Pult und tut so, als würde er Mr. Lawrence aufmerksam zuhören. Doch schon nach zwei Sätzen zieht er verwirrt die Augenbrauen zusammen und lehnt sich wieder zurück. „Ich schliesse mich dir an" murrt Jay dann, und ich lache leise.

„Was machen wir eigentlich in der Pause?" Ich zucke mit den Schultern und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. „Ich glaube ich verpisse mich einfach irgendwo hin" murmle ich dann, weil ich weiss, dass die anderen mit Jessie, Malik und Valerie abhängen will. Und ich will das eben nicht. „Ihr müsst das wirklich mal klären" murrt Jay nur, doch es ist mir egal. Diese Sache ist zwischen Valerie und mir.

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„Kommst du gleich zur Strecke?" Ich nicke, während ich mit meinem Augenbrauenpiercing spiele. „Bin in zwei Stunden da." Joshua sagt noch was, dann legt er auf. Wir fahren morgen wieder ein Rennen, und die Jungs wollen heute noch etwas dafür üben. Ich seufze und schnappe mir meine Gitarre.

Das Loch in der Wand wird morgen geflickt, und ich würde lügen, wenn ich sage, dass es billig ist. Aber ich habe es verursacht, also muss ich auch dafür aufkommen. Ich glaube das ist momentan das einzige, in dem Val und ich uns einig sind. Ich schnappe mir die Noten zum Lied, welches ich momentan lerne und versuche meine ganze Konzentration darauf zu fokussieren, und alles andere wenigstens für einen kurzen Moment auszublenden.

Ich greife den ersten Akkord und schliesse kurz meine Augen, ehe ich die nächsten Töne spiele. Ich verliere mich nach unendlich vielen Wochen endlich wieder völlig in der Musik und vergesse die Zeit völlig. Ich erinnere mich daran, wie ich mein erstes Lied voller Stolz meiner Mutter vorgespielt habe. Wie sie gelächelt hat, und mich daraufhin stolz in den Arm genommen hat. Mein Vater hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt, dass ich eindeutig sein Sohn bin.

Nach einem Jahr Unterricht hat er mich dann weiter unterrichtet, und jetzt kann ich mir selbst alles beibringen, was ich brauche. Ich kann es sogar jemandem anderen beibringen, aber ich denke kaum, dass Valerie jetzt mit mir Gitarre spielen will. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und erschrecke etwas, als die zwei Stunden schon fast vorbei sind.

Ich lege meine Gitarre auf mein Bett und wechsle meine Jogginghose gegen eine alte Jeans aus, die sowieso dreckig werden wird. Dann schnappe ich mir meinen Rucksack und verlasse mein Zimmer. Ich will gerade die Treppe runterlaufen, als ich Würgegeräusche aus dem Badezimmer höre. Da nur Valerie noch im Haus ist gehe ich davon aus, dass ihr übel ist, doch ich will trotzdem schauen gehen. Und wenn es nur ist, um ihr ein Tuch oder so zu reichen.

Ich öffne die Badezimmertüre und will gerade fragen ob alles okay ist, als ich das Bild vor mir erkenne und auf der Stelle stehen bleibe. „Geh weg" murmelt Valerie nur erschöpft, und lehnt ihren Kopf gegen die Fliesenwand. „Val, wie lange schon?" frage ich leise, und das Mädchen vor mir sieht mich fragend an.

„Wie lange steckst du dir schon deinen verdammten Finger in den Hals?"

Valerie schluckt und zuckt dann mit den Schultern. „Es ist das erste Mal dass ich es wieder tue." „Wieder?" Ich runzle die Stirn, und Valerie seufzt. „Gibst du mir mal was zu trinken?" fragt sie dann leise, und ich nicke. Ich verschwinde in der Küche und bringe Valerie ein mit Wasser gefülltes Glas hoch.

Mittlerweile hat sie die Spülung betätigt und sich dann auf den Toilettendeckel gesetzt. „Danke" flüstert sie, und ich erkenne erst jetzt die getrockneten Tränen auf ihren Wangen. Während Valerie trinkt schicke ich Sidney kurz eine Nachricht.

Silas: Hey Siddy. Ich werde heute nicht kommen, tut mir leid. Wir sehen uns morgen.

Ich stecke mein Handy wieder weg und lehne mich gegen das Waschbecken. Valerie schließt erschöpft die Augen und atmet einige Male tief durch. „Also?" frage ich leise, und Valerie nickt. „Ich war mal magersüchtig" sagt sie dann leise, und bestätigt somit meinen Verdacht. „Ich war sogar für eine kurze Zeit in einer Klinik. Danach sind wir weggezogen, und haben hier ein neues Leben angefangen. Mir ging es gut, ich habe Sport gemacht und gut zugenommen."

Ich nicke kurz und schaue zu Valerie, die wieder ihre Augen schließt. „Was ist passiert?" frage ich leise, und Valerie zuckt mit den Schultern. Ihre Unterlippe fängt verdächtig an zu zittern, und als Valy ihre Augen öffnet, glänzen Tränen darin. „Ich komme nicht mit mir klar. Ich sehe mich anders als ich eigentlich bin, und ich weiss, dass es falsch ist. Dass das hier", sie zeigt auf sich und auf die Toilette, „falsch ist. Dass das nicht gut für mich ist. Aber mein Kopf ist so verdammt laut, es zerstört mich. Ich kann manchmal einfach nicht mehr."

Valerie sackt in sich zusammen, und ich nehme sie vorsichtig in den Arm. „Hey, es ist okay. Alles ist gut, ja? Ich bin da, wir sind alle da." Valerie klammert sich zitternd an mich, und ich streiche ihr sanft über den Rücken. Ich wusste, dass vor zwei Jahren Dinge passiert sind, die Valerie von innen zerstört haben müssen. Ich habe damit gerechnet, dass alles irgendwann aus ihr rauskommen wird. Und trotzdem schockt es mich, wie sehr sich ein Mensch fertigmachen kann.

„Ich habe eine Frage" flüstere ich, und spüre Valeries Nicken. „Hat Hunter was damit zu tun, dass es dir so schlecht ging?" Langsam nickt Valerie, und ich schlucke. Irgendwie ergeben all diese einzelnen Informationen, die ich über Valeries Vergangenheit habe, einen vagen Einblick in das Gesamtbild. „Können wir aus diesem Zimmer?" fragt Valerie leise, und ich nicke sofort.

Ich schiebe meine Arme unter Valeries Rücken und Kniekehlen und hebe sie hoch. Ihr Kopf fällt langsam gegen meine Brust, und ich entdecke auf ihrem Gesicht, wie erschöpft sie sein muss. Ich schlucke die Wut darüber, wie unfair das Leben manchmal sein kann, runter und entscheide mich kurzerhand dafür, Valerie zu mir zu bringen. Wir haben diese Art von Gesprächen immer auf meinem Bett gehalten, und irgendwie fühlt es sich richtig an.

„Komm, leg dich hin. Soll ich dir was machen? Tee? Kakao? Suppe?" Valerie lässt sich von mir in mein Bett legen und zieht dann die Decke hoch. „Nein, alles gut. Könntest du... könntest du vielleicht einfach hierbleiben und mir zuhören?" Ich nicke langsam und setze mich dann neben Valerie, die sich etwas aufrichtet. „Ich glaube du musst ziemlich verwirrt darüber sein, was alles passiert ist, oder?"

Ich nicke langsam und starre nach vorne. „Schon, ja. Aber du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht willst." Valerie schweigt kurz und seufzt dann. „Ich will aber" flüstert sie, und ich nicke. „Dann höre ich dir gerne zu. Nimm dir alle Zeit der Welt, okay?" Valerie lächelt mich schwach an und fängt dann, ihre Finger miteinander zu verknoten.

„Also, es hat alles damit angefangen, dass meine Eltern mich im Alter von fünf Jahren bei Maria, meiner Tante, abgesetzt haben. Ich weiss bis heute nicht wieso, und habe auch nie mehr was von ihnen gehört. In meinem Freshman Year habe ich dann Hunter kennengelernt. Was soll ich sagen? Ich war Hals über Kopf verliebt in ihn. Er hat mir das Gefühl gegeben, wichtig zu sein und gebraucht zu werden. Wir sind zusammengekommen, und ich hatte mit ihm mein erstes Mal. Ich war glücklich, bis ich herausgefunden habe, dass alles nur gespielt war. Dass das von Anfang so geplant war. Er hat mich fertiggemacht und bloßgestellt vor der ganzen Schule, vor der ganzen Stadt. Er hat mich zwar nie geschlagen, aber... angefasst. Ich war am Ende. Ich habe nichts mehr gegessen und mich trotzdem übergeben, ich habe nächtelang nur geheult und mich gefragt – wieso ich? Ich habe nie jemandem was angetan. Ich war immer freundlich zu anderen. Wieso also bekam ich sowas?"

Valerie wischt sich die Tränen von den Wangen, und ich greife nach ihrer Hand und verschränke unsere Finger miteinander. „Ich wurde gefunden. In meinem eigenen Zimmer. Mein Kreislauf hat das nicht mehr ausgehalten, mein Körper brauchte Nahrung. Ich wurde in ein Krankenhaus gebracht und darauf in die Jugendpsychiatrie. Es waren schlimme Zeiten, aber ich war froh, weit weg von Hunter zu sein. Sobald ich entlassen wurde sind wir hierhergezogen. Joshua hat mich mit zum Sport genommen, und ich habe hier meine Freunde kennengelernt. Es sollte mir gut gehen."

Ich nicke langsam und lege einen Arm um Valerie. „Es ist okay, Val. Es ist okay, sich nicht gut zu fühlen. Du darfst traurig sein, du darfst wütend sein. Aber bitte, bitte versprich mir was, auch wenn wir gerade sowas wie Streit haben." Valerie sieht mich fragend an, und ich schlucke.

„Hör auf damit und lass dir helfen, okay?"

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Past-reveal von Valerie :3

Denkt ihr, Valerie willigt ein?

Und was haltet ihr von ihrer Vergangenheit?

- xo, Zebisthoughts

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