Tamina-Tom
Mies gelaunt und mit einem fetten Kater schlurfe ich die Treppe ins Erdgeschoss hinunter- oder nennt man das überhaupt Kater, wenn es nicht von Alkohol kommt? Auf jeden Fall spüre ich die Überbleibsel von Mats Wunderzeug, welches ich auf der Party gestern ausprobiert habe, immer noch sehr deutlich.
„Guten Morgen, Schatz. Sandwich oder Cornflakes?", fragt meine Mutter, als ich neben Dad am Küchentisch platz nehme. Er sitzt wie immer ganz ruhig da und stöbert in der Zeitung, während Mom es wie immer nicht lassen kann mich auszufragen.
„Cornflakes", brumme ich und fasse mir an den pulsierenden Schädel. Aber wenn da noch etwas anderes ist, was ich neben dem Wunderzeug-Kater spüre, dann ist es Hunger. Meine Mom reicht mir Schüssel, Löffel und Cornflakesverpackung.
„Wie war die Party gestern?"
„Gut Mom, wie immer."
„Wieso siehst du dann so schlecht gelaunt aus?"
„Mom!", seufze ich und sehe zu Dad. Ich schicke ihm eine stille Aufforderung auch etwas dazu zu sagen, oder zumindest vom Thema abzulenken, doch er bleibt still. Ich verdrehe die Augen. „Es war wie immer, okay? Kannst du mich jetzt bitte in Ruhe essen lassen?"
Meine Mom zieht nur vielsagend die Augenbrauen nach oben, dann holt sie eine Tüte von dem Wohnzimmertisch. Ich wende den Blick ab und schütte erst die Cornflakes in meine Schüssel, welche ich anschließend in Hafermilch ertränke. Das funktioniert auch solange, bis meine Mom besagte Tüte vor mir abstellt.
„Für dich", sagt sie lächelnd „ich war gestern in der Stadt und dachte, dass du für die ganzen Partys vielleicht mal etwas neues zum Anziehen haben willst- ich weiß noch genau wie ich in deinem Alter war. Du sahst so anders aus, als du gestern zur Party gegangen bist- so als hättest du verzweifelt in dem Schrank deines Bruders nach coolen Klamotten gesucht."
Ich will gerade den Löffel mit Cornflakes in meinem hungrigen Mund versenken, da setze ich ihn wieder ab und schlucke trocken. Das hat gesessen. Ich wage es kaum zu meiner Mutter aufzusehen, also nehme ich einfach die Tüte vom Tisch und werfe einen Blick hinein. Ich muss es eigentlich nicht tun, weil ich genau weiß, was ich darin vorfinden werde. Aber ich tue es meiner Mom zuliebe. Ich werfe einen Blick hinein und werde nicht enttäuscht; ein blaues, trägerloses Kleid. Viel zu eng, viel zu figurbetont, viel zu wenig Ich.
„Danke, Mom", sage ich trotzdem, aber es braucht einen großen Haufen Überwindung, das erste Wort tatsächlich über die Lippen zu bringen, weil ich es eigentlich nicht so meine. Das ist schon das dritte Kleid diesen Monat und wird auch das dritte sein, welches ich nicht anziehe.
„Und Schatz, du solltest dich mal wieder rasieren", fährt sie fort und wirft erst einen Blick auf meinen leichten Oberlippenbart, dann auf die dunklen Stoppeln, die deutlich auf meinem karamellfarbigen Arm zu erkennen sind. Vor einem Jahr hat es mich noch gestört, dass ich den starken Haarwuchs von meinem Vater geerbt habe, aber jetzt mag ich es irgendwie. Ich zucke unmerklich zusammen. „Wir können auch zusammen zum Waxing gehen. Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Und deine Cousine nehmen wir auch mit. Ich mache gleich einen Termin aus."
Meine Mutter erhebt sich und ich weiß, dass sie jetzt ins Schlafzimmer gehen will, um mit ihrem Handy im Waxingstudio anzurufen. Aber ich will da nicht hin. Keine zehn Pferde kriegen mich in diesen Laden. Egal wie sehr meine Mutter bettelt. Ich halte das einfach nicht mehr aus. „Nein, Mom", widerspreche ich also „ich fühle mich wohl so."
„Du tust was?", fragt Mom irritiert, als spräche ich Chinesisch.
„Ich. Fühle. Mich. Wohl", wiederhole ich noch einmal besonders deutlich, damit meine Mutter auch versteht, was ich ihr sagen will. Doch diese blinzelt nur perplex, als rede ich immer noch in einer anderen Sprache.
„Ich verstehe dich nicht, Schatz. Wir können auch gerne eine anderer Enthaarungsmethode versuchen, wenn dir das lieber ist."
„Nein, Mom. Du verstehst mich nicht richtig. Ich möchte mich nicht enthaaren. Ich mag mich so wie ich bin."
„Aber Schatz. Du kannst doch nicht so rausgehen, das gehört sich nicht. Du siehst aus wie ein Junge."
Kaum hat meine Mom diese Worte ausgesprochen, kocht es in mir über. Die letzten Monate hat sie mich so mit ihren Worten und ihrer eingeschränkten Denkweise unglaublich genervt- und verletzt. Jetzt reicht es mir. „Ja Mom. Hast du es jetzt endlich verstanden? Ich fühle mich wohler damit ein Junge zu sein", brülle ich schon fast all die Gefühle heraus, die ich immerzu unterdrückt habe. Meine Mutter ist sprachlos- auch mein Dad wagt es für einen kurzen Moment den Blick von der Zeitung zu nehmen und mich anzustarren.
„Tamina, was sagst du denn da?", fragt meine Mutter ganz aufgelöst.
„Genau das was du gehört hast, Mom", erwidere ich, immer noch etwas grimmig aber wenigstens brülle ich nicht mehr.
„Schatz, ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich darauf antworten soll. Hat dir das einer von deinen neuen Freunden eingeredet? Ist das heutzutage cool? Tamina, bitte mache dir noch einmal Gedanken darüber. Das ist nur eine Ph-"
„NEIN MOM", jetzt brülle ich wieder „das ist keine verdammte Phase. Ich habe mir lange und viel Gedanken darüber gemacht. Ich verstehe, dass ich dich und Dad überrascht habe aber ich fühle mich im Körper eines Jungen einfach mehr wie ich selbst."
„Aber, Tamina, du bist ein Mädchen. So wurdest du geboren."
„Ich weiß, wie ich geboren wurde, Mom. Aber ich fühle mich in diesem Körper einfach nicht wohl. Hörst du mir überhaupt zu?", jetzt habe ich schon Tränen in den Augen, so nahe geht es mir.
„Zahid, was sagt du denn dazu?", fragt Mom entsetzt und wendet sich an meinen Vater, der wie immer gar nichts sagt.
„Es ist nicht wichtig, was ihr dazu sagt, Mom und Dad. Ich möchte einfach nur, dass ihr wisst, dass ich ...ein Junge bin", sage ich noch, dann schaffe ich es nicht länger meinen Eltern in die Augen zusehen. Auch der große Hunger von vor ein paar Minuten ist mir vergangen. Ich stürme zurück in mein Zimmer.
Als ich dann in der Schule im Französischunterricht sitze, trage ich zwar immer noch meine pinken Sneaker und eine Skinnyjeans, dafür aber einen lockeren Pullover und ich bin ungeschminkt. Ich bin fest überzeugt meinen Alltag in kleinen Schritten zu verändern. Es hat zwar gesessen, wie entsetzt mich meine Freundinnen heute Morgen bei unserer ersten Begegnung im Schulflur angesehen haben- ganz besonders Cecil- aber auch ihnen möchte ich sagen, dass ich trans bin.
„Sag mal, wo warst du eigentlich am Freitag letzte Woche, Tam? Ich habe dich auf meine Hausparty gar nicht gesehen", sagt Cecil Nummer drei. Ich selbst bezeichne mich gerne als Cecil Nummer zwei.
„Ja, ich habe euch auch gesucht, aber unter all den Menschen nicht gefunden", lüge ich. Denn eigentlich wollte ich, dass Cecil und die anderen mich suchen, dass sie mich- wie ein Kerl angezogen- erkennen. Aber das haben sie nicht. Und ich war einfach nicht mutig genug sie aufzusuchen.
„Wieso hast du nicht angerufen?", fragt Cecil und streicht sich die blonden Haare auf den Rücken, die wie immer perfekt gewellt sind. Ich habe absolut keine Ahnung wie dieses Mädchen es schafft jeden Morgen auszusehen, als sei sie der beliebtesten Modeklatschzeitschrift entsprungen. Ihr Makeup, ihr Outfit, alles sitz perfekt. Es gibt bestimmt kein Mädchen auf dieser Welt, das sich neben Cecil nicht hässlich fühlt. Doch mittlerweile habe ich festgestellt, dass es mich nicht stört, dass ich neben ihr hässlich aussehe. Ich will nicht mehr die Dünnste, oder die mit den schönsten Kurven sein. Auch nicht die mit dem krassesten Makeup oder mit dem eindrucksvollsten Outfit. Ich möchte einfach nur ich selbst sein. Und zwar in einem männlichen Körper.
„Mein Akku war leer, hab vergessen mein Handy vor der Party aufzuladen", das ist tatsächlich keine Lüge. Aber auch wenn ich mein Handy dabeigehabt hätte, hätte ich nie den Mut gehabt Cecil und die anderen anzurufen.
„Ach so", sagt Cecil Nummer vier und zuckt mit den Schultern, wobei sie beinahe ihren Lipgloss verschluckt. Ich habe nie verstanden wie man dermaßen süchtig nach dem Zeug sein kann.
„Du hast doch bald Geburtstag Tam, schmeißt du auch eine Hausi?", fragt Cecil Nummer drei. Ich schüttele mit dem Kopf.
„Ich habe gerade Stress mit meinen Eltern", gebe ich zu und seufze. Ich verstehe, dass sie Zeit brauchen, aber ich habe nicht eine so dickköpfige Reaktion von meiner Mutter erwartet. Auch von meinem Vater hätte ich gedacht, dass er zumindest ein Wort sagt. Aber er ist still geblieben, als wäre es ein Tag wie jeder andere gewesen. Als hätte ich nicht all meinen Mut zusammennehmen müssen, um es ihnen zu erzählen.
„Hey, Tam. Ich muss auf die Toilette, kommst du mit?", fragt Cecil und sieht mich abwartend an. Normalerweise lasse ich mir auf diese Frage eine Ausrede einfallen, doch dieses Mal stimme ich mit einem Nicken zu. Ich habe mich den ganzen Morgen schon komisch verhalten. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich das Ganze irgendwie ausgleichen muss.
„Oh, super. Ich habe gerade meine Tage und müsst-", fängt Cecil Nummer vier an, wird aber von der echten Cecil unterbrochen.
„Es ist zu offensichtlich, wenn gleich drei auf einmal gehen", sagt Cecil Holister in ihrem typisch befehlshaberischen Tonfall. Darauf schweigen die Cecil Attrappen wie immer. Unsere Freundschaft ist eine extreme Hierarchie, aber irgendwie hat nie jemand etwas dagegen unternommen. Ich weiß, dass meine Freundinnen mich akzeptieren werden, wenn ich es schaffe Cecil von mir zu überzeugen. Aber bin ich jetzt schon bereit dazu?
„Dann bis gleich, Mädels", sage ich und winke schwach. Anschließend folge ich Cecil, die wie immer mit erhobenem Kopf vor mir herläuft. Damit auch ja jeder ihre Position erkennt. Das hat sie sich bestimmt von ihrer Mutter abgeguckt, die Chefin einer großen Firma ist.
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