Leigh
Als ich das Haus von einem meiner Kumpels erreiche habe ich nicht damit gerechnet, ein völlig aufgelöstes Mädchen vorzufinden. Es ist Tamina, die auf der Treppe ihres Hauses sitzt und sich die Augen aus dem Kopf heult. Ich schlucke und überlege, ob ich auf direktem Weg umkehren soll. Hausaufgaben hin oder her- wenn ich sie mache, gebe ich sie sowieso nie ab. Ich würde auch nicht gestört werden wollen, wenn ich einen schwachen Moment habe. Doch umkehren kann ich auch nicht. Wie am Boden zerstört muss man sein, wenn man vor seinem Haus weint und es nicht einmal bis in seine eigenen vier Wände schafft?
Und dann kommt ein neuer Gedanke in mir auf und ich denke an eine Party zurück, die ich eigentlich schon längst verdrängt haben sollte. An die Party bei der ich das neue Wunderzeug von meinem Dealer ausprobiert habe, von dem auch Mat Walker ihm ein bisschen abschwatzen konnte. Ich erinnere mich an nicht viel, was in der Nacht passiert ist. Da sind nur Wellenbewegungen, Glückshormone und mehr Farben, als es eigentlich geben sollte- ich schwöre ich konnte sie sogar schmecken.
Aber ich weiß noch, dass ich irgendwann Mats Blick getroffen habe. Wir waren beide total high und haben uns aus dem Takt der Musik, aber dafür im Takt mit dem Wunderzeug bewegt. Es war eine so viel höhere Erfahrung, als bloß Musik. Ich kann mir nicht erklären, wie das alles passiert und was für unglaubliches Zeug das sein muss, das im menschlichen Körper solche Reaktionen hervorruft. Doch ich weiß noch, dass unsere Blicke sich getrennt haben, als jemand zu ihm kam. Ein Kerl, der mir irgendwie seltsam bekannt vorkam. Er wollte Mat wohl was abkaufen, war mir auch egal, also habe ich mich von den beiden abgewendet und einfach weiter meinen Trip gefühlt. Doch in diesem Moment erkenne ich den Kerl wieder. Es ist Tamina gewesen, das Mädchen, welches nun am Boden zerstört vor ihrem zuhause weint. Die kleine Schwester von einem meiner Kumpels.
Ich schaffe es irgendwie mich dazu durchzuringen zu ihr zu gehen. Sie trägt immer noch einen dieser Schlabberpullis, die sie schon seit Tagen in der Schule anhat und von denen ich mir sicher bin, dass viele Leute sie scheiße finden. Ungeschminkt ist sie jetzt auch immer, aber das steht ihr sowieso besser. Die wahrscheinlich auffälligste Veränderung ist jedoch, dass sie jetzt keine langen Haare mehr hat. Ihre schwarzen Haare sind nun auf der einen Seite auf der Länge ihrer Schultern und auf der anderen Seite auf der Länge ihres Kinns. Die Frisur sieht grausam aus- so als hätte nicht einmal sie selbst, sondern ein Waschbär sie geschnitten. Aber Taminas Traurigkeit geht tiefer, als dass sie von dem misslungenen Haarschnitt kommen könnte.
„Cooler Haarschnitt", sage ich trotzdem, als ich neben ihr auf der Treppe platz nehme. Sie wischt sich über das Gesicht, schluchzt, dann antwortet sie mir.
„Hab ich mit dem Taschenmesser von Mat geschnitten. Du musst nicht lügen. Auch ohne in den Spiegel zu sehen weiß ich, wie scheiße ich aussehe."
„Als du letzte Woche in die Schule gekommen bist, du weißt schon, so völlig anders als sonst. Mit einem bequemen Pullover und ohne Schminke. Das sahst du richtig gut aus. Aber nicht etwa wegen dem Pullover oder so- auch wenn sich das jetzt komisch anhört. Aber du sahst eben so richtig glücklich aus, als würdest du dich in deinem Körper wohl fühlen."
„Ich bin ein Kerl", sagt Tamina dann gerade heraus und mir stockt vor Überraschung der Atem. Ich bin irgendwie gerührt, dass sie, nein er, mir das anvertraut- obwohl es eigentlich nicht so sein sollte. Man sollte sich mit allem wohl fühlen dürfen. Und es verletzt mich, Tamina wegen seines Körpers offenbar so aufgelöst vorzufinden.
„Oh", ist alles, was ich dazu sagen kann. Ich muss die Information erst einmal verarbeiten, bevor ich mehr sage. „Aber das ist doch gut oder? Ich meine, wenn du dich so wohler fühlst."
„Ja", gibt Tamina kurzlippig zurück und stützt seine Ellenbogen auf den Knien und seine Hände im Gesicht ab. „Ich wünschte meine Eltern würden das auch so sehen. Oder Cecil."
„Sie brauchen einfach Zeit", sage ich gerade heraus, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. „Ich meine, nicht dass ich mich in der Position befinde dir Ratschläge zu erteilen. Ich glaube einfach nur, dass es schwer sein muss, wenn eine Tochter oder eine gute Freundin einem erzählt, dass sie eigentlich ein er und trans ist. Vielleicht gibt man sich ja auch selbst die Schuld, es nicht früher erkannt zu haben."
„So hat sich das aber nicht angefühlt. Mehr so, als würde mich jeder auf dieser verdammten scheiß Welt dafür hassen. Außer vielleicht dir und meinem Bruder. Oh, und Mat Walker. Aber- nichts für ungut- das war nicht gerade das, was ich mir erhofft habe."
Ich lache auf „kann ich mir vorstellen."
Und dann sind wir still. Keiner hat mehr etwas zu sagen. Er weint weiter und ich lege meinen Arm um seinen Rücken. „Hast du dir schon einen Namen überlegt?", frage ich irgendwann, als ich bereits das Gefühl für die Zeit verloren habe.
„Ja, Tom."
„Tom ist ein toller Name. Passt zu dir."
„Danke."
Und dann sind wir wieder still. Er schluchzt und ich tätschele ihm mitfühlend den Rücken. Es vergeht wieder Zeit, die ich nicht genau bestimmen kann- es erscheint mir unhöflich auf die Uhr zu sehen- da taucht noch jemand in der Einfahrt auf. Es ist niemand anders als Cecil Holister persönlich. Ich schnaube, weil ich an unser Gespräch im Park denken muss. Und Tom schnaubt auch, aus Gründen die ich mir durchaus vorstellen kann.
Ich hätte fast schon damit gerechnet, dass Cecil hier auftaucht um über Tom herzuziehen. Die beiden sind zwar befreundet, aber das hält Cecil ja bekanntlich auch nicht davon ab. Trotzdem ist es so, als wären wir alle mit daran schuld. Weil niemand etwas dagegen unternimmt. Weil alle Cecil anbeten, als sei sie eine Göttin oder sowas. Als würde ihre Beliebtheit nach der Highschool noch irgendetwas bedeuten. Aber die Narben, die sie auf den Leuten hinterlässt, die sie mobbt, die bleiben für immer.
Aber Cecil sieht nicht so aus, als würde sie Tom fertig machen wollen, ganz im Gegenteil; sie weint. Ihr laufen dicke Tränen über die Wangen und ihr Körper bebt unter Schluchzern. Auch ihre Kleidung ist viel zu normal für ihre Verhältnisse. Es ist als ob eine ganz andere Person auf Tom und mich zukommen würde- so krass, dass ich mich schon frage ob Cecil vielleicht eine Schwester hat. Doch ich kenne sie seit dem Kindergarten, weil wir in derselben Nachbarschaft wohnen, und wenn sie eine Schwester hätte, dann wüsste ich davon. Trotz ihres aufgelösten Erscheinungsbildes erhebe ich mich fest entschlossen und balle die Fäuste.
„Was willst du hier, Cecil?", knurre ich und trete einen Schritt auf sie zu. Sie bleibt etwa einen halben Meter von mir entfernt stehen und sieht mir kalt in die Augen.
„Das könnte ich dich genauso fragen", entgegnet sie. Ich schnaube.
„Oh genau, Cecil Holister wie sie leibt und lebt. Sonst noch etwas auszusetzen? Vielleicht meine heutige Schuhwahl oder der Pickel auf meiner Stirn, den man nur mit einem Mikroskop sehen kann? Oder am besten noch die Tatsache, dass ich ja so unecht bin?", ich provoziere sie, doch ich kann mich einfach nicht zurückhalten, so sauer bin ich.
„Ja, du hast Recht. Deine Schuhwahl könnte besser sein", antwortet sie zu meinem Erstaunen „deine Pickel sind mir jedoch scheißegal. So genau sehe ich dich überhaupt nicht an. Und ja, ich habe zu dir gesagt dass du dich unehrlich verhältst und das tut mir leid. Du hattest Recht, gerade ich befinde mich nicht in der Position dir sowas vorzuwerfen."
Ich ziehe überrascht meine Augenbrauen hoch. „Wer bist du und was hast du mit Cecil Holister gemacht?", frage ich entsetzt. Es ist völlig neu, dass sie jemandem Recht gibt und sich dann auch noch entschuldigt. Es ist wie das achte Weltwunder.
„Ich bin mir über etwas klar geworden. Und Tamina, nein Tom, es tut mir leid was ich zu dir gesagt habe, das war einfach respektlos und unbedacht von mir", sagt Cecil jetzt an Tom gerichtet, welcher bei dem Klang seines neuen Namens überrascht aufsieht- offenbar hat Cecil ihn vorher nie ausgesprochen. Ich frage mich echt, was in sie gefahren ist. „I-Ich-", fängt Cecil an, doch stockt und fängt wieder an zu schluchzen. „Da ist etwas, was ich dir nicht erzählt habe, etwas wovon ich niemandem erzählt habe. Ich schäme mich unglaublich dafür- aber ich schäme mich noch mehr dafür, was für eine Person ich geworden und wie ich mit dir umgegangen bin. Es tut mir verdammt leid und ich hoffe, dass du irgendwann dazu in der Lage sein wirst mir zu verzeihen."
„Red' weiter", sagt Tom, sieht Cecil dabei jedoch nicht an.
„E-Es war in der vierten Klasse. Ich hatte große Probleme damit mich unter Menschen zurechtzufinden, also haben mich meine Eltern zu zahlreichen Ärzten geschickt- aber nichts hat geholfen, niemand wusste, was mit mir nicht richtig ist. Ich habe also einfach das nachgemacht, was andere beliebte Kinder in meiner Klasse gemacht haben; ich habe angefangen über andere herzuziehen und mich über sie lustig zu machen. Ich gebe auch niemandem die Schuld dafür- nur mir selbst, weil es meine Entscheidung war. Ich wusste es nicht besser, weiß ich heute ja auch nicht."
Cecil setzt sich neben Tom auf die Treppe und atmet tief durch. Neben dem Sprechen und Schluchzen hat sie das wohl vergessen. Auch ich nehme wieder darauf platz und so sitzen wir dicht aneinandergedrückt auf den Stufen vor der Haustür zu Toms zuhause. Es ist kalt geworden, aber außer mir scheint niemand einen Gedanken daran zu verschwenden. Ich frage mich, ob ich jetzt gehen sollte, weil es mich nichts angeht, doch ich bleibe.
„Da war dieser Junge, in meiner Klasse damals", fährt Cecil fort, als sie wieder gleichmäßig atmet und nicht mehr schluchzt. „Er hat sich unglaublich mädchenhaft benommen und ich fand das affig. Keine Ahnung ob er es gemacht hat, weil er einfach so war oder weil er tatsächlich trans und ein Mädchen war- damals hat sich niemand mit so etwas beschäftigt. Na ja, über ihn sind die meisten Jungs aus unserer Klasse hergezogen, also bin ich einfach mitgegangen. Ich habe viel Zeug gemacht, auf das ich heute alles andere als stolz bin. Ich habe Beleidigungen auf seine Schulbücher geschrieben, ihn persönlich beleidigt, geschubst, angespuckt. Ich war schlimmer als heute", sie lacht auf, aber es ist ein trauriges Lachen. „Ja, tatsächlich. Ich bin noch schlimmer gewesen als heute."
Und dann fängt Cecil wieder an zu weinen. Tränen strömen über ihr Gesicht und sie schert sich gar nicht darum, sie abzuwischen- wahrscheinlich weil sie weiß, dass ihre Wangen in Null Komma Nichts sowieso wieder nass sein werden. „Und dann ist etwas Grausames passiert", sagt Cecil, wobei gut die Hälfte ihrer Worte in Schluchzern untergeht. „Es war kurz vor den Sommerferien, da kam dieser Junge auf einmal nicht mehr zur Schule. Und ich, ich habe keinen Gedanken an ihn verschwendet. Vielleicht habe ich sogar schon an den nächsten Streich gedacht, den ich ihm spielen würde, wenn er wieder da wäre. Und dann, am ersten Ferientag lag ein Brief bei uns zuhause auf dem Küchentisch. Man hatte unsere Familie angezeigt."
„Okay", sagt Tom. Er scheint zwar überrascht, aber verzieht das Gesicht, weil er nicht versteht worauf Cecil hinaus will.
„In dem Brief stand...da stand drin das...verdammt in dem scheiß Brief stand, dass mein Klassenkamerad, sein Name war Joseph, Selbstmord begangen hat", zwängt Cecil zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und Tom und ich verstummen. Bis gerade habe ich noch gespannt mit dem Fuß auf dem Boden herumgetippt, doch damit höre ich jetzt auf und sehe Cecil, die Cecil die ich schon seit Ewigkeiten kenne, entgeistert an. „Er hat sich das Leben genommen und im Abschiedsbrief stand mein Name. Ich war einer der Gründe für seinen Tod. Seine Eltern haben mich angeschrieen- fast schon geschlagen. Und meine Eltern haben mich angeschrieen und geschlagen. Und dann war ich auf der Beerdigung und habe die Leiche von dem Jungen gesehen. Und auch wenn etwas in mir ausgelöst wurde, so war ich doch nicht traurig. Mir war klar, dass ich ihn nie wieder sehen und nie die Möglichkeit haben würde, mich zu entschuldigen. Doch ich war nie traurig- zumindest nicht bis zu seinem Todestag vor einer Woche. Und das ist, wie krank ich bin. Ich habe einen Jungen in den Selbstmord geführt und meine Eltern zu Trennung gebracht- sie haben es zusammen mit einem gestörten Kind wie mir nicht ausgehalten."
„Es tut mir leid", sagt Tom und nimmt Cecils Hand in seine. Ich bin überrascht, aber Cecil ist sogar noch geschockter als ich über diese Reaktion.
„Was tut dir leid? Ich bin einfach nur krank."
„Es tut mir leid, dass ich nie gefragt habe, dass es mir nie aufgefallen ist und dass ich nicht für dich da war", erwidert Tom und beide haben Tränen in den Augen. Auch ich spüre schon das Brennen, versuche es jedoch zu unterdrücken.
„Das muss es nicht. Ich bin doch diejenige, die von Außen immer perfekt sein muss und nur über Oberflächligkeiten spricht. Ich hätte es dir schon viel früher erzählen sollen, aber ich konnte einfach nicht. Es tut mir leid, dass es meinetwegen so gekommen ist. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe wie du bist- egal welches Geschlecht, welche Sexualität oder was auch immer. Bitte vergiss, was ich zu dir gesagt habe. Ich hatte einfach nur Angst. Ich hatte Angst, dass mit dir dasselbe passieren könnte wie mit meinem Mitschüler und dabei habe ich gar nicht bedacht, dass deine Entscheidung schon längst feststand und ich dich einfach hätte unterstützen sollen. Ich bin einfach dumm. Es tut mir leid, Tom."
„Ich verzeihe dir, Cecil. Danke, dass du gekommen bist", erwidert Tom und zieht seine beste Freundin in eine Umarmung. „Du auch, Leigh. Danke, dass du mich aufgeheitert hast." Und mit einem Arm zieht Tom mich dann auch noch in die Umarmung. Es ist wie in so einem kitschigen Film über die Freundschaft, die meine sechsjährige Schwester immer guckt. Doch ich sage nichts, sondern bleibe einfach still.
„Ach ja, wenn es für dich okay ist", sagt Cecil dann nach einer Weile an Tom gerichtet. „Ich habe eine Haarschere mitgenommen. Ich dachte wir verpassen dir mal einen anständigen Kurzhaarschnitt."
„Ja, das wäre toll. Danke, Cecil."
„Für dich immer, bester Freund."
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