Cecil

Nach der Schule führe ich wie immer unseren dreckigen Köter aus. Den Mischling, den Dad irgendwo auf der Straße aufgesammelt und einfach als neuen Teil unserer Familie bestimmt hat. Aber das macht er ja immer so. War bei seiner neuen Frau und ihren Kindern genauso. Und jetzt erwartet er auch noch, dass ich da mitspiele. Dass ich nett zu meinen neuen Geschwistern und seiner Verlobten bin. Dass ich täglich mit dem stinkenden Köter rausgehe.

Ich war schon immer eher der Katzentyp, aber das interessiert ja keinen. Alles was meinen Dad jetzt noch interessiert, ist mit den Söhnen seiner Verlobten im Garten Fußball zu spielen- das habe ich ja nie gemocht. Oder über den Bauch seiner Verlobten mit dem Baby darin zu streichen und ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen Wunsch geäußert habe- oder wann meine Eltern mich das letzte Mal wie einen normalen Menschen behandelt haben. Einen Menschen ohne Störung. Und doch erinnere ich mich ganz genau an den einen Tag in der vierten Klasse.

In der Schule werde ich verehrt, ohne prahlen zu wollen. Keine Ahnung wieso, aber alle scheinen auf mich abzufahren. Mein Aussehen, die guten Gene meiner Mutter. Die vollen Lippen, die kleine Nase, die blonden Beachwaves. Ich wünschte mein Dad wäre mehr wie meine Mitschüler; oberflächlich. Denn das kann ich. Oberflächlich betrachtet bin ich perfekt. Wie ein geschliffener Diamant- nur eben mit dem Inhalt eines Lehmklumpens. Oder Gift, wenn es nach meiner Mutter geht. In den Augen meiner Eltern bin ich der Horror eines Kindes- wie wahrscheinlich in den Augen aller anderen Eltern auch, wenn sie wüssten, was ich getan habe. Was ich Leuten immer noch antue. Weil ich einfach nicht damit aufhören kann.

Aber es fühlt sich so gut an, oberflächlich zu sein. Nur auf das Äußere zu achten und nicht das, was sich ganz tief in mir befindet. Die Seite, die niemand sehen will, die Seite die jeder hasst. Die kranke Seite von mir. Der Grund wieso meine eigenen Eltern mich nicht ausstehen können.

Ich ziehe den hässlichen Mischling weiter, der gerade wohl entschieden hat, dass es besser wäre mitten durch ein Gebüsch zu gehen, als einfach weiter dem Weg zu folgen. Aber nicht mit mir. „Komm, Köter", murmele ich also und ziehe den Hund wieder auf den Parkweg.

„Schlecht gelaunt und zur Abwechslung mal nicht von einer Scharr Klonen umgeben, interessant Cecil Holister. Dass ich das noch erlebe", witzelt Leigh, den ich hier schon öfter angetroffen habe. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt gerade absolut keine Lust habe mit ihm zu reden- oder mit irgendwem. Ich will einfach nur nachdenken und meine dunkle Seite bedauern. Bedauern, dass ich nach all der Zeit immer noch so ein verdammtes Miststück bin. Aber diese Rechnung habe ich anscheinend ohne Leigh West geschrieben.

„Hey, wohin gehst du? Ich wollte dich doch nicht beleidigen!", ruft er mir nach, als ich einfach ohne zu antworten an ihm vorbeiziehe. Doch er lässt nicht schlapp und joggt mir einfach hinterher.

„Lass mich mit deinen schlechten Witzen einfach in Ruhe. Okay, Leigh? Ist es so schwer für eine Minute mal nicht der Machokerl zu sein, als den du dich immer gibst?", fauche ich, ohne es wirklich zu wollen. Doch der Streit mit meiner besten Freundin und die Tatsache, dass meine Eltern mich hassen, liegt mir tief in den Knochen.

„Aber du machst etwas anderes?", entgegnet Leigh, nun auch schon deutlich ernster als vor einer Minute. „Ich wollte dich nur aufmuntern. Kein Grund mich direkt so anzupampen. Und halt mir keinen Vortrag darüber, wie es ist echt zu sein. Denn wenn einer fake ist, Cecil Holister, dann ja wohl du."

Und mit diesen Worten verschwindet er dann auch. Einfach so. Der kann mich mal. Ich bin nicht echt? Der soll verdammt noch mal in den Spiegel schauen. Wenigstens ergibt es bei mir Sinn, dass ich mich verstecke. Ich verstecke eine Seite, die niemand sehen will. Ich tue es also für die Gesellschaft. Leigh West versteckt lediglich seine Intelligenz, was ihn einfach nur hohl macht. Viele Menschen wünschen sich sein IQ und er verschwendet es.

Irgendwann bleibe ich auf dem Weg stehen, weil der Köter sein Bein an einem Baum heben muss. Ich seufze, auch wenn das ja streng genommen der Grund ist, wieso wir hier sind. Wie ich den Mischling kenne, wird sein Geschäft noch Ewigkeiten dauern. Von all den scheiß Kötern auf diesem Planeten musste sich mein Vater natürlich gerade den aussuchen, der am längsten braucht sein Geschäft zu erledigen. Ich verdrehe die Augen und versuche mich abzulenken, indem ich mir durchlese, was auf den Flyern an einer Tafel steht- doch auch die sind so langweilig, dass ich mir wünsche ich hätte mein Handy mitgenommen.

Da sind Leute die sich selbst als den besten Babysitter überhaupt bepreisen und andere, die einen Schach- oder Joggingpartner suchen. Das Marketing ist grausam. Die Flyer locken einen kein bisschen an. Sie sind äußerlich total langweilig und man schläft schon bei den ersten Worten der Beschreibungen ein. Das Einzige was mich auf der Tafel- wenn auch nur ein bisschen- anspricht, ist das große bunte Plakat.

Ein Abend, wie du ihn noch nie erlebt hast!

Frohsinn und noch mehr Frohsinn!

Das solltest du gesehen haben, bevor du stirbst!

Nur noch diese Woche, das darfst du dir nicht entgehen lassen!

Die Farben knallen mir nur so ins Gesicht, wobei komplett ignoriert wird, dass viele von ihnen kein Stück zusammenpassen. Auch die Sprüche sind nicht gerade originell. Aber sie sind so komisch, dass sie schon wieder gut sind. Und die vielen Farben und Motive sind so wirr, dass man quasi darauf starren muss. Einfach weil auf dem Plakat so viele verschiedene Sachen passieren, die man auf einmal gar nicht wahrnehmen kann. Ich werfe einen Blick auf Ort und Datum. Wie lang diese Show wohl schon her ist? Zwei Jahre oder drei? Zehn würden mich auch nicht wundern. Ich glaube nicht, dass hier irgendjemand sich darum kümmert wie aktuell die Plakate und Flyer sind.

Tatsächlich sind es aber keine zehn Jahre. Nicht einmal drei oder zwei. Tatsächlich ist das Plakat sogar aktuell und hat, wenn ich das richtig erkenne, heute seine letzte Vorstellung. Nicht, dass es mich interessieren würde. Die Leute die das Plakat designed haben, haben vielleicht mehr Ahnung als die Leute von den Flyern, doch das überzeugt mich lange nicht. Wenn ich mich auf einer Veranstaltung sehe, dann bei einem Catwalk oder einer Preisverleihung. Aber nicht bei einem komischen Zirkus, Theaterstück, Musical oder was auch immer das ist, wofür das Plakat wirbt!

Doch dann befinde ich mich abends um kurz vor acht tatsächlich an dem Club in dem die Veranstaltung von dem bunten Plakat stattfinden soll. Die Schlange ist länger als erwartet und die Menschen normaler. Gemäß den kuriosen Motiven und Farbkombinationen dachte ich, dass eben Zuschauer erscheinen würden, die genauso sind. Aber jetzt weiß ich erst, wie naiv dieser Gedanke war. Menschen sind eben normal. Und Normalität ist langweilig. Deswegen kommen die Leute her um sich von ihrem eintönigen Leben abzulenken- bin auch ich deswegen hier?

Ich habe mich sogar extra unauffällig angezogen- oder zumindest unauffälliger als sonst. Ich trage weiße Sneaker, eine Jeans und einen bauchfreien Kapuzenpullover, meine Haare habe ich unter der Kapuze zu einem Zopf geflochten. Zu etwas Lockererem konnte ich mich nicht motivieren. Doch jetzt wo ich bei der Vorstellung bin- ich weiß jetzt, dass es sich dabei um ein Musical handelt- komme ich mir affig vor. Niemand achtet auf mich. Das hier ist nicht die Highschool. Es ist überhaupt niemand hier, der auch nur ansatzweise mein Alter hat. Ich nehme mir also die Kapuze ab und lächele den Mann am Eingang freundlich an.

„Zum ersten Mal hier?", fragt dieser grinsend und reicht mir eine Eintrittskarte. Sein Gesicht ist stark geschminkt und ich bin überrascht, dass es mich kein bisschen stört. Ich finde, dass es ihm sogar verdammt gut steht- ich kann auch gut schminken, aber nicht so gut. Vielleicht hat die Tatsache, dass der Mann vor mir geschminkt ist und es mich nicht stört, ja auch etwas damit zu tun dass es ihn nicht stört. Der Mann strahlt Frohsinn und Selbstbewusstsein aus.

„Ja, ich habe auch schon bemerkt, dass ich die Einzige hier in meinem Alter bin", erwidere ich- in meinem typisch selbstüberzeugten Tonfall- reiche ihm das Geld und nehme die Karte entgegen. „Hey, das Glitzerzeug auf deinen Liedern. Woher hast du das?"

„Betriebsgeheimnis, Süße. Gefällt es dir?"

„Ja, es steht dir."

„Danke, Süße. Wenn du mir versprichst etwas Werbung bei Leuten in deinem Alter zu machen und dann nochmal herkommst, sage ich dir gerne wie man die Tinktur anmischt."

„Ich dachte, das ist heute die letzte Vorstellung?"

„Die letzte Vorstellung von diesem Musical, ja. Aber wir arbeiten schon an einem neuen, welches dann in vier Wochen auf die Bühne geht."

Darauf nicke ich nur und betrete den Saal. Ich glaube zwar nicht, dass ich die Vorstellung weiterempfehlen oder gar noch einmal herkommen werde, aber ich lächele trotzdem. Die Stühle sind in rotem Samt eingekleidet und sehen unglaublich bequem aus. Die Decke ist hoch und die Kronleuter beeindruckend. Allein für die Atmosphäre hat es sich als wert erwiesen, heute zu der Veranstaltung zu gehen.

Ich sehe, dass man sich sogar etwas zum Essen kaufen kann, wie im Kino, wenn man möchte, doch ich verzichte. Wenn man von Außen betrachtet perfekt sein will, muss man leider Gottes auch auf seine Figur achten.

Ich mache die Regeln nicht, ich folge ihnen bloß.

Ich nehme also auf meinem eigenen Samtstuhl platz und genieße das überaus bequeme Material. Und er riecht auch noch gut. Nach einer Blume die ich zwar kenne, aber nicht benennen kann und salzigem Popcorn. Doch ich werde nicht hungrig. Dafür bin ich zu sehr an das Bedürfnis gewöhnt.

Es dauert noch eine Weile, bis es acht Uhr ist und das Musical beginnt. Die meisten Leute verpflegen sich gerade auch noch mit Essen oder Getränken und befinden sich deswegen nicht auf ihren Plätzen. Ich sehe mich unter den Leuten um. Viele von ihnen sind ganz normal- Leute, die meine Nachbarn sein könnten. Ein paar Punks sind auch dabei. Auch ein paar Kerle, die genau wie der Typ am Eingang stark geschminkt sind. Bei anderen Kerlen wiederum bin ich nicht sicher, ob man sie überhaupt noch als Kerle bezeichnen kann. Aber ich weiß auch nicht, ob sie als Frauen durchgehen würden. Eigentlich weiß ich nicht, ob sie überhaupt als irgendwas durchgehen würden- und ob es eben genau das ist, was sie mit ihrem Aussehen bezwecken wollen.

Tamina würde es hier gefallen, fährt es mir durch den Kopf und ich zucke vor Schreck zusammen. Es tut weh. Dieser Gedanke tut so verdammt weh. Was hab ich nur angestellt?

Doch ich kann nicht lange in Selbstmitleid versinken und mich dafür runtermachen, was ich zu meiner besten Freundin- zu Menschen generell- gesagt habe, wie ich sie beleidigt und verletzt habe. Denn die Vorstellung geht bereits los. Die Menschen sitzen jetzt auf ihren Plätzen und es ist mucksmäuschenstill- oh Junge, wo kommt dieses Wort jetzt her? Die leise Hintergrundmusik von eben wurde ausgestellt und man hört nur noch das Geräusch der sich langsam öffnenden Vorhänge. Sie sind senfgelb und das Material glänzt im Dunkeln und sieht ziemlich schwer aus. Ich staune schon, bevor das Musical überhaupt angefangen hat.



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