59 - Aleyna - Wo ist die Kette?
Ich weiss nicht, wie lange ich jetzt schon hier sitze und versuche, nicht den Verstand zu verlieren. Es könnten Stunden sein, genauso gut aber auch Tage. Ich weiss es einfach nicht. Es könnte hell sein, und ich wäre nicht überrascht. Es könnte dunkel sein, und ich wäre nicht überrascht. Meine Kehle ist staubtrocken, und ich spüre jeden einzelnen Knochen, den ich besitze. Ich brauche dringend Bewegung, doch es gibt hier keine Möglichkeit, sich großartig zu bewegen.
Außerdem schmerzt meine frisch genähte Wunde höllisch, und ich weiss nicht, ob sie sich entzündet hat oder nicht. Noch immer ist sie von einem Pflaster abgedeckt, und mittlerweile ist dieses Pflaster noch von einem Verband umgeben. Ab und zu kommt der nettere Junge der beiden Männer zu mir, um mir etwas zu essen oder zu trinken zu bringen.
Er hat sich die Wunde auf meinen Wunsch hin zwar angeschaut, jedoch nichts Schlimmes feststellen können. Er hat das Pflaster gewechselt, und mir einen Verband um den Bauch gewickelt. Er spricht nicht sehr viel, und steht offensichtlich unter seinem Bruder. Dieser hat sich nur selten blicken lassen, und meistens nur versucht, mit mir zu sprechen. Da ich Ray nicht gefährden möchte, antworte ich so knapp wie möglich, damit er wenigstens nicht sagen kann, ich ignoriere ihn. Auch wenn ich es gerne tun würde.
Mittlerweile hat sich der jüngere Mann als Kaden vorgestellt, und mir die Annahme bestätigt, dass die beiden Brüder sind. Den Namen seines älteren Bruders kenne ich nicht, jedoch interessiert mich dieser auch nicht sonderlich viel. Ich will einfach nur hier raus und meine Ruhe haben. Ich höre, wie sich die Türe öffnet, und drehe meinen Kopf leicht in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Langsam habe ich mich an die Dunkelheit hier gewöhnt.
Nach genauerem Hinsehen erkenne ich Kadens Bruder, der einen Stuhl dabei hat. Diesen stellt er in der Mitte des Raums hin, ehe er sich rittlings draufsetzt. „Wo ist die Kette?" Ich runzle leicht die Stirn, und rapple mich etwas auf. „Welche Kette?" frage ich, und der Mann seufzt. „Du weißt genau, welche Kette ich meine. Wieso trägst du sie nicht?" Ich schlucke, und zucke mit den Schultern.
Nachdem sie mir bei der Party fast weggenommen wäre, hat Ethan die Kette an sich genommen und gut versteckt, zu meiner eigenen Sicherheit. Ich weiss seit Monaten nicht, wo dieses mir so wichtige Schmuckstück ist, doch es ist besser so. „Ich weiss es nicht", antworte ich also wahrheitsgemäß, doch es war abzusehen, dass mir der Mann nicht glaubt. „Verarsch mich hier nicht, du bewegst dich auf ziemlich dünnem Eis", zischt er, und sieht mich eindringlich an. „Wo ist die verdammte Kette?"
Ich schliesse kurz die Augen und atme tief durch, ehe ich dem Mann ernst entgegenblicke. „Ich weiss es nicht, verdammt. Ich trage sie seit der Party nicht mehr, da ich ehrlich gesagt nicht sonderlich viel Lust auf eine weitere Dosis Heroin hatte." Da der Mann mich nicht überrascht ansieht, gehe ich davon aus, dass er von dem Vorfall weiss, doch überzeugt scheint er noch immer nicht zu sein. „Du verlierst ein so wichtiges Schmuckstück einfach so?" Ich zucke mit den Schultern. „Es ist sicherer für mich, wenn ich nicht weiss, wo das Teil steckt."
Der Mann schüttelt den Kopf, steht auf und kommt mir bedrohlich nahe. „Ich bin mir sicher, dass du dich bald wieder daran erinnern wirst, wo deine Kette steckt", spuckt er mir entgegen, ehe er den Raum mit grossen, schweren Schritten wieder verlässt. Ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht, und atme auf. Es war klar, dass die Männer weiterhin nach meiner Kette suchen werden, doch ich habe nicht damit gerechnet, dass sie es so tun werden. Ich hoffe die Jungs bereiten sich darauf vor, dass vielleicht bald mal jemand bei ihnen vorbeischaut.
Sowieso frage ich mich, wie der Auftrag eigentlich gelaufen ist. Wenn alles nach Plan verlaufen ist, sollte Javier ja jetzt eigentlich tot sein, doch davon gehe ich eher nicht aus. Wahrscheinlich hat er die Jungs - vor allem Nate - mit Rays und meiner Entführung überrascht, und hat ihn nun somit in der Hand. Wir sind ein ideales Druckmittel für Nate, das weiß jeder, der ihn länger beobachtet hat. Und das hat Javier bestimmt. Doch ich frage mich, wieso die Männer ursprünglich nur Ray entführen wollten.
Wieso nicht gleich ihn und mich?
Was hatten sie mit Ray vor, und wie wäre ich darin verwickelt gewesen?
An meine Kette wollen sie ja immer noch. Und diese würde ich niemals einfach freiwillig hergeben. Vielleicht war Ray ja auch gar nicht als Druckmittel für Nate gedacht, sondern für mich?
Ich bin auf einen Schlag hellwach, als sich langsam einige Puzzleteile in meinem Kopf zusammensetzen. Was, wenn ich hätte erpresst werden sollen? Würde ich Ray nicht helfen, würde Nate mich umbringen, und ich hätte für immer ein schlechtes Gewissen. Das ist ganz schön viel Druck, unter dem ich ziemlich sicher nachgegeben hätte. Dass ich dummerweise ebenfalls im Zimmer aufgetaucht bin, ist den Männern nur recht gewesen, und natürlich konnte Javier uns beide somit auch als Druckmittel gegen Nate verwenden, der im Begriff war, ihn zu töten.
Das würde viel mehr Sinn machen, denn Javier wusste nichts davon, dass er getötet werden sollte, wozu sollte er also ein Druckmittel gegen Nate suchen? Wir kamen ihm einfach gerade sehr gelegen, Teil des ursprünglichen Plans war das jedoch nicht. Es ging von Anfang an um diese beschissene Kette, und ich habe keine Ahnung, was so besonders an ihr ist.
Jedoch bin ich nicht blöd und weiß, dass Ramírez wohl schlimme Dinge mit ihr erreichen könnte. Wahrscheinlich hat sie was mit Dad und seinen Geschäften zu tun. Vielleicht sogar mit der Mafia.
Das Schloss der Türe knackt wieder, und kurz darauf steht Kaden im Raum. Er spricht kein Wort und sieht mich nur desinteressiert an, während er die Türe wieder hinter sich schließt. „Aufstehen", brummt er schließlich mit seinem starken südländischen Akzent, und stellt sich wartend vor mich. Ich gebe mein Bestes, um mich aufzurappeln, doch meine Knie geben direkt nach, sobald ich Gewicht auf sie ausüben möchte.
„Ich kann nicht", gebe ich mich schlussendlich geschlagen, und Kaden kommt zu mir. Mit einem Ruck hat er mich hochgehoben, und etwas überrascht klammere ich mich an seinen Hals. Wir verlassen endlich diesen Betonraum, in dem ich bisher festsaß, und gehen einige Flure runter. „Wo gehen wir hin?", frage ich irgendwann, und Kaden sieht kurz zu mir. „Wirst du sehen", murmelt er dann nur, und öffnet eine Türe. Ich runzle die Stirn, sage aber nichts mehr. Schweigen ist Gold, nicht?
Kadens Gesichtsausdruck nach zu urteilen begeben wir uns an einen Ort, an dem mich wohl eher weniger schöne Dinge erwarten werden, doch ich weiß, dass es keinen Sinn hat, mich zu wehren. Ich werde lieber wie jetzt durch den Flur getragen, als zappelnd an Seilen den Boden entlang geschleift oder sowas.
„Wir sind da." Kaden stößt eine Türe auf, und wir betreten einen erstaunlich hellen Raum. Es sieht aus wie ein Wohnzimmer, nur fehlen einige Möbel. Es befinden sich genau zwei Stühle, ein Fernseher und eine Kamera in diesem Raum. Ich schlucke hart als mir langsam bewusst wird, was mir blühen könnte, und direkt darauf setzt Kaden mich auf einen der beiden Stühle. Auf dem Stuhl mir gegenüber sitzt sein Bruder, der mit einem gehässigen Grinsen zu seinen Männern sieht. Dann nickt er, und der Fernseher flimmert auf.
Sofort erkenne ich eine Person, die gefesselt am Boden liegt, und ein ersticktes Geräusch verlässt meinen Mund, als ich Ray erkenne. Er hat sein Gesicht von der Kamera, welche in einer Ecke des Raums zu hängen scheint, abgewendet, und bewegt sich keinen Millimeter. Doch ich erkenne seine Statur sofort. Es ist deutlich zu sehen, dass es ihm nicht gut geht – viel schlechter als im Krankenhaus. Und ich muss nicht lange überlegen um zu wissen, dass er seine Medikamente noch nicht bekommen hat.
Diese nehmen ihm unter anderem wenigstens die Schmerzen etwas. Wut macht sich in Sekundenschnelle in mir breit, und es kostet mich unglaublich viel Kraft, um nicht einfach auf diesen Mistkerl vor mir loszugehen. Zu gerne würde ich ihm seine grässliche Visage mal zurechtbiegen, und dann sehen, ob er immer noch so überheblich grinsen würde. Eine Alternative wäre eine Kastration. Doch da ich sowieso nicht davon ausgehe, dass dieser Mann mit irgendwem Kinder kriegen möchte, wäre mein erster Plan wohl doch der Bessere.
„Deine Mutter tut mir leid", sage ich ruhig und bedacht, während ich jede einzelne Silbe betone. Ich weiss, dass der Mann vor mir nicht schwerhörig ist, doch deutlich verstehen soll er mich trotzdem. Der Mann steht auf, umrundet seinen Stuhl einige Male, und lacht leise in sich hinein. Um genau zu sein sieht man nur das amüsierte Beben seiner Schultern. Mir wird bei Rays Anblick fast übel, weshalb ich mich so gut wie möglich auf den Mann vor mir konzentriere, und nicht auf den Bildschirm. „Meine Mutter liebt uns, Kleines. Wir sind ihre größten Schätze."
Ich lache nur humorlos auf, und schüttle den Kopf. „Weiss sie hiervon?" Ich zeige mit der Hand um mich rum, und der Mann setzt sich wieder. „Wären wir dann ihre größten Schätze?", lautet die Gegenfrage, und ich schlucke. Das macht alles nur noch viel schlimmer. Er ist nicht nur ein Arschloch, nein, er sagt es seiner Mutter noch nicht mal. Diese hält ihn wohl für einen superbraven Geschäftsmann oder sowas, der nun mal oft auf Geschäftsreise ist.
Ich sage nichts mehr, denn der Mann kennt meine Antwort. „Wo ist die Kette?" Ich seufze, und reibe mir mit einer Hand die Schläfe. „Ich weiss es nicht", antworte ich erneut wie vor Kurzem erst, und schaue dem Mann direkt in die Augen. Es muss doch einen Weg geben, damit er mir glaubt? Ohne den Blick von mir zu nehmen, schnippt der Mann einmal mit den Fingern, und einer seiner Jungs kommt zu mir. Es befinden sich ungefähr fünf von ihnen in diesem Raum, Kaden miteinbezogen.
Abgesehen von Kaden tragen alle eine schwarze Cargo Hose und einen schwarzen Pullover, dessen Saum im Bund der Hose verschwindet. Kaden hat seinen Pullover mit einem schwarzen Shirt getauscht, genau wie sein Bruder. Nur mit dem Unterschied, dass es Kaden besser steht als dem Monster vor mir.
„Was wird das?", frage ich skeptisch, als sich der unbekannte Junge neben mich stellt, und anscheinend auf ein Zeichen seines Bosses zu warten scheint. „Wir haben nicht unendlich viel Zeit, Black. Und du hast nicht unendlich viele Chancen. Verspiel die kostbare Zeit nicht, die du noch hast, und sprich endlich." Ich runzle die Stirn. Ich weiss, dass die nicht unendlich viel Zeit haben, das hat niemand. Doch wie blöd muss dieser Mann sein, um nicht zu verstehen, dass ich keine Ahnung habe, wo meine Kette liegt?
„Das weiss ich", antworte ich also bloss, und rücke etwas von dem Jungen ab. „Nur kann ich dir keine Auskunft geben. Ich weiss nicht, wie oft ich dir das noch sagen muss, aber ich weiss es nicht." Der Mann nickt, und in Sekundenschnelle spüre ich den Lauf einer Waffe an meinem Kopf. Der Junge drückt sie mir fest an meine Schläfe, und scheint es ernst zu meinen. „Bist du dir sicher?"
Ich schlucke schwer, und nicke dann leicht. „Ja", hauche ich erstickt, und mache mich darauf gefasst, gleich den letzten Atemzug zu nehmen. Doch es geschieht nichts. Erst als sich die Waffe wieder etwas von mir entfernt, wage ich es zu atmen, und der Mann kommt ein paar Schritte zu mir. „Du weißt es wirklich nicht, huh?" murmelt er eher zu sich selbst, und sieht mich nachdenklich an. Ich reagiere nicht, da mein Puls noch immer ungesund hoch ist.
Eine Weile starren wir uns nur an, ehe der Mann mich schlussendlich wie ein Raubtier umrundet. „Du weißt nicht, wo die Kette ist", fängt er an, und legt eine kurze Pause ein. „Aber das heisst nicht, dass die anderen es nicht wissen. Um genau zu sein solltest du wissen, wer die Kette hat, richtig?" Ich sage nichts mehr, sondern starre einfach nur noch geradeaus. „Das ist Antwort genug", lacht der Mann wieder leise in sich hinein, und geht vor mir in die Hocke.
Somit muss ich ihn ansehen.
„Sag mir, wer weiss es?", fragt er langsam, und obwohl er lächelt, kann ich die Ungeduld in seinen Augen sehen. Er wird nicht mehr lange so ruhig bleiben. Ich schüttle nur den Kopf als Antwort, und der Mann nickt nur kurz. Dann steht er auf, und tritt etwas zurück. „Los", sagt er dann nur, und der Junge, der eben noch seine Waffe auf mich gerichtet hat, packt unsanft meine Arme. Ich schliesse die Augen als ich spüre, dass sie hinter meinem Rücken zusammengebunden werden, und öffne sie wieder, als ich auf den kalten Boden knien muss.
Nur wenig später erscheint vor mir ein Kübel voll Wasser, und bevor ich mich irgendwie wehren kann, wird mein Kopf ins Wasser getaucht.
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Denkt ihr, dass Ray als Druckmittel für Aleyna benutzt worden wäre?
Und was glaubt ihr, was jetzt mit Al und Ray passieren wird?
Wird Aleyna mit der Sprache rausrücken, oder doch eher nicht?
- Xo, Zebisthoughts
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