26 - Nathan - Emotionen

Wenn es etwas gibt, was ich hasse, dann warten.

Und wenn es etwas gibt, was ich nicht habe, dann Geduld.

Immer wieder eilen Ärzte und Krankenschwestern an mir vorbei, doch keiner kommt zu mir und sagt mir, wie es Aleyna geht. Ich weiss nicht was in der Spritze war, aber ich gehe stark von Heroin aus. Ich lege den Kopf in den Nacken und schliesse kurz die Augen. Wieso war keiner da, der auf sie aufgepasst hat? Wo waren unsere Jungs? Und überhaupt, was hat Aleyna alleine draußen gemacht?

Langsam stehe ich auf und laufe zum Wasserautomaten, da meine Kehle sich wie eine Wüste anfühlt. Ich beobachte, wie das Wasser langsam in meinen Becher fließt, und überlege währenddessen, wie das alles passieren konnte. Wer das war muss ich mich nicht lange fragen, da fällt mir nur eine Person ein: Javier Ramírez. Der einzige Mann, der sowas ohne mit der Wimper zu zucken tun würde. Anscheinend hat Aleyna's Kette etwas an sich, was er will. Aber wie hat er das erfahren, und was ist in der Kette?

Ich laufe langsam wieder zu meinem Platz zurück und lasse mich dann auf den Stuhl fallen. Caine hat am Telefon gesagt, er würde sofort kommen, und Ethan mitnehmen. Das ist jetzt eine halbe Stunde her, und ich frage mich, wo sie bleiben. Immerhin war ich in zehn Minuten hier. Mit normaler Geschwindigkeit gehe ich davon aus, dass es ungefähr fünfzehn Minuten dauert, und jetzt sogar noch schneller, da es Nacht ist und somit weniger Verkehr hat.

Ich nehme einen Schluck von meinem Wasser und überlege, was Ray wohl macht. Immerhin hat er nichts von alldem mitbekommen, und schläft wohl gerade wie ein Baby. Ich reibe mir mit den Händen über mein Gesicht und seufze leise. Dann stehe ich auf, werfe den Becher weg und gehe zu der Frau hinter der Rezeption.

„Entschuldigen Sie?" sage ich, und die Frau sieht auf. „Ich hätte da eine Frage. Ich habe vor etwa einer halben Stunde ein Mädchen hergebracht. Wissen Sie, wie es ihr geht?" Die Frau nickt nur und fängt an, irgendwas auf ihrer Tastatur einzutippen. Dann sieht sie wieder zu mir. „Sind Sie ein Angehöriger?" Ich schlucke. Nein, natürlich nicht. „Ich bin ihr Freund."

Bitte mach, dass Aleyna das nicht erfährt.

Die Frau nickt und dreht dann ihren Bildschirm leicht zu mir. „Ihre Freundin scheint Opfer eines Übergriffs zu sein. Bei ihr wurden mehrere Hämatome gefunden, und leider auch eine innere Blutung. Zudem hat man ihr ein starkes Betäubungsmittel gespritzt. Momentan ist Miss Black im OP." Ich schlucke hart und nicke dann langsam. „Danke" sage ich nur mit rauer Stimme, und balle meine Hand in meiner Hosentasche zur Faust. Javier Ramírez, das war zu viel.

„Wissen Sie ungefähr, wie lange das noch dauert? Ich würde nämlich gerne kurz zu meinem Bruder, Ray." Die Frau runzelt ihre Stirn. „Die Besuchszeiten sind schon lange vorbei" sagt sie dann, und ich lächle leicht. „Ich weiss. Aber ich habe mit Dr. Ross, Rays Arzt, eine spezielle Abmachung. Ich darf kommen und gehen wann immer ich will, solange ich Rays Gesundheit oder so nicht damit beeinträchtige. Sie können gerne nachsehen, das steht in Rays Akte. Ich bin Nathan Scott."

Die Frau nickt langsam und sieht tatsächlich kurz nach. „Gut, das wusste ich nicht. Ich denke es wird sicher noch eine bis sogar zwei Stunden dauern, bis Aleyna auf ein Zimmer gebracht werden kann. Ich sage den Ärzten wo Sie sind, damit sie Sie informieren können. Ist das okay?" Ich nicke und lächle. „Ja, danke Ihnen." Mit diesen Worten laufe ich zum Lift und fahre zur Krebsstation hoch.

Die Gänge sind natürlich wie leergefegt, da jetzt keine Angehörigen vor den Zimmern warten. Außer ich eben. Ich schaue durch das kleine Fenster kurz zu Ray rein, bis ich dann leise das Zimmer betrete. Es ist dunkel, was mir sagt, dass Ray schläft. So leise wie möglich setze ich mich auf die Fensterbank und starre Ray eine Weile an. Er sieht schlafend immer noch wie früher aus – leicht geöffneter Mund, zuckende Lider.

Schon als kleiner Junge hat er so geschlafen, und immer wieder leise Dinge vor sich hin gebrabbelt. Ich konnte ihm stundenlang dabei zusehen und mich fragen, ob wir jemals ein normales Leben führen werden. Ein Leben ohne die ständige Angst vor unserem Vater. Ein Leben ohne das Wissen, wo die besten Verstecke sind, damit er uns nicht finden. Ein Leben, in dem wir normal zur Schule gehen konnten, normal etwas mit unseren Freunden unternehmen durften.

Ein Leben, in dem wir nicht die einzigen Menschen waren, die wir hatten. In dem wir im Sommer schwimmen gehen konnten, ohne dabei einen verdammten Neoprenanzug tragen zu müssen, damit man die blauvioletten Flecken nicht sah. Ein Leben, in dem der Kühlschrank nicht entweder leer oder voll mit Alkoholflaschen war. In dem wir nicht stundenlang Scherben aufwischen mussten, die unser Vater hinterlassen hat, als er zur Arbeit gegangen ist.

Ich frage mich oft, wie der überhaupt noch arbeiten konnte, und ob die Leute nichts merkten. Unsere Nachbarn zum Beispiel. Man musste seine Wutausbrüche doch hören? Unsere Schreie, wenn er wieder mal zuschlug, und das Klirren der Alkoholflaschen, wenn er sie gegen die Wand schmiss? Wie konnte man sowas einfach ignorieren? Ich schüttle bloss den Kopf und seufze.

Ein normales Leben war Ray nie vergönnt. Kurz bevor unser Vater verhaftet wurde, hat er seine Krebsdiagnose bekommen. Er war nie richtig frei. Keine einzige Sekunde. Es gab immer etwas Düsteres in seinem Leben, auch wenn er es nicht zeigt. Ich weiss, dass er sich mindestens so sehr wie ich gewünscht hätte, ein normales Leben führen zu können. Doch stattdessen wohnt er jetzt in einem Krankenhaus, vierundzwanzig Stunden am Tag überwacht von verschiedenen Leuten. Verkabelt an verschiedene Monitore, mit dem Wissen, bald zu sterben.

Ich schüttle nur den Kopf und seufze. In einer Woche wird Ray achtzehn, und diesen Tag will ich zum Besten seines Lebens machen. Wir werden alle zusammen aufs Dach gehen und dort dann feiern. Ich habe das mit Dr. Ross geregelt, und er war einverstanden. Rays Termine hat er so geschoben, dass wir ein recht großes Zeitfenster haben, in dem er nirgendwo sein muss, und die Jungs und ich werden ihn abends abholen. Ray weiss natürlich von nichts, und ich hoffe inständig, dass niemand uns verrät.

Ich schaue raus und starre die einzelnen Insekten an, die sich um das Licht der Laterne tummeln. Auf dem Parkplatz steht nur mein Auto, und ich warte immer noch darauf, dass Caine endlich auftaucht. Was dauert denn so lange? „Was machst du denn hier?" Ich drehe mich um und sehe Ray, der mich verwirrt durch kleine Augen mustert. „Warten" sage ich nur, und Ray setzt sich auf. „Auf was denn?" Ich seufze nur und schüttle den Kopf. „Darauf, dass Javier von selbst stirbt."

Ray hebt eine Augenbraue und deutet mir an, mich auf den Stuhl vor seinem Bett zu setzen. „Wieso bist du wach?" frage ich, und Ray gähnt kurz. „Ich wache immer mindestens zwei Mal auf. Aber jetzt lenkt nicht ab, was ist passiert?" Ich schaue an Ray vorbei und schlucke. „Wir haben bei mir eine Party geschmissen, und dabei hatte jeder der Gang die Aufgabe, auf Aleyna Acht zu geben. Das hat so gut geklappt, dass sie jetzt mit einer inneren Blutung und zu viel Heroin im Körper im OP liegt."

Ray starrt mich aus großen Augen an. „Wie denn das?" fragt er dann sprachlos, und ich zucke mit den Schultern. „Ich weiss nicht genau" murmle ich, und schaue zu Ray. „Ich war in meinem Zimmer und habe mit Hunter gezockt. Dann hat Aleyna mich angerufen und gesagt, ich solle zu ihr kommen. Ich bin zu ihr und habe sie halb lebendig gefunden. Sie war kaum noch wach und hatte eine Spritze im Arm. Ich bin sofort mit ihr ins Krankenhaus gefahren, und jetzt warte ich."

Ray pustet die Luft aus seinen Lungen und seufzt dann. „Das geht zu weit" meint er dann nur, und schüttelt den Kopf. „Nate, ihr müsst etwas tun. Hört auf zu warten. Sonst stirbt Aleyna irgendwann noch." Ich nicke nur, denn ich weiß, dass Ray Recht hat. Javier hat es deutlich auf Aleyna abgesehen, und wenn wir nicht schnell handeln, schwebt sie in großer Gefahr. Javier Ramírez muss weg, so viel steht klar.

Aber wie sollen wir das anstellen? Wir haben kaum Informationen. Wir wissen nur, dass er illegale Verträge abgeschlossen hat und einen Pakt mit den Salvatores vortäuscht, aber das ist nicht genug Information. „Habt ihr Hilfe?" Ich nicke. „Ja, Ethan. Aleynas Zwilling." Ray sieht mich verwirrt an. „Was hat Ethan denn mit dem zu tun?" fragt er mich, und ich schmunzle. „Sagt dir Jonathan Black etwas?"

Ray scheint nachzudenken und legt die Stirn in Falten. „Das war doch der mächtigste Dealer von LA?" Ich nicke und räuspert mich. „Aleyna und Ethan heißen Black zum Nachnamen." Ray weitet die Augen und sieht mich an. „Du willst mir sagen, Ethan und Aleyna sind die Kinder von Jonathan?" Ich nicke langsam und grinse. „Das sind sie." Ray sieht mich eine Weile sprachlos an und nickt dann langsam. „Okay..." murmelt er, und ich räuspere mich.

„Ethan weiß alles von seinem Vater. Aleyna weiß nichts. Ethan hat Kontakt zu Keanen und Elia, und da Jonathan Mitglied der Mafia war, helfen sie ihm und somit auch uns. Müssen sie fast." Ray nickt anerkennend und lächelt leicht. „Keanen Salvatore also. Den Jungen habe ich nur als kleinen Idioten in Erinnerung." Ich schmunzle und erinnere mich ebenfalls deutlich daran, wie Caines Vater Francesco, Jonathan und Lorenzo Salvatore zu dritt in der Küche saßen, während Keanen, Elia, Ethan, Caine, Ray und ich im Garten Räuber und Bulle gespielt haben.

Ich war da knappe zwölf Jahre alt, und hatte den Spaß meines Lebens. Dad war für ein paar Tage weg, und es war das erste Mal, dass ich mehrere Tage bei Caine bleiben durfte. Caine kenne ich schon so lange, dass ich gar nicht mehr weiß, wie wir uns wirklich kennengelernt haben. An Ethan konnte ich mich bis vor kurzem nicht erinnern, weshalb ich in der Schule auch nicht erkannt habe, dass er Jonathans Sohn ist. Erst als Caine es mir gesagt hat, fiel es mir wieder ein.

„Ramírez wird leiden" schmunzelt Ray plötzlich, und ich grinse. „Das wird er. Vor allem wenn Francesco wieder zurück kommt - wenn er erfährt, was mit Aleyna passiert ist, wird er kein Auge mehr zudrücken und das Wort Gnade aus seinem Wortschatz katapultieren." Ray nickt wild, und wir lächeln beide. „Wurde ja aber auch mal Zeit." Das stimmt. Javier Ramírez ist schon länger eines unserer größeren Probleme, und jetzt ist er sogar unser größtes. Doch dafür wird er büßen, und das weiß er.

Nur hat er keine Ahnung, dass die Rache so groß ausfallen wird, dass er sich wünschen wird, uns nie als Zielscheibe genommen zu haben, und Aleyna nie angefasst zu haben.

Es klopft an der Türe, und ein Arzt streckt seinen Kopf herein. „Nathan Scott?" Ich schaue auf und nicke. „Man hat mir gesagt, ich solle Sie hier holen, wenn Ihre Freundin in ihrem Zimmer ist. Kommen Sie?" Ich springe fast auf und nicke. Ray sieht mich verwirrt an, da er ja nicht wissen kann, dass ich mich nur als Freund von Aleyna ausgebe, und ich schmunzle.

„Ich erkläre es dir später" sage ich nur, und verabschiede mich von meinem Bruder, ehe ich das Zimmer verlasse. Der Arzt hält mir seine Hand hin, und ich schüttle sie kurz. „Hallo. Ich bin Dr. Sanchez, ich habe Ihre Freundin operiert. Es geht ihr soweit gut, aber sie ist sehr müde." Ich nicke nur und folge dem Arzt den Flur runter. „Wie lange darf ich bei ihr bleiben?"

Dr. Sanchez zuckt mit den Schultern und drückt den Liftknopf. „Etwa eine halbe Stunde, danach braucht sie ihre Ruhe. Und Sie auch, wenn ich das so sagen darf." Ich nicke nur und schaue mich im Spiegel des Lifts an. Ich sehe wirklich beschissen aus. Gleichzeitig erhalte ich eine Nachricht von Caine.

Caine: Sorry Nate. Wir hatten unterwegs Probleme mit - welch eine Überraschung - Javier. Wir kommen morgen Aleyna besuchen, richte ihr schöne Grüße und gute Besserung von uns aus!

Ich seufze. Javier, natürlich. Wer denn auch sonst?

Nathan: Okay mach ich, ist alles klar bei euch?

Caine: Ja, alles gut.

Ich stecke mein Handy wieder ein, und der Arzt bleibt vor einem Zimmer stehen. „Sie haben eine halbe Stunde." Ich nicke, klopfe an und trete dann leise ein, in der Erwartung, eine schlafende Aleyna zu finden. Als ich jedoch ihre nassen Wangen sehe, schließe ich schnell die Türe und setze mich neben Aleyna. „Hey" murmle ich leise, und sie sieht zu mir. „Wieso, Nate?" schluchzt sie, und wischt sich mit der Hand über die Wange.

Ich schlucke und weiß nicht, was ich sagen soll. „Wieso ich? Wieso muss ich für Dinge büßen, von denen ich nichts weiß? Für die ich nichts kann, und mit denen ich nie was zu tun haben wollte? Wieso?" Ich heiße mir auf die Lippe und nehme Aleyna vorsichtig in den Arm. Ich bin schlecht darin, Leute zu trösten und Gefühle zu zeigen, und ich weiß nicht was ich tun soll, damit Aleyna sich wieder beruhigt. Es fühlt sich für mich an als würde ich als leere Hülle ein Mädchen mit viel zu vielen Emotionen umarmen.

Es ist neu, fremd. Und es macht mir fast Angst. Fühlen sich so Emotionen an? Überwältigend?

Kann man überfordert sein, anhand von Emotionen?

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Ja, kann man anhand von Emotionen überfordert sein?

Ich weiss, dieses Kapitel war etwas langweiliger, aber das muss auch mal sein xD

- xo, Zebisthoughts

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