11 - Aleyna - Wenn Nate das nicht sagt
Schon seit sicher einer halben Stunde laufe ich im Erdgeschoss von Caines Wohnung umher, und ich habe mir schon des Öfteren überlegt, eine seiner geliebten Alkoholflaschen zu öffnen, um mir die Zeit etwas zu vertreiben. Aber ich werde später noch nach Hause fahren müssen, und das tue ich eher weniger gerne, wenn ich betrunken bin.
Ab und zu dringen etwas lautere Worte von oben zu mir durch, und diese stammen eindeutig von Nate. Die Wut auf seinem Gesicht, als er reingeplatzt ist, hat mich ziemlich eingeschüchtert, und es war schwierig, cool und gelassen zu wirken. In Wirklichkeit war ich kurz davor, einem von beiden eine rüberzuhauen, damit sie sich nicht die Köpfe einschlagen würden. Und was mich noch viel mehr verwirrt: Was ist dazwischengekommen, dass Nate seinen Plan, Caine nichts zu sagen über den Haufen geworfen hat?
Hat es etwa mit mir oder der Übergabe heute zu tun? Habe ich was falsch gemacht? Oder habe ich mich irgendwie verraten? Vielleicht ist mir ja auch jemand gefolgt. Oder Nate hat es extra gemacht, um zu testen, ob ich auch wirklich dichthalte. Jedenfalls weiss ich jetzt wenigstens, dass er Teil der Gang von Caine ist, denn ansonsten würde er nicht so... naja, vertraut mit ihm umgehen. Aber das macht noch viel weniger Sinn – wieso sollte Nate Koks seiner eigenen Gang abkaufen und Caine nichts davon sagen wollen? Das ist doch völlig bescheuert!
Verzweifelt drücke ich ein Kissen an meinen Oberkörper und vergrabe seufzend mein Gesicht darin. Das ist alles viel zu kompliziert für mich, und außerdem ist es viel zu spät, um sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Eigentlich sollte ich einfach abhauen, aber meine Neugierde hält mich hier. Natürlich, was denn auch sonst? „Du siehst aus als hättest du gerade jemanden umgebracht."
Mit rauer, unbeteiligter Stimme betritt Nate das Zimmer und setzt sich dann auf die Sofalehne. Ich schaue von meinem Kissen auf und fixiere den Jungen vor mir direkt. „Erklär es mir." Nate mustert mich eine Weile lang kühl, dann schaut er hinter mich. Ich drehe mich um und entdecke Caine, der sich mit einer Hand die linke Schläfe reibt. „Non dirle che le sta dando la caccia" sagt er dann nur, und Nate räuspert sich. Ich habe nichts von dem verstanden, was Caine gesagt hat, und irgendwie glaube ich, dass es auch nicht für meine Ohren bestimmt war. Mein Blick schweift wieder zu Nate, und ich ziehe meine Beine an mich.
„Also, erstmal bin ich – wie du wahrscheinlich schon gecheckt hast – ebenfalls Mitglied dieser Gang. Wir haben einen recht grossen Feind, Javier Ramírez. Er ist seit Jahren hinter uns her, und hat Caines Mutter auf dem Gewissen. Wir haben etwas, was er will, doch er wird es nicht bekommen. Nur Caine und ich wissen, wo es ist. Jedenfalls hat Caine den Fehler gemacht, einen Partner nicht gut genug überprüft zu haben. Der Deal heute. Er wäre mit einem von Javiers Männern gewesen, wenn Flynn und ich nicht so gut recherchiert hätten. Deshalb bin auch ich aufgetaucht, und nicht der eigentliche Dealer. Den habe ich k.o. geschlagen. Ich wusste nicht, dass er einer von Javiers Männern ist, ich wusste nur, dass der Kerl nicht sauber ist und ich gerne an Mädchen vergriffen hätte. Auf dem Heimweg habe ich dann einen Anruf von Javier bekommen, deshalb weiss ich jetzt auch, dass der Typ unter seiner Obhut stand."
Ich runzle die Stirn.
„Stand?" frage ich nach, und Nate hebt eine Augenbraue.
„Ich habe dir gerade erzählt, dass du hättest vergewaltigt werden können, und alles was dich irritiert ist, dass ich die Vergangenheitsform gewählt habe?"
Ich zucke mit den Schultern und schlucke. „Auf den Rest werde ich gleich noch zurückkommen." Nate nickt langsam, und sieht dann zu Caine. „Ja, stand. Er wurde nicht mehr lebendig aufgefunden." Mein Atem stockt, und ich starre Nate mit grossen Augen an. „Du hast ihn getötet?" frage ich langsam, und als Nate nickt als wäre nichts dabei, weiten sich meine Augen mindestens auf Untertassen Größe.
„Einfach so?" Nate nickt abermals, und eine gewisse Kälte, aber auch sowas wie Spott oder Belustigung spiegelt sich in seinem Blick wieder. Schockiert drehe ich mich zu Caine, der mir direkt in die Augen sieht. „Passiert das öfters?" Caine zuckt mit den Schultern und setzt sich dann neben Nate. „Wenn es nötig ist, ja. Ansonsten nicht."
Ich nicke etwas ungläubig und starre dann auf meine Hände. „Wieso?" Nate sieht mich fast spöttisch an, und räuspert sich dann. „Pulcino, denk doch mal nach... wenn dir eine Waffe auf die Brust gesetzt wird, du aber auch eine hast. Was tust du dann? Sie einfach ignorieren, oder sie verwenden, um deinen Arsch und deine zweite Familie zu retten?"
Ich schlucke nur, denn irgendwie hat Nate ja recht. Ich würde ohne mit der Wimper zu zucken Gebrauch von der Waffe machen. „Na also, dein Blick sagt genug. Ramírez ist kein Scherzkeks. Er hat uns im Visier, und wir müssen uns wehren können. Dass bei diesem stillen Krieg Opfer fallen würden, war uns von dem Moment an klar, in dem Caines Mutter von Javier höchstpersönlich umgebracht wurde. Das Leben ist nicht einfach nur pink und voller Einhörner. Obwohl du nicht so danach aussiehst, als würdest du auch nur eines von beidem mögen."
Ich schaue Nate mit einem „ist das dein Ernst"-Blick an, und schüttle dann den Kopf. „Ich verstehe es ja. Nur hätte ich nie damit gerechnet, näher an sowas dran zu sein, als dass ich dachte." Caine nickt, und Nate sagt nichts mehr. Stattdessen fängt er an, lustlos auf seinem Handy rumzuspielen. „Sind wir in Gefahr?"
Caine sieht zu mir auf. „Ich meine, Ethan und ich. Und Oma. Sind wir in Gefahr? Und oh Gott, was ist mit Ava?" Caine sieht mich eine Weile an, dann schüttelt er den Kopf. „Ihr seid nicht in Gefahr. Keiner weiss von euch." Ich nicke erleichtert, und meine Lungen füllen sich endlich wieder ganz mit Luft.
Niemand weiss von mir. Javier Ramírez hat keine Ahnung.
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„Du bist ja auch mal da!"
Ethan springt mich fast an, und ich zucke mit den Schultern, während ich meine Schuhe loswerde. „Ist etwas später geworden, es kam noch ein Gangmitglied zu Caine, und dann haben wir noch etwas gequatscht." Ethan sieht mich mit gehobener Augenbraue an. „Tut mir leid wenn das zu direkt ist, aber du hast noch nie einfach so mit fremden Leuten gequatscht. Man muss sich fast an dich ran leimen, damit du überhaupt mal mehr als zwei Sätze pro Tag mit einem wechselst."
Ich schmunzle, da mein Bruder ja Recht hat. Ich bin wirklich alles andere als Kontaktfreudig, und leider ist das auch kein großes Geheimnis mehr. „Okay, okay. Ich hab's ja verstanden. Caine und Nate haben geplaudert, ich saß daneben." Ethan runzelt bei der Erwähnung von Nates Namen die Stirn, und ich merke, dass er ihn wohl kennt. „Nate... Der Nate, der auch in der Band ist?" Ich runzle die Stirn jetzt ebenfalls und zucke mit den Schultern.
„Was weiss ich. Ich habe nur ‚Nate', das war's. Aber er geht auf unsere Schule." Ethan nickt und deutet mir an, mit in die Küche zu kommen. „Eisblaue Augen, blonde Haare, still und distanziert?" Ich nicke, und Ethan hält mir eine volle Tasse Kakao hin, wofür ich ihn abknutschen könnte. „Das ist er." Ich nehme die Tasse freudig entgegen und nehme einen Schluck. „Ich knutsch dich" murmle ich, und Ethan sieht zu mir. „Bei aller Geschwisterliebe, das ist doch etwas zu viel."
Ich schmunzle ebenfalls, und wir laufen ins Wohnzimmer, wo ich mich aufs Sofa fallen lasse. „Sofa, ich habe dich vermisst" murmle ich, und lächle glücklich. „Das sollte ich aufnehmen. Für deinen nächsten Geburtstag." Ich öffne die Augen und schaue meinen Zwilling warnend an. „Wehe dir, vergiss nicht, ich habe eine ganze Sammlung auf meinem Handy von sehr amüsanten Fotos. Alle von dir."
Ethan hebt lachend abwehrend die Hände und setzt sich dann neben mich. „Ist ja gut, beruhig dich. Netflix?" Ich nicke, und rutsche etwas zu meinem Bruder auf, um meinen Kopf auf seinem Oberschenkel zu platzieren. Es können noch so viele Bettwarenhäuser kommen, der Oberschenkel meines Bruders ist und bleibt der bequemste Ort für meinen Kopf. Und das, obwohl er dreimal die Woche ins Gym geht, und seine Beine eigentlich nur noch aus Muskel und einer dünnen Hautschicht bestehen.
„Ja, du darfst mein Bein als Kissen misshandeln" schmunzelt Ethan von oben, und ich ignoriere es gekonnt. „Was willst du schauen?" Ich zucke mit den Schultern und gähne verhalten. „Da ich sowieso innerhalb von zwei Minuten eingepennt bin, kannst du entscheiden." Ethan nickt, dann klickt er auf Arrow. War ja klar, er liebt die Serie. Würde ich nicht über die Hälfte davon verpennen, wäre ich bestimmt auch ein Fan davon, doch ich weiss ja nicht mal richtig, worum es sich hier handelt.
Also schliesse ich einfach glücklich die Augen und versuche, den heutigen Tag – vor allem den Abend – auszublenden. Caine hat beteuert, dass meine Freunde, meine Familie und ich in Sicherheit sind, also sollte ich beruhigt sein. Aber irgendwas in mir sagt mir, dass das noch lange nicht alles war. Ich nehme mir vor, die nächsten Tage besonders vorsichtig zu sein, denn auch Caine und Nate können sich täuschen. Was, wenn Javier mir schon längst auf den Fersen ist? Oder jemandem, der mir wichtig ist? Ava zum Beispiel. Oder was, wenn er gerade bei Oma im Krankenhaus ist? Ich zucke bei der Vorstellung zusammen, und Ethan pausiert die Serie sofort.
„Okay Al, ich kenne dich. Was ist wirklich passiert?"
Ich schlucke und drehe mich auf den Rücken, damit ich mit dem Hinterkopf auf Ethans Oberschenkel liege, und ihm so mehr oder weniger ins Gesicht schauen kann.
„Caine hat mich heute wie gewohnt zur Übergabe geschickt, die in einem Schwimmbad war. Es war alles wie immer, ich kannte Ort und Zeit, und das Codewort. Ich war da. Und dann stand plötzlich Nate vor mir, hat sich als Dealer ausgegeben und mir alles abgekauft. Er wollte jedoch nicht, dass Caine seinen Namen erfährt, und ich dachte, es wäre alles gut. Ich bin danach wie gehabt zu Caine, und wir haben zusammen gesprochen und sind alles – bis auf Nates Namen – nochmal durchgegangen. Es war alles okay. Bis Nate plötzlich fuchsteufelswild reingeplatzt ist, und sicher eine halbe Stunde mit Caine diskutiert hat. Ich habe darauf bestanden, dass die Jungs mir sagen was los ist, da mein Name auch mehrere Male gefallen ist."
Ich mache kurz eine Atempause, und Ethans Blick liegt konzentriert auf mir.
„Jedenfalls hat Nate mir dann gesagt, dass Caine den Dealer, der heute bei der Übergabe hätte sein sollen, nicht gut genug überprüft hat. Er war einer von Javiers Leuten, doch das wusste keiner zu dem Zeitpunkt. Javier Ramírez ist der sogenannte große Feind der Gang. Er geht über Leichen um etwas zu bekommen, was sie verstecken. Jedenfalls hat Nate mit Hilfe eines weiteren Mitglieds rausgefunden, dass der Dealer nicht sauber war, und kurz darauf hat Nate ihn vor der Schwimmhalle abgepasst und ihn einfach so getötet. Er hat mir dann alles abgekauft, und ich wusste ja nicht, dass er nicht der richtige Dealer war. Auf dem Heimweg hat Nate dann von diesem Javier einen Anruf bekommen, wodurch er rausgefunden hat, dass der Dealer eben einer seiner Leute war. Er wollte zuerst nicht, dass Caine seinen Namen erfährt, weil Caine ihm den Kopf abgerissen hätte, doch als klar war, dass das ein Hinterhalt war, hat er es ihm dann natürlich doch gesagt. Und jetzt suchen die beiden eine Lösung, wie sie solche Sachen verhindern können. Aber Caine hat mir versichert, dass wir alle sicher sind und Javier keine Ahnung hat von mir."
Ethan sieht mich nachdenklich an und flucht dann leise. „Hat Nate das auch gesagt?" Ich runzle die Stirn und schüttle dann langsam den Kopf. „Nein, Nate war mit seinem Handy beschäftigt." Ethan legt kurz den Kopf in den Nacken und sieht dann wieder zu mir. „Nate hat also keine Reaktion gezeigt, als Caine dir versichert hat, dass alles gut ist?" Abermals schüttle ich den Kopf und richte mich etwas auf.
„Nein, gar nichts. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er es überhaupt gehört hat." Ethan lacht leise auf. „Glaub mir, das hat er." Ich schaue Ethan lange an, ehe er sich im Nacken kratzt. „Es tut mir leid dir das so sagen zu müssen, aber wenn Nate nichts dazu gesagt hat, dann sind wir ziemlich sicher keine unbekannten Namen für Javier. Wir sind nicht sicher, Al. Nicht vor Javier Ramírez."
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Dum dum duuuuummmm.....
Ich mag Ethan haha. Woher denkt ihr, dass er Nate so "gut" kennt?
- xo, Zebisthoughts
Übersetzung:
Non dirle che le sta dando la caccia. = Sag ihr nicht, dass er hinter ihr her ist.
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