72💒

Unschlüssig stehe ich vor der grünen Tür und betrachte die Maserung des Holzes. An einigen Stellen ist die Farbe bereits abgeblättert und das Messing der Klinke wirkt matt und häßlich. Eine Straßenlaterne spendet gelbliches diffuses Licht, eher verdreckt als heimelig und lässt somit die Umgebung aus einer anderen Sichtweise erscheinen. In der Ferne ist das stetige ohrenbetäubende Geräusch eines Feuerwehrwagens zu hören und kurz danke ich wem auch immer da oben, dass Alec Tischler und nicht Polizist oder Feuerwehrmann geworden ist. Jeden Tag mit der Angst im Nacken, ob mein Mann lebend nach Hause kommen würde oder nicht, hätte mich schon längst zerfressen. Es ist das schlimmste Szenario für jeden Angehörigen, diesen über alles verhassten Anruf zu bekommen.

Das Klingelschild zeigte bei meinem letzten und einzigen Besuch einen Namen. Jetzt sind es zwei. Lightwood/Fray Jace fackelte nicht lange und kurz nachdem Alec das Nest verlassen hatte, zog seine Freundin bei ihm ein. Ich bin mir nicht wirklich sicher ob Alec hier ist. Es ist nur eine Vermutung und für mich die logischste Schlußfolgerung. Die Verbundenheit mit seinem Bruder ist sehr tief und ich vermute, dass Alec eher zu ihm statt seiner Schwester gehen würde. Minutenlang schwebt mein Zeigefinger über dem weißen Schild, nur einen Millimeter weiter und in der Wohnung über mir ertönt das Signal eines unangemeldeten Besuchers. Niemand weiß das ich komme. Es ist mitten in der Nacht. Wie wird Alec reagieren wenn er mich sieht? Wird Jace seine Drohung wahr machen und ich sollte lieber das Weite suchen bevor er mich findet? Meine Gedanken werden abrupt unterbrochen als sich die grüne Tür schwungvoll öffnet und ein junger Mann mit blonden Haaren und blauen Augen, einem grazilen Gesicht und wunderschön geschwungenen Lippen stirnrunzelnd vor mir steht. Sein After Shave verströmt einen bekannten Duft und Eifersucht regt sich. Das gleiche After Shave wie Alec es manchmal benutzt.

"Kann ich Ihnen helfen?" fragt mich der junge Mann und ich schaue ihn fragend an.
"Suchen Sie jemanden?" Ja meinen Ehemann. Eine dunkelhaarige Schönheit mit geschickten Händen und einer talentierten Zunge. Aber das sage ich ihm nicht. Stattdessen lege ich ein falsches Lächeln auf und greife an ihm vorbei und lege meine Hand an die Tür.
"Danke. Ich komme schon klar." entgegne ich. Ich kenne ihn nicht. Somit geht es ihn auch nichts an wohin mein Weg mich führt. Schnell schlüpfe ich an ihm vorbei und ignoriere die Fragezeichen über seinem Kopf. Mit Beinen schwer wie Blei erklimme ich die Stufen zu Jace' Wohnung und stehe bald vor seiner Haustür. Und wieder regt sich der Zweifel, ob es richtig ist was ich hier tue. Ich lausche in die Nacht hinein, aber außer meinem wild klopfendem Herzen, ist nichts zu hören. Schnaufend schüttele ich den Kopf. Was habe ich erwartet? Dass Alec weinend hinter dieser Tür sitzt und ich sein herzzerreißendes Schluchzen und Jace beruhigende Worte höre? Wohl eher nicht. Alec leidet leise.

Ich atme tief durch und schließe für einen Moment meine Augen. Jetzt oder nie. Ich entscheide mich für nie. In meinem Kopf schreit die Stimme laut 'Nein! Du machst einen Fehler. Sei kein Feigling Magnus Lightwood.' Und ehe ich weiter darüber nachdenken oder in ein Streitgespräch mit meinem persönlichen Dämon verfallen kann, zerreißt das schrille Klingeln der Türglocke die Stille der Nacht. Fuck. Panisch reiße ich die Augen auf und wimmere leise. Was habe ich getan? Warum habe ich das getan? Ich wollte doch gehen. Stattdessen liegt der Zeigefinger meiner rechten Hand auf dem bronzefarbenen Knopf und für einen Moment habe ich das Gefühl, ein elektrisierender Schlag geht direkt durch meinen Körper. Mein aufgeregt schlagendes Herz ist nicht annähernd so laut wie das Geräusch der Klingel. Warum klingelt es noch immer? Ich bin verwirrt.

Aus dem Inneren der Wohnung erklingen seltsame Geräusche. Poltern, eine knallende Tür, lautes Fluchen. Ich trete näher an die Tür und versuche zu erahnen, was da drinnen vor sich geht. Es hört sich an, als würde Quentin Tarantino seinen nächsten Action-Blockbuster in der Wohnung meines Schwagers und seiner Freundin drehen. Ruckartig öffnet sich die Tür und ein vollkommen zerzauster und verschlafener Alec steht plötzlich vor mir. Seine Augen weiten sich als er mich erkennt und ich stehe einfach nur da und kann mich nicht mehr bewegen. Zu sehr zerreißt mich der Anblick und die Erinnerung an unser Erwachen in Vegas ist gerade sehr präsent. Ich höre Alecs Stöhnen als die Holzfäller in seinem Kopf mit ihrer Arbeit begannen. Ihm tat der Kopf und mir der Hintern weh. Bilder von Alecs breitem muskulösem Rücken flackern auf und ich fühle das pulsierende Prickeln in meinen Fingerspitzen beim Anblick seiner vom Schlaf und Sex der vergangenen Nacht zerwühlten schwarzen Haare. Unbewusst scanne ich seinen Körper und lecke mir über die trockenen Lippen. Meine Atmung geht mal wieder viel zu schnell und der Drang mich so eng wie möglich an seine Brust zu schmiegen, ist enorm stark. Alec trägt nichts weiter als eine schwarze sehr enge Boxershorts. Gierig betrachte ich die Konturen seines Schwanzes. Jede Faser seines Körper ist mir wohlbekannt. Unzählige Küsse bedeckten seine warme reine Haut durch meine Lippen. Das Aroma von Meer und Salz in Kombination mit Alecs sexgetränkter Haut kitzelt an meinen Geschmacksknospen. Mein Verstand holt Erinnerungen an unendlich viele Stunden voller Hingabe und Leidenschaft hervor und sorgt dafür, dass sich alle Härchen an meinem Körper kerzengerade aufstellen und ich von einem wohliger Schauer umhüllt werde. Alecs breite Brust mit den ausgeprägten Muskeln und dem wunderbaren Sixpack hebt und senkt sich schnell. Ich schaffe es gerade so den Blick zu lösen als ich meinen Namen höre.

"Magnus." schreit Alec mich an.
"Hör auf damit." Verwirrt blicke ich in seine geröteten Augen. Dunkle Schatten ummanteln das Blau. Die Erschöpfung ist ihm sichtlich anzusehen und doch ist da dieses kleine Funkeln, dass mir einen letzten Tropfen Hoffnung schenkt.
"Scheiße Magnus, nimm deinen Finger von der Klingel." sagt er zornig. Jetzt weiß ich auch, warum die Klingel noch immer nicht verstummt ist. Warme Finger umschließen mein Handgelenk und eine Armee Schmetterlinge hüpft freudig aus ihren Kokons. Bereit für den Flug in eine neue unbekannte Welt schlagen sie mit ihren samtigen Flügeln und verbreiten ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Inneren. Seufzend blicke ich in Alecs Augen und erkenne einen Sturm aus verschiedensten Gefühlen. Verwirrung, Schmerz, Zuneigung, Wut, Unsicherheit und Liebe. Die Kuppe seines Daumens gleitet zärtlich über meine Haut und ich schließe sehnsüchtig die Augen, genieße diese sanfte Berührung und liebevolle Geste. Viel zu schnell ist der Moment wieder vorbei und Alec entzieht seine Hand. Plötzliche Leere überfällt mich und ich schwanke leicht.

"Was willst du Magnus?" fragt er mit eiskalter Stimme.
"Mit dir... r-reden." antworte ich. Die Worte kommen nicht mehr so leicht über meine Lippen. Der Wodka vernebelt noch immer meinen Kopf. Alec sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an und ich schlucke trocken. Er ist sauer. Worauf genau? Auf mich? Auf mein Verhalten? Auf meinen Ausraster? Ich weiß es nicht. Und je länger wir hier stehen, umso weniger verspüre ich das Bedürfnis es herauszufinden. Ich beobachte ihn dabei, wie er seine schlanken Finger durch seine weichen Haare gleiten lässt. Sofort fangen meine Fingerspitzen an zu kribbeln. Eine vertraute wiederkehrende Geste. Strähnen werden geteilt und auch wenn das Licht im Hausflur bereits erloschen ist und nur der Lichtkegel aus der Wohnung Alec erhellt, ist der Kontrast zur schneeweißen Haut und den rabenschwarzen Haaren deutlich zu erkennen. Ich liebe diese Merkmale an meinem Ehemann. In Kombination mit den strahlend blauen Ozeanaugen, ist er ein bildschöner Traum eines Mannes.
"Bist du betrunken?" Alecs Frage katapultiert mich ungebremst in die Wirklichkeit zurück. Ich blicke in sein müdes und enttäuschtes Gesicht. Das offene Buch seiner Mimik verrät mir gerade Alles und Nichts. Er versucht nicht einmal seine Emotionen zu verstecken. Angst überkommt mich und ich weiß, dass das hier ein Fehler war. Meine Zunge sitzt betrunken viel zu locker. Und dabei möchte ich doch nicht anderes, als eben diese wodkagetränkte Zunge tief in Alecs Mund zu versenken und mich schwindelig küssen zu lassen.

"Ach, nur ein bißchen." winke ich seine Frage nach meinem Alkoholpegel ab. Alec verdreht genervt die Augen und schüttelt dann traurig den Kopf. Mein Mann und Alkohol sind keine Freunde und werden es in diesem Leben auch nicht mehr werden.
"Wo warst du Magnus?" fragt Alec ohne Umschweife und ich grübele über eine Antwort. Dabei tippt die Spitze meines Zeigefingers unablässig gegen mein Kinn und die Stirn wirft große Denkerfalten.
"Hm mal sehen. Nachdem du einfach abgehauen bist, habe ich Andrew angerufen. Ich wollte ein bißchen Spaß haben. Also ging ich ins Pandemonium und habe getrunken. Ja und getanzt habe ich auch. Bis meine zwei besten Freunde kamen und mich da..."
"Warum?" fragt er ohne mich ausreden zu lassen.
"Warum? Weil ich vergessen wollte..." Alec hebt seine Hand und unterbricht mich, bevor ich überhaupt richtig angefangen habe. Jetzt bin ich es der genervt die Augen verdreht. Warum war ich nochmal hier? Gerade weiß ich es nicht mehr. Aber ich weiß, dass es mich tierisch aufregt, wenn Alec mich nicht ausreden lässt.

"Was willst du Magnus?" fragt er.
"Ich wollte mit dir reden."
"Das sagtest du bereits."
"Dann lass mich doch endlich ausreden." sage ich lauter und auch deutlich gereizter als geplant. Alec verschränkt die Arme vor der Brust. Das strahlende Funkeln seiner Augen ist verschwunden. Wo mir sonst tiefblauer Ozean entgegen blickt und ich drohe, in den glitzernden Iriden zu versinken, sehe ich nichts als dunkle Leere und Verzweiflung, Enttäuschung und Ratlosigkeit. Alec weiß nicht was er tun soll. Ich ebenso wenig. Das zwischen uns fühlt sich seltsam an. Meine Entschlossenheit Alec die Wahrheit über meine Gefühle zu sagen ist in dem Moment gewichen, als ich die Kränkung und Wut in seinen Augen sah.

"Ich habe dir vertraut und du hast mir in die Augen geschaut und eiskalt gelogen. Das was wir haben ist nicht alltäglich. Ich bin nicht gut in Beziehungen. Keine war je so ernst, dass ich mir Gedanken über eine Zukunft gemacht habe. Du warst der Erste. Mit dir war alles anders. Als ich Blue Heaven verließ war ich mir sicher, dass du mich nie enttäuschen wirst. Das war ein Irrtum. Ich bin sauer und wütend. Ich bin enttäuscht und verletzt. Mein Vertrauen in dich, wurde verletzt. Es tut so weh dich jetzt zu sehen. Du bist mir wichtig. Sehr sogar. Aber mein Herz ist gebrochen. Wieder einmal habe ich geglaubt und vertraut und wurde enttäuscht. Heute Abend war ich im Pandemonium und hatte etwas Spaß. Einfach den Kopf abschalten und an nichts denken. Verstehst du das Alec...?

"Nein ich verstehe es nicht. Hattest du Sex? Mit anderen Männern?" fragt er müde. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass ich mich gerade um Kopf und Kragen geredet habe. Noch immer stehen wir im Hausflur vor der Wohnung seines Bruders. Alec hat mich nicht herein gebeten und so wie er dort steht, hat er auch nicht vor es zu tun. Ich schweige, gebe ihm keine Antwort auf seine Frage.
"Dein Schweigen ist dann wohl ein Ja."
"Nein. Hatte ich nicht. Aber ich wollte. Um meinen Frust abzubauen." sage ich ehrlich. Auch auf die Gefahr hin, dass Alec mich nun abgrundtief hasst und mich nie wieder sehen will. Schluss mit Lügen und Ausflüchten.
"Das tut echt weh Magnus." sagt er mit tränenerstickter Stimme und auch mir steht das Wasser in den Augen.
"Wir haben uns versprochen ehrlich zueinander zu sein. Erinnerst du dich? Ich bin ehrlich. Ich war im Pandemonium und wollte mich ficken lassen. Aus Wut auf dich und vor Verzweiflung. Ich denke ständig an dich. Egal ob bei der Arbeit oder im Club als ich dachte du stehst auf der Tanzfläche. Dabei war das nur irgendein Kerl der dir ähnlich sah. Ich habe gedacht mein Herz bleibt stehen und ich war so erleichtert, dass du es nicht warst. Mein Herz sehnt sich nach dir. Aber es weint sich auch die Seele aus dem Leib weil du mich so hintergangen hast."

"Magnus, was erwartest du von mir? Du hast mich angeschrien und geschlagen. Da war nichts von deiner angeblichen Liebe zu spüren. Nur noch Hass. Du hast mich einfach gehen lassen. Ohne einen einzigen Versuch mich aufzuhalten. Und jetzt tauchst du hier auf, betrunken und übersät mit Knutschflecken von denen ich nicht wissen möchte, wie viele Kerle es waren. Du redest von Vertrauen. Aber wie kann ich auf dich zählen, wenn du dich nach einem Streit, dem nächstbesten Typen, an den Hals wirfst? Wie Magnus? Wie?" schreit Alec mir tränenüberströmt entgegen. Schonungslose ehrliche Worte die im ganzen Haus zu hören sind. Sie hallen durch den Flur, prallen an den Wänden aus Stein ab. Quietschend öffnet sich rechts neben mir eine Tür. Nur einen Spalt und doch genügt es, damit der Geruch nach nassem Hund und überreifem Käse zu uns herüber dringt.
"Geh schlafen Hodge. Es ist alles okay." sagt Alec sanft und ich höre gemurmelte Flüche die sogleich wieder verstummen. Die Tür schließt sich und es ist still. Niemand sagt ein Wort. Dafür hallen Alecs Worte umso lauter in meinem Kopf wieder.

'Aber wie kann ich dir vertrauen?'
Ich weiß es nicht. In meinem Kopf dreht sich alles und mein Herz tut so weh. Wir haben uns gegenseitig die schonungslose Wahrheit vor Augen geführt. Wir lieben uns. Aber es funktioniert einfach nicht. Es ist nicht die richtige Zeit oder der passende Ort. Ganz egal. Es spielt keine Rolle.
"Geh einfach Magnus. Schlaf deinen Rausch aus."
"War es das?"flüstere ich und sehe Alec leicht nicken. Immer mehr Tränen verlassen seine Augen und seine wunderbar weichen Lippen die ich so gerne küssen würde beben. Schluchzend stehen wir uns gegenüber und umklammern unsere Körper schützend mit den Armen. Schmerzhaft bohren sich meine Fingernägel in die Haut meines Rumpfes. Ich zittere und mir ist eiskalt. Auch Alec geht es nicht besser. Ich möchte etwas sagen. Aber mir fehlen die Worte. Andrew hatte Recht. Es war ein Fehler herzukommen.

"Geh Magnus. Ich brauche Zeit." sagt Alec und ehe ich etwas erwidern kann verschwindet er im Inneren der Wohnung. Die Tür schließt sich mit einem leisen Klicken und ich sacke weinend und erschöpft auf dem kalten Steinboden zusammen. Es ist mir egal wer mich hört und ob die Nachbarn davon wach werden. Ich lasse meinen Tränen freien Lauf. Dicke heiße Tropfen fallen aus meinen Augen und färben den Boden unter mir dunkelgrau. Der Schmerz droht mich zu zerreißen. Ich fühle es ganz deutlich. Abermillionen Nadelstiche fein säuberlich in meinem Herzen platziert. Ich weine laut und ungeachtet der Nachbarn deren Schlaf ich störe. Hektisch ringe ich nach Atem, kann nicht genügend Sauerstoff in meinen Lungen behalten. Immer wieder flüstere ich den Namen des Mannes, der mich zutiefst verletzte. Es ist aber auch der Name des Mannes, der mir die Freuden des Lebens und pure Leidenschaft zeigte. Auf den Knien mit den Händen abgestützt und die Finger festgekrallt in den Fugen gebe ich mich dem Schmerz und der Hilflosigkeit hin.

"Alexander." schluchze ich. Jedes Wort aus meinem Mund wird begleitet von neuen Tränen und lautem Schluchzen. Mein Mund ist staubtrocken und die Kehle brennt. Ich fühle mich seltsam leer und innerlich tot.

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