7
Die schönsten, angenehmsten Tage sind nicht die, an denen großartige, aufregende Dinge passieren, sondern die mit den einfachen, netten Augenblicken, die sich aneinanderreihen wie Perlen auf einer Schnur
Lucy Maud Montgomery in: Anne von Green Gables
Während es Ariane noch gelang, ihr Gleichgewicht zu halten, stolperte die andere Frau nach vorne und fiel auf ihr Knie. »Oh, das tut mir leid!« Sie streckte der Fremden eine Hand entgegen, die zögernd einschlug und sich aufhelfen ließ. »Ich habe dich überhaupt nicht gesehen. Irgendwie ist der Campus doch unübersichtlicher, als gedacht.«
»Kein Problem.« Die Frau war einen guten Kopf kleiner als Ariane, hatte schmale Schultern und wilde rotbraune Locken.
»Wenn wir in einem Buch wären, könnte das der Beginn einer großartigen Freundschaft werden.« Arianes Mundwinkel hoben sich.
Die Frau klopfte sich die Knie ab und hob eine Augenbraue. »Oder Hass auf den ersten Blick.«
Irgendetwas am Blick der Frau sagte Ariane, dass sich unter der scheinbar harten Schale doch ein weicher Kern versteckte. »Ist wahrscheinlich Auslegungssache?«
»Normalerweise bin ich eine Pessimistin«, antwortete die Frau trocken.
»Tatsächlich? Wie interessant. Mein Name ist Ariane.«
Eine Kirchenglocke läutete und die Frau riss erschrocken die Augen auf. »Daria. Tut mir leid, ich muss weiter.«
Ariane nickte und setzte ebenfalls ihren Weg fort.
Erst nach ein paar Metern fiel ihr auf, dass sie in die selbe Richtung eilten. »Bist du hier zur Orientierungsphase?«
»Ja, du auch?«
»Ja!« Sie mussten ein paar jüngeren Studenten ausweichen. Alle hatten die Ruhe weg. »Was wirst du denn Studieren?«
»Mathematik auf Lehramt. Und Sport.«
»Echt?« Arianes Tasche schlug gegen ihr Bein, als sie überrascht abbremste. »Wie cool! Ich studiere auch Mathe. Und Chemie. Wir haben bestimmt einige Kurse zusammen.«
Am Ende des Weges hockten ein Gruppe von Studenten auf der Wiese, neben denen ein großes Schild lag. »Oh, Bachelorstudenten fürs Lehramt. Da müssen wir wohl hin.«
Es waren etwa zwanzig Leute, von denen eine aufgeregte Vorfreude ausging. Gelächter und Gesprächsfetzen wehten zu ihnen herüber. Die Frau neben ihr wurde immer langsamer.
»Fällt dir etwas auf?«, raunte Daria.
Abgesehen von der Tatsache, dass sich alle blendend zu verstehen schienen, eigentlich nicht. »Was meinst du?«
»Kommen sie dir nicht auch so unglaublich jung vor?«
Das war es. Daria hatte recht. Selbst die Älteren, die mit Listen bewaffnet an einem Baum lehnten, schienen gerade einmal Anfang zwanzig zu sein. Neben dem Stamm, beinahe verborgen, entdeckte sie einen Leiterwagen mit Bierkisten. »Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Daria.
»Einunddreißig. Und du?«
»Dreißig. Zumindest noch einen Monat lang. Naja, es war ja zu erwarten. Die meisten Studieren halt direkt nach dem Abitur.«
»Ohne Umwege«, stimmte Ariane zu. Zumindest war sie abgesehen von den Dozenten nicht die Einzige über dreißig.
Einer der Listenträger trat vor und wedelte mit dem Papier in seiner Hand! »Hallöchen. Mein Name ist Mark und ich bin heute einer euer Tutoren.«
Beim Klang des Namens verzog sich Darias Mund, als ob sie einen unangenehmen Geschmack im Mund hatte.
»Als erstes werden wir die Begrüßungstüten verteilen. Darin findet ihr Infomaterial, also den Stundenplan, wichtige Links, den Ablaufplan der Orientierungsphase und Veranstaltungen der Fachschaft. Unser heutiges Ziel ist es, dass wir uns etwas besser kennen lernen. Es wird ein paar Spiele geben und dann erkunden wir gemeinsam die interessantesten Orte. Habt ihr Lust?«
Ihre Kommilitonen jubelten. Ariane musterte ihre schweigsame Begleiterin. Begeisterung sah anders aus. Daria wippte auf ihren Hacken würgte die Träger ihrer Umhängetasche. Als sie Ariane einen hilfesuchenden Blick zu warf, stieß diese ihr mit einem Ellenbogen in die Seite. »Na komm, lass uns das Beste draus machen. Vielleicht lernen wir ja nette Leute kennen!«
Zwei Stunden später war Ariane nass, heiser und hatte mehrere neue Punkte auf ihrer Liste von Dingen abgearbeitet, die sie vor ihrem vierzigsten Geburstag erledigt haben wollte.
»Neue Aufgabe!« Ihr Tutor Mark versammelte die Reste der Gruppe, die noch aufnahmefähig waren, um sich. »Wir bilden jetzt die längste Schlange. Aus Kleidungsstücken!«
Daria machte einen Schritt rückwärts. »Also, ich habe jetzt einen Turm aus Marshmallows gebaut, Lieder gegurgelt und bin mir sicher, dass ich Hannover jetzt mit völlig anderen Augen sehe. Vor allem nach der Wasserbombenschlacht.«
»Die wir gewonnen haben«, murmelte Ariane. Die Schlacht war witzig gewesen.
»Nichtsdestotrotz, hier bin ich raus. Ich werde mich definitiv nicht entkleiden.«
Die Anderen hatten von der kleinen Rede nichts mitbekommen, sondern zogen schon die ersten Strümpfe aus.
»Ich bin ganz deiner Meinung. Das geht mir auch zu weit.« Ariane lehnte sich an eine Laterne und musterte das Treiben. »Die Frage ist nur: Bleiben und zuschauen oder flüchten?«
»Wenn wir bleiben, werden wir diskutieren müssen.«
»Was hälst du von einem Kaffee?«
»Definitiv mehr als von noch einem Bier.« Im Gegensatz zu einigen ihrer johlenden Gruppenmitgliedern hatte sich Ariane mit dem Alkohol eher zurückgehalten. Zwar wäre die ganze Nummer nüchtern nicht zu ertragen gewesen, allerdings hatte sie aufgepasst und auf ihren Körper gehört. Es wurde Zeit für eine Pause.
Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, schlenderte sie langsam und unauffällig vom Platz. Daria schloss sich ihr an. Erst als sie um die Ecke bogen und außer Sichtweite waren, fingen sie an zu lachen. Die Passanten starrten sie irritiert an, was aber nur dazu führte, dass Ariane einen Schluckauf bekam.
Daria wischte sich die Tränen aus den Augen. »Komm, ich kenne ein nettes kleines Cafe, nicht weit von hier.«
Auch wenn der Gastgarten voll war, hatten sie Glück. Gerade als sie den eingezäunten Bereich betraten, erhob sich ein Pärchen von einem der Tische und ging.
Sie zog Daria hinter sich her und nahm Platz. Ein umsichtiger Kellner nahm ihre Bestellung auf und eilte ins Innere, um ihren Latte Macchiato, den schwarzen Kaffee und zwei Stück Kuchen zu holen.
»Nun, damit hat also die Unizeit offiziell begonnen«, stellte Ariane fest und lehnte sich zurück.
»Stimmt. Und, hast du es so erwartet?«
»Kann man das?«
»Nein. Abgesehen vom Bruder meines besten Freundes kenne ich niemanden, der hier studiert hat. Und Noah ist nicht der Typ, der einen vor Dingen wie diesen warnen würde.«
»Klingt sympathisch.« Ihre Getränke kamen. Auf dem Milchschaum war eine Gittermuster aus Sirup. Genüßlich probierte Ariane und schloß die Augen, als der Zucker auf ihren Magen traf. »Warum studierst du eigentlich? Wenn ich fragen darf.«
»Klar. Ich habe bis jetzt nur ausgeholfen und wollte jetzt etwas eigenes. Meine Mutter hat ein Restaurant musst du wissen, das Tak Tak.«
»Das kenne ich! In List, nicht wahr? Wir machen da die Jahresüberprüfung.«
»Ach wirklich? Was machst du denn?«
Ariane grinste. »Ich bin Schornsteinfegerin. Im Betrieb meines Vaters.«
»Cool. Ich glaube, du bist die erste Schornsteinfegerin, die ich kenne.«
»Wahrscheinlich. Es gibt nicht viele von uns. Frauen im Handwerk sind immer noch viel zu selten.«
Ihr Latte Macchiato war schon fast leer und Ariane signalisierte der Kellnerin, dass sie einen zweiten bestellen wollte. »Aber wenn du jetzt studierst, machst es dir keinen Spaß mehr?«
Arianes streckte sich und zog ihr Haargummi vom kurzen Zopf. Ihre Haare fielen nach vorne. »Nein, das ist es nicht. Schwierig zu erklären.«
»Also ich habe jetzt Zeit. Zumindest wenn ich angezogen bleiben darf.«
»Kann ich garantieren.« Bevor sie weitersprach, schob sich Ariane das letzte Kuchenstück in den Mund. »Für mich stand immer fest, dass ich die Firma meines Vaters übernehmen wollte. Jetzt ist er Anfang fünfzig. Die Arbeit ist großartig, aber ich würde gerne noch etwas anderes kennen lernen, verstehst du?«
Hinter ihnen lachte jemand und Daria beugte sich näher über den Tisch. »Ja, tatsächlich.«
»Und was war es bei dir?«
»Ich bin eine furchtbare Kellnerin.«
Ariane verschluckte sich, hustete und trank ein Schluck Wasser.
»Nein, wirklich wahr. Ständig muss ich nett zu Menschen sein und das Trinkgeld macht das alles auch nicht wett.«
»Also Lehrerin?«
»Nun, meistens mag ich Kinder.«
Mit einem Nicken akzeptierte Ariane die Antwort. Auch wenn ihre neue Kommilitonin ein komplett anderer Mensch war, standen sie doch vor einem ähnlichen Neuanfang. Die nächsten Wochen würden spannend werden. »Und, wo wohnst du? Hast du eine schicke WG oder lebst du etwa auch noch bei deinen Eltern?«
»Da bin ich noch glücklos. Mein Vermieter hat mir gerade gekündigt und jetzt bin ich auf der Suche. Alleine Wohnen werde ich mir wohl erstmal nicht leisten können, wenn du also jemanden kennst, der was sucht, sag mir Bescheid.« Die Kellnerin kam wieder und räumte den Tisch ab.
»Das mache ich gerne.« Ihre neue Bekanntschaft schien etwas Glück zu brauchen.
Sie tauschten ihre Handynummern aus und verabschiedeten sich. Nachdem jede ihre Rechnung bezahlt hatte, klopfte Ariane ihr auf die Schulter. »Das mit dem Glück ist so 'ne Sache. Das kann schneller wiederkommen, als man denkt.«
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