61

Wer die Kunst des Verzeihens nicht erlernt hat, der macht sich das Leben selbst zur Hölle.

Marie von Ebner-Eschenbach, in: Aphorismen

Daria schaute ihrer Freundin nach, wie sie von Luca im wahrsten Sinne des Wortes abgeschleppt wurde. Grinsend schulterte sie ihre Umhängetasche. Der Himmel war in ein tiefes Blau getaucht, von strahlendem Sonnenschein durchzogen, und die kalte Winterluft knabberte an Darias Wangen, als sie den Campus verließ. Ihre Hände vergrub sie tief in den Taschen ihrer Jacke, und ein leichtes Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Sie machte sich auf den Weg, ein längst überfälliges Gespräch mit Paul zu führen, das sie wegen des Lernstresses vor sich hergeschoben hatte.

Als sie die Einfahrt erreichte, blickte sie auf das große Haus, das einst eine Doppelhaushälfte gewesen war. Der umliegende Garten wirkte beinahe verwildert, lediglich um die neue Schaukel herum hatte sich jemand die Mühe gemacht und für ein wenig Ordnung gesorgt. Daria strich sich eine Strähne hinter das Ohr und atmete tief durch, bevor sie die Haustür erreichte. Ein Klopfen und wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Paul begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. »Hey, Dar. Komm rein.«

»Hey, Kätzchen«, murmelte Daria und schlüpfte an ihm vorbei in den Flur.

Paul schloss die Tür hinter ihr und führte sie ins Wohnzimmer. Im Inneren war es behaglich warm. Ein Kaminfeuer flackerte in einen beruhigenden Schein. Ihr folgendes Geständnis verlangte nach Sensibilität und Fingerspitzengefühl. Zwei Dinge, die ihr absolut nicht lagen.

»Wie geht's dir, Paul?«, fragte Daria und ließ sich auf dem Sofa nieder.

Paul zuckte mit den Schultern, während er sich in den Sessel gegenüber fallen ließ. »Alles in Ordnung. Lisa ist gerade einkaufen. Viel interessanter ist doch, wie es bei dir gelaufen ist?«

»Ich glaube ganz gut«, antwortete sie. »Es wird aber wohl ein bisschen dauern, bis wir die Ergebnisse bekommen.«

Paul nickte. Bevor er etwas erwidern konnte, hob Daria die Hand.

Jetzt oder nie. Wobei nie ehrlicherweise keine Option war. »Paul, ich muss dir etwas sagen«, begann sie zögernd.

»Klar, schieß los«, erwiderte Paul und musterte sie aufmerksam.

Daria biss sich auf die Lippe, suchte nach den richtigen Worten, doch ihr fielen einfach keine ein.

»Na komm schon. Wie schlimm kann es denn werden?« Paul versuchte sie mit einem Lächeln zu aufzumuntern. »Es sei denn, du hast jemanden umgebracht. Wobei - ich habe draußen noch ein paar Schaufeln rumliegen und der Garten wäre prinzipiell ja groß genug.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. Ein kurzer Moment der Stille legte sich zwischen sie, indem sich ihr Herzschlag beschleunigte. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie in einer Beziehung mit Mark war? Das würde ihn in einen absoluten Interessenkonflikt stürzen und das gerade jetzt, wo er sich doch eigentlich voll und ganz auf die Babyzeit konzentrieren sollte. Daria atmete tief durch. »Ich wollte dir das eigentlich schon länger sagen.«

Paul hob eine Augenbraue, seine Stirn war leicht gerunzelt. »Du machst es aber verdammt spannend. Muss ich mir Sorgen machen?«

Mist. Das ging jetzt in die völlig falsche Richtung. Sie machte alles noch schlimmer.

»Es geht um Mark.«

Paul setzte sich auf. »Geht es ihm gut? Habt ihr euch gestritten? Wie kann ich helfen?«

Es war zum Verrückt werden. Bevor Daria antworten konnte, trat Frau Allermann aus der Küche. Sie trug Feeke auf dem Arm, die sich mit großen Augen umschaute. Kopfschüttelnd fixierten die klaren Augen der alten Dame Paul. »Sie versucht dir gerade ziemlich erfolglos mitzuteilen, dass sie eine Beziehung mit deinem Bruder führt.«

»Oh.« Pauls Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Verwirrung, Überraschung und ein Hauch von Sorge schienen darin zu tanzen. Daria biss sich auf die Lippe, während Oma Trude und Paul miteinander in stummem Austausch zu kommunizieren schienen.

Glücklicherweise war nun die Katze aus dem Sack und sie schenkte Lisas Oma ein gequältes Lächeln. »Danke, Frau Allermann.«

»Gern geschehen.«

Paul legte den Kopf schief. Sein konzentrierter Blick glitt über Daria. »Okay. Bist du denn glücklich?«

»Sehr.«

»Dann gratuliere ich dir, Dar. Von Herzen.« Paul stand auf und nahm sie fest in den Arm.

»Du bist nicht sauer? Immerhin seid ihr Brüder.«

»Nicht die Spur.« Mit einer Hand wuschelte er ihr durch die Haare. »Allerdings werde ich mein Angebot mit dem Verscharren zurückziehen. Das würde mir meine Mutter übelnehmen.«

»Ist in Ordnung«, erwiderte Daria mit einem Grinsen.

Feeke meldete sich mit einem Glucksen. Ein unangenehmer Geruch breitete sich im Zimmer aus.

Ohne eine Miene zu verziehen übergab Frau Allermann das Baby an Paul. »Bitte schön. Ich wollte sowieso gerade gehen.«

»Die Windel«, seufzte Paul und warf Daria einen entschuldigenden Blick zu. Feeke lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters und blickte mit einem anbetungswürdigen Gesichtsausdruck zu ihm hoch.

»Ihr könnte es euch aber gerne bequem machen. Es dauert nicht lange.«

Frau Allermann schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Mantel. »Nicht nötig, Jungchen. Nachdem ich hier nicht mehr gebraucht werde, sollte ich mich einmal nach meinen anderen Projekten umsehen.«

»Das kannst du so nicht sagen. Feeke braucht dich immer«, erklärte Paul mit einem etwas hilflosen Lächeln.

Frau Allermann gab dem Baby einen Kuss auf die Stirn. »Natürlich. Aber bis es soweit ist, habe ich noch etwas Zeit.«

Paul stutzte und schaute ihr nach, als sie das Haus verließ. »Ich hoffe, sie meint das nicht so, wie ich befürchte.«

»Mache dir um nichts Sorgen, dass du sowieso nicht beeinflussen kannst«, ertönte Frau Allermanns Stimme nochmal, bevor sich die Tür schloss.

»Oje. Hoffentlich kümmert sich sich als nächstes um jemanden außerhalb meiner Familie«, grummelte Paul, allerdings so leise, dass nicht mal Frau Allermann ihn noch hören konnte.

Der Geruch im Zimmer verschlimmerte sich weiter. »Ich sollte auch gehen«, stellte Daria fest.

Paul nickte ergeben. Aus einer Box holte er jede Menge Tücher. »Was hast du jetzt noch vor?«

»Ich glaube, ich hole Mark ab. Er wollte heute sowieso nicht so lange arbeiten.«

»Grüß ihn von mir«, sagte Paul und brachte sie zur Tür.

Wenig später stand sie vor Marks Praxis und sog die kühle Winterluft tief in sich ein. Ihr Herz war leicht. Endlich gab es keine Geheimnisse mehr. Vor ihr lagen ein paar entspannte Wochen, in denen sie einfach nur leben konnte. Wenn sie ehrlich war, gefiel Daria ihr neues Selbst. Das Leben konnte so einfach sein.

Die Tür der Praxis öffnete sich. Daria wollte hinein gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie ihren Vater im Türrahmen bemerkte.

»Tata?«

Ihr Vater zuckte zusammen und sah sie mit schuldbewusster Miene an. Die Anspannung war förmlich greifbar, als er versuchte, etwas zu sagen. Doch dann trat Mark hinter ihrem Vater hervor und lächelte.

»Hey, Ria«, begrüßte er sie.

»Mark«, knurrte sie, während sie sich innerlich gegen die aufsteigende Welle aus Wut und Überraschung stemmte. Soviel zur kürzesten Phase abseits von Geheimnissen, der sie sich je bewusst gewesen war.

»Kotku«, murmelte ihr Vater und rang mit den Händen. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst.«

Darias Zorn wandte sich nun ihrem Vater zu. »Mark behandelt dich? Wieso hast du es mir nicht erzählt?«

Ihr Vater senkte den Blick. »Ich wollte dir keine Sorgen machen. Es war nichts Ernstes, nur ein paar Sitzungen für meinen Rücken.«

»Ach, so?«, schnaubte Daria. »Weil Geheimnisse ja total cool sind?«

Ihr Vater seufzte. »Es war ein Fehler dir nichts zusagen, und dafür entschuldige ich mich.«

Ein kurzer, stummer Moment des Ärgers und der Enttäuschung hing in der Luft. Auf der anderen Seite wusste sie aus Erfahrung, dass es nichts brachte. Ihr Vater lebte in seiner eigenen Welt aus Abschirmung und Reue. Mehr als Vertreiben konnte sie ihn nicht. Und die Entschuldigung war immerhin ein Anfang. »Ist schon gut, Tata. Dir geht es wirklich wieder besser?«

Er nickte. »Ja, sehr. Sein Freund ist wirklich sehr gut, in dem was er tut, weißt du?«

Ihr Blick fuhr zu Mark, der abwehrend die Hände hob. »Ach, nicht so wild. Vielen Dank, aber.«

»Ich muss dann los«, erklärte ihr Vater und berührte sanft ihre Schulter. »Bis bald, Kotku.«

»Bis bald, Tata.«

Sie beobachtete ihn, bis er um die nächste Häuserecke verschwand.

»Jetzt zu dir.« Mit verschränkten Armen wandte sie sich an Mark. Ihr Blick durchbohrte seine entspannte Erscheinung. Er sollte nicht einmal versuchen, sie mit seinem Charme einzuwickeln. »Was ist deine Ausrede für diesen Mist?«

Mark zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ausrede, aber gesetzlich unterliege ich der Schweigepflicht. Hätte ich ihn ablehnen sollen?«

»Verdammt«, fluchte Daria. »Ernsthaft jetzt?«

Das halbe Lächeln, das er ihr schenkte, ließ sie die Stirn runzeln. Machte er sich über sie lustig? Aber dann atmete Daria tief durch. Was nützte der beste Vorsatz, wenn sie beim ersten Streit gleich wieder in alte Verhaltensmuster fiel. Abgesehen davon hatte sie eine Menge wiedergutzumachen.

Sie stöhnte und schluckte den Ärger mit zusammengebissenen Zähnen hinunter. »Na schön.«

»Wie bitte?« Mark starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Ihr Räuspern war lauter als gedacht. »Ich sagte: Na schön.«

»Oh. Und was bedeutet das?«

Die Unsicherheit in seiner Stimme brachte sie zum Schmunzeln. »Das es schon in Ordnung ist. Irgendwie. Hast du ihm geholfen?«

Mark nickte.

»Fein. Dann lass uns gehen. Immerhin haben wir ja jetzt Semesterferien und ich will nichts davon verschwenden.«

Als sie sich in Bewegung setzte, griff Mark ihre Hand und hielt sie zurück. »Was das angeht, habe ich eine Überraschung vorbereitet.«

Sofort runzelte sie die Stirn. »Ich mag keine Überraschungen.«

»Falsch«, konterte Mark und zog sie an sich. »Die alte Daria mochte keine Überraschungen. Die neue steht drauf. Weil sie auf mich steht.«

Daria verdrehte die Augen, aber sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dann drehte sie sich zu ihm um und erwiderte seinen Kuss.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top