58
Die Wirklichkeit ist seltsamer als die Dichtung, aber das liegt daran, daß die Dichtung sich an Wahrscheinlichkeiten halten muss, die Wirklichkeit nicht.
Mark Twain, in: Following the Equator
»Aber ich will keine andere!«, schrie Mark. Daria hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Für einen Moment atmete er tief durch, bevor er deutlich leiser weiter sprach. »Ich wollte nie eine andere! Nur dich, verflucht nochmal.«
»Nur mich?« Daria lachte abfällig. »Dafür hast du aber ziemlich viele Kerben am Bettpfosten, mein Lieber.«
»Jetzt wirst du aber hypokratisch!« Mit wildem Blick trat Mark einen Schritt näher.
»Touché, Marki«, provozierte ihn Daria. In seiner jetzigen Verfassung war sich Daria nicht sicher, ob er sie vielleicht erwürgen wollte. Oder küssen? Sie leckte sich unwillkürlich über die Lippen. Wo kam denn nur dieser Gedanke jetzt her? Sie verdrängte ihn. Es tat so gut, alles aus ihren Kopf rauszulassen. Die aufgestauten Gefühle ihrer Vergangenheit wollten mit endlich ans Licht. »Wenn du so unglaublich aufrichtig bist, warum hast du dann nie etwas gesagt?«
Ihre Frage nahm Mark komplett den Wind aus den Segeln. Er vergaß sogar das Zwinkern und starrte sie einfach nur an. »Was gesagt?«, brachte er hervor.
»Ja, Mister Charmant. Was ich meine ist, wenn du mich mochtest, warum wusste ich davon nichts?«
»Aber ich habe dich doch geküsst!«
Frustriert warf Daria die Hände in die Luft. »Aber danach hast du mir einen Finger auf die Lippen gelegt. Und ich habe gehört, was du Paul gesagt hast! Direkt hinterher!«
»Paul?«
Wenn sie nicht so sauer gewesen wäre, hätte seine planlose Reaktion sie wahrscheinlich amüsiert. So aber stampfte sie mit dem Fuß auf. Hoffentlich warf er bald mal seine Gehirnzellen an. Die Unterhaltung wurde mühsam. »Ja. Paul. Dein Bruder. Mein bester Freund. Klingelt da was?«
Mark setzte zu einer Antwort an, aber sein Mund klappte gleich wieder zu. Erneut wollte er etwas sagen. Doch wieder brach er ab. Dann ließ er sich rückwärts aufs Sofa fallen und starrte zu ihr hoch. »Du willst mir gerade ernsthaft erklären, dass du seit Jahrzehnten sauer auf mich bist, weil du offensichtlich nur die Hälfte eines Gespräches belauscht hast, das überhaupt nicht für deine Ohren bestimmt war?«
Daria spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Wieso war sie jetzt in der Defensive? Am Liebsten hätte sie ihn angebrüllt, aber sie riss sich zusammen. Eher würde sie an ihrer Wut ersticken, als vor ihm die Fassung zu verlieren. »Verkauf mich nicht für dämlich«, sagte sie scharf. »Ich habe genau verstanden, was du gesagt hast. Du hast Paul erzählt, dass ich dich geküsst hätte und du es widerlich fandest.« Sie spuckte die Worte aus, als wären sie Gift. Mark zuckte zusammen, erwiderte aber nichts. Einem seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
»Mensch Ria, ich habe mit Paul nie über dich gesprochenes«, antwortete er schließlich leise. »Wieso warst du überhaupt da?«
Irritiert zuckte Daria mit den Schultern. »Ihr habt beide so wütend ausgesehen. Ich wollte wissen, ob du Hilfe brauchen würdest.« Laut ausgesprochen klang ihre Rechtfertigung irgendwie lahm.
»Was für ein verfahrener Mist.« Mark schloss die Augen und lehnte sich zurück. Immer noch explodierten Raketen vor dem Fenster, auch wenn es deutlich ruhiger geworden war.
Irgendetwas entging ihr hier. »Ihr habt nicht über unseren Kuss gesprochen?«
»Nein.« Mark schlug sich mit der Hand vor den Mund. Ein hysterisch anmutender Gluckser entkam trotzdem. »Nein. Er sprach mich auf Anni an.«
»Anni?«
»Ja, Anni. In jenem Jahr wollte mich Mama warum auch immer verkuppeln.«
Ihre eigenen Beine gaben nach und sie rutschte auf einen Sessel gegenüber von Mark. »Du hast Anni geküsst?«
Mark lachte. Sein Körper sank zur Seite und er musste sich den Bauch halten. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder beruhigte. Daria starrte ihn einfach nur an. Schließlich griff er nach einem Sofakissen und warf es mit voller Wucht gegen Darias Arm. »Das war für alle die Jahre des Leidens! Oh, mein Gott. Innerhalb eines Tages habe ich den schönsten und den schlimmsten Kuss meines Lebens erhalten. Ich dachte immer, du warst eifersüchtig gewesen. Dabei warst du einfach nur planlos.«
»Ich ...« Ihr wurde ganz flau im Magen. Was sollte sie sagen? Zu ihrer Verwunderung wirkte Mark jetzt völlig entspannt. Konnte ein Mensch wirklich so wenig nachtragend sein? Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre, könnte sie das nicht so einfach vergeben. Daria stutzte.
Die Silvesterraketen glitzerten am Himmel und tauchten den Raum in ein warmes, flackerndes Licht. Daria konnte nicht anders, als kurz aus dem Fenster zu schauen und das farbenfrohe Spektakel zu bewundern. Der Blick zurück zu Mark war unvermeidlich.
»Was ist los, Ria?«, fragte er sanft, aber sie konnte den amüsierten Unterton in seiner Stimme erkennen.
Es war an der Zeit, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Sie atmete tief durch. »Ich erkenne gerade, dass ich echt verdammt nachtragend bin. Scheiße.«
Ihr Ausbruch brachte Mark zum Schmunzeln. Er ließ seinen Kopf zurückfallen und zuckte, als er auf die Rückenlehne traf. Mit einer Hand machte er eine fordernde Geste. »Ich brauch das Kissen zurück. Wirf rüber.«
Daria zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn. Ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Ja, sie würde Wiedergutmachung betreiben müssen. Aber ihren Stolz konnte sie nun auch nicht von heute auf morgen ablegen. Ihre Augen wanderten zu Mark. Zum ersten Mal seit Jahren erlaubte sie sich, ihn wirklich anzusehen. Das enge schwarze Hemd, dass er heute gewählt hatte, betonte seine Statur. Aber es waren weder die blauen Augen, die sie nervös machten, noch die Grübchen in seinen Wangen, die sich immer zeigten, wenn er lächelte. Die Anziehung ging viel tiefer. Er war wie ihr ganz persönlicher Felsen. Ein sicherer Hafen. Auch wenn es unglaublich kompliziert zwischen ihnen war, versuchte er für sie da zu sein. Immer schon. Und sie verließ sich auf ihn. Daria schluckte. Sie vertraute ihm.
»Ria?«, fragte Mark und deutete auf das Kissen, dass immer noch auf dem Boden neben ihr lag.
Daria bückte sich und hob es auf. Während ihre Finger sanft über den weichen Stoff strichen, kniff sie ihre Augen zusammen. »Du willst es? Dann hol es dir!«
»Ria?« Die Stimmung veränderte sich. Was zuvor von leichtem Spott und neckender Provokation geprägt war, wandelte sich nun zu einer Atmosphäre der Intimität. Marks Blick blieb an dem Kissen hängen.
»Was denn, Marki. Schüchtern?«
Bei ihrem herausfordernden Tonfall glomm in seinen Augen ein dunkler Glanz auf. Elegant sprang er auf kam näher. Er glich mehr einem Panther auf Beutefang als dem Mann, der ihr bis eben noch gegenüber gesessen hatte. Ihr Atem stockte und die Zeit stand still, während ihre Blicke sich trafen. Marks Lippen waren nur noch Zentimeter von ihren entfernt, und sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren. Als er nach dem Kissen griff, hielt Daria es fest. Keine Unklarheiten mehr. Kein Raum für Missverständnisse. Zielstrebig streckte sie ihre Hand aus und umfasste den Stoff seines Hemdes. Ihre Finger fanden von alleine ihren Weg in seine Haare, als sie ihn zu sich hinunterzog. Mark folgte der Bewegung, sein Blick unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet.
Und dann trafen sich ihre Lippen endlich. Sie fühlte seinen weichen Mund auf ihrem. Ein süßer, leidenschaftlicher Geschmack erfüllte sie, und jede Unsicherheit oder Bedenken schienen in diesem Moment zu verblassen. Sein frischer Duft hüllte sie in eine Art Kokon ein. Endlich erwachte Mark aus seiner Starre. Er rutschte vor ihr auf die Knie und zog sie näher an sich heran. Daria legte den Kopf zur Seite und hauchte kleine Küsse auf seine Kinnpartie.
»Irgendwann wirst du mich noch umbringen«, stöhnte Mark.
Sanft knabberte Daria an seinem Ohr. »Zu deinem Glück nicht heute.«
Mark strich ihr die Haare aus der Stirn und umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht. Seine Augen leuchteten dunkelblau, wie das Meer. Das Kissen glitt auf den Boden, als er sie hochhob und zurück zum Sofa trug.
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