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Der Winter ist die Zeit für Gemütlichkeit, wenn sich das Licht und die Wärme in den Herzen der Menschen entfalten.

Gladys Taber, in: Stillmeadow Christmas

Der Höhepunkt des Darrerschen Weihnachtsfestes bestand schon immer aus dem Wichteln, auch wenn keiner es wirklich zugeben wollte. Die letzten Jahre war es Daria gelungen, sich aus dem Familientrubel herauszuhalten, aber dieses Mal hatte Heike auf ihre Anwesenheit förmlich bestanden.

Wenigstens war sie nicht die Einzige, die in den verrückten Wahnsinn hineingezogen wurde. Feeke schlief in Oma Trudes Arm, die mit kerzengeradem Rücken auf dem Sofa saß. Neben ihnen kuschelten Paul und Lisa miteinander, die zu gleichen Teilen müde und verwundert ihr schlafendes Baby im Auge behielten.

Marlene veranstalte mit Mark auf der Terasse jede Menge Lärm, jedoch hatte sie es vor allem ihrer Mutter verboten, hinauszugehen.

Neben Daria saß Lisas Bruder, der extra für diesen Anlass angereist war. Zweifellos war er ein attraktiver Mann, der bestimmt immer auffiel, wenn er durch die Stadt ging. Seine Haare waren kurz und gepflegt, sein Kinn glatt rasiert und seine stahlgrauen Augen hatte er definitv von seiner Großmutter geerbt. Er kleidete sich wilder, mit Jeans, Hemd und Lederjacke sah er beinahe aus wie ein Biker. Im Moment lachte er jedoch gerade über einen von Noahs Witzen. Vielleicht hätte sie sich vor ein paar Wochen noch mit ihm verabredet, aber jetzt ... Ihre Augen schweiften zur Terrassentür.

Aus der Küche erklangen leise Diskussionsfragmente von Heike und Jürgen. Offenbar war Pauls Mutter unzufrieden, weil niemand an einen Baum gedacht hatte. Nur Jona fehlte noch, ansonsten waren sie vollständig.

Die Terrassentür öffnete sich und brachte winterkalte Luft zu ihnen. Lachend zog Marlene ein Monstrum von Tannenbaum hinter sich her. Der Schmuck hing etwas windschief und am Ende des Stumpfes tauchte Marks schwarzer Schopf auf. Darias Herz machte einen Satz. Müsste sie sich nicht langsam an seine Anwesenheit gewöhnt haben?

»Mein Gott, Kinder, was ist das denn?«, erklang Heikes überraschte Stimme aus der Küche.

»Tadaa«, machte Marlene und wedelte mit der Spitze. Lametta rieselte auf den Boden.

»Milady«, knurrte Mark von hinten. »Du zerlegst deinen Baum.«

»Ups.« Marlene schüttelte sich Schnee von der Mütze und warf eine Blick in die Runde. »Ich habe ihn für dich selbst gefällt, Mama. Alles Gute zu Weihnachten.«

»Ich wünschte, wir hätten damals auch eine Schwester bekommen, nicht nur Jungs«, murmelte Noah in unbestimmte Richtung.

Marlene funkelte ihn an. »Mach dich lieber nützlich und hol den Ständer, Porthos.«

Mittlerweile hatte sich Heike von der Überraschung erholt. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie das gute Stück. Zeigte sich da tatsächlich eine Spur Besorgnis in Marlenes Miene?

Feeke hob ihr Köpfchen von Frau Allermanns Schulter und starrte den Baum an. »Babagmpf«, stellte sie fest.

»Schlaues Mädchen«, antwortete Frau Allermann und nickte zufrieden.

»Hat sie gerade Papa gesagt?« Paul setzte sich aufrecht hin und Daria versteckte ein Grinsen.

»Sie hat Baum gesagt«, knurrte Marlene und lächelte auf das Baby herunter.

Heike trat vorsichtig neben Marlene und nahm sie vorsichtig in den Arm. »Das ist wirklich der schönste Baum, den wir je hatten. Danke, Lenchen.«

Aus dem Flur kam Noah mit dem Ständer. Gemeinsam stopften sie den Tannenbaum hinein und traten einen Schritt nach hinten. Abwesend justierte Heike ein paar Kugeln. Der Baum sah aus, als hätte er bereits die Nacht durchgefeiert. Es schien keine gute Idee zu sein, einen Baum zu schmücken, bevor man ihn ins Wohnzimmer stellte. Aber Daria würde dazu genauso wenig sagen wie der Rest der Familie. Marlene strahlte förmlich vor Selbstzufriedenheit.

Paul stellte eine CD mit Weihnachtsliedern an und als das erste Lied ertönte traf Jona ein.

Damit war der Startschuss für das Wichteln gefallen. Nacheinander wurden Geschenke überreicht. Heike hatte für Lisa einen Miniaturhubschrauber besorgt, was diese mit einem begeisterten Quietschen kommentierte. Marlene bekam von Paul eine Box mit selbstgemachten Pralinen, die er wohl mit Lisa gefertigt hatte. Als Feeke an der Reihe war, erhielt sie ein knisterndes Stofftier, das sie sogleich interessiert inspizierte.

Dann war Daria an der Reihe. Sie zog ein kleines Päckchen aus dem Haufen und reichte es Jona, der neben ihr saß. Mit einem Lächeln öffnete er das Geschenk. Darin befand sich ein handgemachtes Schlüsselband mit einem minimalistischen Design. Daria hatte es extra für ihn angefertigt und sie musste grinsen, als sie den Ausdruck ehrlicher Freude auf seinem Gesicht feststellte. Jona war allerdings auch ein sehr einfacher Wichtelkandidat gewesen, was sie ohne die Spur eines schlechten Gewissens anerkannte.

Das nächste Geschenk wanderte wieder zu Feeke, die von der Ein-Geschenk-Regel ausgenommen war. Jürgen reichte ihr einen winzigen Football, der mit einer großen roten Schleife umwickelt war.

»Danke, Papa«, erklärte Paul, als sich Feeke die Schleife schnappte und begeistert brummte. »Aber glaubst du nicht, sie ist noch etwas jung für Ballspiele?«

»Ach was«, antwortete sein Vater. »Wir haben bei Marlene auch früh angefangen. Das schadet nicht.«

Ihr entging nicht Pauls panischer Blick, den Lisa mit einem Knuff in seine Rippen unterbrach..

»Sind alle durch?«, fragte Heike schließlich.

»Nein«, erklärte Frau Allermann und Marlene grinste schelmisch in Darias Richtung. »Stimmt. Eine fehlt noch.«

Daria zuckte mit den Schultern und versuchte, nonchalant zu wirken. »Danke, Marlene. Du bist wirklich wie die Schwester, die ich nie wollte.«

»Gleichfalls«, erwiderte Marlene.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Mark einen kleinen Umschlag hervorzog und ihr übergab. Ein Hauch von Nervosität lag in der Luft, als Daria den Umschlag öffnete und eine Urkunde zum Vorschein kam. Die Worte "Schildkrötenpatenschaft" prangten in großen Buchstaben darauf.

Überrascht musterte sie Mark, der beinahe verlegen wirkte. »Das ist für dich«, erklärte er. »Du unterstützt damit eine echte Schildkröte in einem Naturschutzgebiet.«

Darias Herz schlug schneller, als sie die Urkunde betrachtete. »Danke, Mark. Das ist wirklich nett von dir.«

Tatsächlich war es das schönste Geschenk, dass sie seit langem bekommen hatte. Die Patenschaft war mehr als eine Geste. Während Kasper friedlich überwinterte, gab es jetzt irgendwo eine Schildkröte, die wegen ihr Hilfe bekam. Aus dem Umschlag rutschte ein geflochtenes Armband mit einer kleinen geschnitzten Schildkröte als Anhänger.

»Die gehört dazu«, murmelte Mark.

»Nice, Aramis.« Marlene prostete ihrem Zwillingsbruder mit einer Apfelschorle zu.

Feeke lutschte derweilen an der roten Schleife und Heike stemmte die Hände in die Hüften. »Räumt das bitte zusammen, ihr Gauner. Mein Enkelkind scheint Hunger zu haben, also ziehen wir das Abendessen vor.«

Daria stand auf, um Geschenkpapier einzusammeln, aber sie war nicht schnell genug. Zwischen Noah und Marlene entbrannte ein regelrechter Wettkampf bis auf den letzten Fitzel. Nur an Feekes Schleife traute sich keiner heran. Daria nutzte die Ablenkung. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ein Badezimmer aufzusuchen.

Aus dem unteren Bad klang Wasserrauschen, daher stieg Daria die Treppe hinauf. In diesem Teil des Hauses hatte sie sich schon länger nicht mehr aufgehalten. Oben angekommen, fiel ihr Blick auf das Gästezimmer, in dem sie früher oft genächtigt hatte. Es war einladend und gemütlich eingerichtet, beinahe so als würde es auf sie warten. Daria schmunzelte. Es hatte Zeiten gegeben, da war ihr der Raum mehr Zuhause gewesen als die Wohnung ihrer Eltern. Gegenüber befand sich das Kinderzimmer von Mark. Sie konnte nicht anders, als kurz innezuhalten und einen Blick zu riskieren. Auch wenn sie keine persönlichen Dinge entdeckte, spürte sie seine Anwesenheit deutlich. Hinter ihr knarrte die Treppe und sie eilte weiter in das obere Bad. Nicht auszudenken, wenn sie jemand beim Schnüffeln ertappen würde. Sie würden sie damit endlich aufziehen. Mit einem Seufzen betrat sie den Raum, schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Holz. Ihr Blick fiel auf den Spiegel, und sie bemerkte, dass eine ihrer Kontaktlinsen verrutscht war.

Vorsichtig korrigierte sie den Sitz der Linse, während sie ihre eigene Reflexion betrachtete. Die letzten Monate waren turbulent gewesen, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie sich in gewisser Weise verändert hatte. Marks Art ging ihr unter die Haut. Er schien ihre Kanten irgendwie abzuschleifen und sie war sich nicht sicher, ob sie das Ergebnis mochte.

Nichtsdestotrotz, das Geschenk gefiel ihr und es gab keinen Grund, das Armband nicht zu tragen. Der kleine Anhänger schmiegte sich an ihr Handgelenk. Als sie fertig war, verließ Daria das Badezimmer und zuckte zusammen.

Mark lehnte lässig an der Wand, die Hände in den Hosentaschen, und ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen. Als Daria näher kam, bemerkte sie, wie sein Blick über sie glitt, als würde er jede Einzelheit in sich aufsaugen.

»Verirrt?«, fragte er mit einem charmanten Lächeln. »Oder versteckst du dich vor mir?«

Heute nicht. »Auf dem Klo? Das wäre schon ziemlich würdelos, oder?« Sie lächelte leicht und schüttelte den Kopf. »Nur kurz das Badezimmer aufgesucht. Das untere war besetzt.«

»Ein echtes Problem bei Familienfeiern«, stimmte er zu und trat einen Schritt näher. Das Halbdunkel des Flures schuf eine unwirkliche Atmosphäre. »Wie in alten Zeiten, hm?«

Hatte er sie etwa gesehen, wie sie in sein Zimmer gespäht hatte? Daria drückte ihren Rücken durch. »Was soll ich sagen? Ich kann nicht aus meiner Haut.«

Mark lehnte sich näher, sein Lächeln war jetzt eindeutig herausfordernd. »Was ich dich seit unserer Herfahrt fragen wollte: Kann es sein, dass du mir in letzter Zeit ausweichst? Meine Wohnung fühlt sich schon fast so leer an, wie vor deinem Einzug.«

Um die Distanz zwischen ihnen zu wahren trat Daria unauffällig einen Schritt zurück. »Das bildest du dir nur ein. Ich schreibe bald Klausuren. Es tut mir leid, dass ich damit keinen Preis für den Mitbewohner des Jahre erhalte.« Ihre Worte hatten einen sarkastischen Unterton, der das Spannung zwischen ihnen noch verstärkte.

Bei seinem kehligen Lachen richteten sich ihre Nackenhaare auf. »Du scheinst nervös zu sein, Ria. Ich wusste gar nicht, dass ich bedrohlich wirken kann.«

»Bedrohlich würde ich es nicht nennen«, erwiderte Daria kühl und wandte den Blick kurz ab, um ihre Kontrolle wiederzugewinnen.

Mark rutschte ein weiteres Stückchen an sie heran, jetzt war nur noch ein kleiner Abstand zwischen ihnen. Die Luft um sie herum war erfüllt von seinem Duft. Sandelholz und irgendetwas, dass sie nicht benennen konnte. Ihre Nasenflügel blähten sich und sie verfluchte sich lautlos. Sein Blick glitt über sie, und sie spürte förmlich die Hitze, die zwischen ihnen herrschte. »Wie würdest du es denn nennen?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, während sie sein Spiel mitspielte. »Ich habe keine Angst vor dir, Mark. Du bist nur eine Komplikation, mehr nicht.«

Er lachte erneut, ein freches Funkeln in seinen Augen. »Bist du dir da sicher?«

»Definitiv.«

Mark lächelte breit, als ob er ihre Unsicherheit witterte. »Beweise es.«

Bevor sie antworten konnte, hob er mahnend den Finger. »Lass uns etwas unternehmen. Rein freundschaftlich, ohne Hintergedanken.«

Daria schnaubte. »Als ob du keine hättest.«

Sein Miene war siegessicher. »Nun, das wirst du nur herausfinden, wenn du dich drauf einlässt, nicht wahr?«

Ihr Blick traf seinen, und Daria spürte, wie ihr Puls schneller wurde. Warum wurde es nur immer schwieriger, ihre Mauern aufrechtzuerhalten? »Versuchst du meine Neugierde zu ködern?« Verdammt. Es funktionierte.

Ein leises Knistern lag in der Luft. Doch bevor sie Gefahr lief, in diesem Spiel zu versinken, erklang Marlenes Stimme aus dem Wohnzimmer.

»Mark? Daria! Es ist Zeit für das Essen!«

Als sie sich schob sich an Mark vorbei schob, berührte ihre Schulter seine Brust und ihr stieß heiße, unwillkommene Röte in die Wangen. Hoffentlich war es dunkel genug, damit er es nicht bemerkte.

»Und?«, fragte Mark leise.

Sie musste dringend hier weg. »Okay!«, blaffte sie. »Du kriegst Silvester.«

Mit einem letzten Blick auf Mark, folgte Daria Marlenes Aufforderung und stürzte sich zurück in das Familienchaos.


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