54
Weihnachten ist nicht nur eine Jahreszeit. Es ist ein Gefühl.
Edna Ferber, in: Roast Beef, Medium
Mark starrte auf die Wand, als würde er in ihren Tiefen nach Antworten suchen. Er war auf dem besten Wege sich in einen grüblerischen Langweiler zu verwandeln. Ein Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. Was bedeutete, er würde sich zu seinem großen Bruder entwickeln. Erschreckend.
Aber was sollte er tun? Paul Erinnerung deckte sich mit seiner. Tatsächlich war es an diesem Tag zwischen ihnen bergab gegangen. Hatte Daria mitbekommen, dass dieses Mädchen ihn damals abgefangen und geküsst hatte?
Vielleicht war sie eifersüchtig gewesen. Vielleicht hatte sie gedacht, dass er nur mit ihr gespielt hätte. Vielleicht wollte sie deshalb danach nichts mehr mit ihm zu tun haben. Vielleicht ...
Das Klingeln der Haustür riss ihn aus seinen Grübeleien. Mit einem Seufzen stand auf. Warum bekam er in letzter Zeit eigentlich immer so viel Besuch? Er ging zur Tür und öffnete sie.
Vor ihm stand Marlene, mit einer großen Einkaufstasche unter dem Arm. Wenn er sich nicht täuschte, lugte aus der Tasche der Schaft einer Axt.
»Schwesterherz«, stellte Mark fest und hielt ihr die Tür auf.
Marlene blieb im Türrahmen stehen und wippte auf ihren Hacken. Ihr Kopf wurde von einer roten Mütze bedeckt, der sich mit dem grünen Schal biss. Eine Weihnachtselfe mit Axt. Und er hatte gedacht, dass dieser Tag langweilig werden würde.
Schmunzelnd schüttelte Mark den Kopf. »Und was führt dich heute zu mir? Was immer es ist, werde ich überleben?«
Marlene hob theatralisch eine Augenbraue, ihr Lächeln wurde breiter. »Du wirst es kaum glauben, aber ich habe beschlossen, dass es an der Zeit ist, selbst einen Weihnachtsbaum zu fällen. Und du, mein lieber Bruder, wirst mich begleiten.«
Als ob er es wagen würde, seiner bewaffneten Schwester zu widersprechen. »Selbstverständlich, oh dominante Waldelfe. Ich kann mir kaum etwas Schöneres vorstellen, als mit dir durch den Wald zu schleichen.«
Marlene lachte ebenfalls und schüttelte spielerisch den Kopf. »Komm schon, Mark. Das wird lustig. Und wer weiß, vielleicht wird diese Weihnachtsbaumjagd unser neues Familientradition.«
»Nur aus Interesse. Warum kommst du zu mir? Ist nicht eigentlich Noah für deine ganz verrückten Einfälle zuständig?« Vom Haken hinter der Tür nahm er seinen Wintermantel und dicke Handschuhe.
»Noah will keine Nadeln in seinem Auto.«
Mark stutzte. »Wir fahren mit deinem Auto?«
»Nein! Ich will das ja auch nicht.«
»Ah, verstehe.« Mark nickte. »Ich nehme an, dass ich fahren werde?«
»Natürlich. Fahren und mir tragen helfen. Der Baum, den ich suche, wird riesig werden.«
In der Garage angekommen kletterte Marlene auf den Beifahrersitz und programmierte die Koordinaten eines abgelegenen Waldstückes in sein Navi.
Mark nickte, während er in den Wagen einstieg. »Ein riesiger Baum also. Hoffentlich reicht die Axt aus, um ihn zu fällen.«
»Mach dir keine Sorgen, ich habe eine professionelle Ausrüstung dabei. Wir werden diesen Baum schon klein kriegen«, erwiderte Marlene und schnallte sich an.
Die Fahrt führte sie durch verschneite Straßen, vorbei an kahlen Bäumen, die wie Skulpturen im Winterland standen.
»Wen hast du eigentlich beim Familienwichteln gezogen?«, fragte Marlene und warf ihm einen neugierigen Seitenblick zu.
Mark bog in den kleinen Feldweg ab und folgte den spärlichen Instruktionen des Navis. »Wird nicht verraten.«
»Jemand Gutes?«, hakte Marlene nach.
»Jep.«
Marlene verzog ihren Mund. »Dann verrate es mir halt nicht. Da stehe ich drüber.«
Schließlich erreichten sie den Wald. Die Bäume waren mit einer leichten Schneedecke bedeckt, und die Luft war frisch und klar. Marlene deutete auf einen Weg, der tiefer in den Wald führte. Sie stiegen aus und Marlene griff nach ihrer Tasche.
Mit der Axt unter dem Arm folgte Marlene einem verschneiten Pfad. Mark blieb hinter ihr und sog die klare Luft in seine Lungen. »Sag mal, ist es überhaupt legal? Ich meine, hier einfach so Bäume zu fällen?«
»Keine Sorge, der Wald gehört einem Kunden von mir. Und er hat mir erlaubt, einen Baum zu holen. Das ist völlig in Ordnung.«
Im Wald lief sie von Baum zu Baum, begutachtete jeden Wuchs und achtete auch auf die Nachbargewächse. Neben einer Tanne blieb sie stehen. »Schau mal, die hier. Sie ist kleiner als ich gehofft hatte, aber er wird trotzdem gut aussehen, wenn wir ihn geschmückt haben. Außerdem steht sie recht dicht bei den anderen und wird wahrscheinlich irgendwann Probleme bekommen.«
Mark schaute auf den Baum und nickte zustimmend. »Definitiv. Und sie wird großartig in deinem Wohnzimmer aussehen.«
»Da soll sie aber gar nicht hin«, erklärte Marlene und zog ihre Axt hervor. »Denkst du, dass sie bei dir hinein passt?«
Marks Augen weiteten sich überrascht. »Warte, meinst du, du willst mir diesen Baum schenken?«
»Ach was, wenn ich dich gezogen hätte, würde ich das ganz anders aufziehen.«. Kichernd führte sie einen Probeschwung durch. »Stell dir vor, du wachst mitten in der Nacht auf, und der Baum ist über dich gebeugt.«
Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. »Du hast Daria?«
Marlene nickte und die rote Mütze auf ihrem Kopf wippte fröhlich im Takt. »Volltreffer. Eine gute Idee, oder? Daria braucht mehr Weihnachten in ihrem Leben.«
»Halt, wirklich, einen Moment, bitte«, unterbrach Mark sie und stellte sich schützend vor den Baum. »Ähm, denkst du wirklich, dass ist eine gute Idee?«
Ein Stirnrunzeln zeigte sich auf der Stirn seiner Schwester. »Denkst du nicht?«
»Daria steht nicht wirklich auf Weihnachten.« Eine Idee wabberte durch sein Gehirn. »Wir könnten aber tauschen!«
»Was?«
»Wirklich, Milady. Lass uns tauschen!«
»Tauschen?«, Marlene stellte die Axt ab und verschränkte die Arme. »Wen hast du denn gezogen?«
Mark grinste. »Unsere Mutter.«
Seine Antwort brachte Marlene zum Lachen. »Oh, Aramis, das ist perfekt. Du weißt, wie sie immer darüber klagt, dass der Baum, den Papa am letzten Tag besorgt, zu klein ist. Und in das Haus unserer Eltern würde ein größerer Baum passen.«
»Also abgemacht?« Mark reichte ihr seine Hand und Marlene schlug ein.
»Abgemacht.« Die Sonne ging unter und gleichzeitig sanken die Temperaturen. »Dann lass uns mal den perfekten Baum für Mama finden.«
Mark musterte die Tannen um sich herum.»Hast du eigentlich kein schlechtes Gewissen, was den Baum angeht?«
Seine Schwester schüttelte abwesend den Kopf. »Nein, tatsächlich nicht. Mein Kunde meinte, hier ist nächstes Jahr eine Umforstung geplant, um heimische Arten zu stärken und zu erhalten. Da wird also einiges sowieso gefällt werden und da ist es doch irgendwie schön, wenn wir dem Baum noch einen letzten Auftritt ermöglichen.«
So gesehen hatte sie gar nicht mal unrecht. Marlene blieb vor einem gut gewachsenen Tannenbaum stehen. »Der hier.«
Sein Vater würde Schnappatmung bekommen, aber der Baum würde sich tatsächlich gut im Darrerschen Wohnzimmer machen. »Sieht gut aus«, stimmte er zu.
Bevor sie sich ans Werk machte, schüttelte sie die Äste und wärmte sich auf.
»Also, der scheint auch unbewohnt zu sein.«
Mark streckte sich ebenfalls. »Soll ich dir helfen?«
Ihr Lachen verbreitete nur minimale Abwertung. »Ich glaube es geht schneller, wenn ich das selber in die Hand nehme. Außerdem habe ich noch nie einen Baum gefällt, stell dich nicht zwischen mich und neue Erfahrungen.«
Geschlagen hob Mark die Hände und versuchte, ihr nicht im Weg zu stehen.
Als der Baum lag, wickelte Marlene ihn in eine Plane, die sie ebenfalls aus der Tasche gezogen hatte. Sie verknotete die Plane mit mehreren Schnüren. »So, auf gehts. Fass du hinten an und pass auf, dass er nicht allzu durchgerüttelt wird.«
»Selbstverständlich, Milady«, spottete Mark und griff nach der Spitze des Baums. Gemeinsam trugen sie ihn den Pfad entlang zum Auto.
Der Baum passte nicht ganz in den Kofferraum, aber Marlene fixierte den Deckel mit Spanngurten. »Mist, ich habe eine rote Fahne vergessen. Hast du sowas?«
Mark schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, auf spontane Weihnachtsbaumüberstellungen bin ich nicht vorbereitet.«
»Sei es drum.« Marlene zuckte mit den Schultern und nahm ihre rote Mütze vom Kopf. Sie schnürte sie an die Tannenbaumspitze und stieg ein. »Wird schon gehen.«
Durch den offenen Kofferraum drang kalte Winterluft ins Fahrzeug, ansonsten erreichten sie den Stadtrand von Hannover ohne Probleme.
»Also.« Marlene drehte sich zur Seite und musterte Mark. »Was schenkst du denn jetzt Daria? Findest du so kurz vor Weihnachten überhaupt noch was anständiges?«
Eine gute Frage. »Natürlich.«
»Du kannst ihr ja ansonsten Schenken, was du für Mama besorgt hast.«
Seufzend dachte Mark an den Anhänger für das Lieblingsarmband seiner Mutter. Sei es drum, den konnte er ihr auch zum Muttertag überreichen. »Nein, passt schon. Ich überlege mir was eigenes.«
»Soso.« Ein katzenhaftes Grinsen zeigte sich auf Marlenes Gesicht. »Falls du Hilfe brauchst, melde dich ruhig.«
Die blauen Blinklichter eines Streifenwagens tauchten hinter ihm auf und unterbrachen ihr Gespräch. Mark unterdrückte einen Fluch und folgte dem Anhaltezeichen, indem er seinen Wagen an den Straßenrand lenkte. Seine Schwester verdrehte die Augen und Mark konnte nur hoffen, dass sie ihre große Klappe zurückhielt.
Ein Polizist, dessen markantes Aussehen von kurzgeschnittenem dunkelbraunem Haar und scharfen Gesichtszügen geprägt war, stieg aus dem Wagen, gefolgt von einer jungen Polizistin. Mit einer hochgezogenen Braue musterte der Mann den Baum im Kofferraum, dann nickte er seiner Kollegin zu, die zum Fenster auf der Fahrerseite trat.
»Guten Abend. Polizei Hannover«, erklärte die junge Frau hastig. »Bitte Fahrzeugschein und Fahrerlaubnis, bitte.«
Während Mark die gewünschten Papiere aushändigte, musterte Marlene die Polizistin. Dann senkte sie das Fenster auf ihrer Seite, vor dem der männliche Polizist Position bezogen hatte.
»Marlene«, stieß Mark zwischen seinen lächelnden Lippen hervor. »Du musst das Fenster nicht herunterfahren, weißt du?« Hoffentlich sagte sie nichts provozierendes. Oder abfälliges. Oder missverständliches. Mark machte sich nichts vor. Diese Begegnung konnte unangenehme Folgen haben.
»Kein Problem«, erklärte der Polizist. Seine Augen fixierten Marlene und strahlten in einer Mischung aus Charme und Selbstbewusstsein. Mit dem Kopf deutete der Polizist in Richtung Streifenwagen und die Polizistin folgte dem stummen Befehl. Dann wandte er sich wieder ihnen zu. »Ich wollte Ihrer Freundin auch keine Angst machen.«
»Schwester«, stellte Mark fest.
»Zwillingsschwester«, fügte Marlene hinzu.
Der Polizist lehnte sich an das Fenster. Seine dunklen Augen ruhten auf Marlene, die unverwandt zurückstarrte. Am Liebsten hätte Mark seine Schwester getreten.
»Müssen Sie sich nicht vorstellen, oder so?«, fragte sie gleich.
Zu Marks Erleichterung reagierte der Polizist eher amüsiert. »Polizeioberkommissar Aslan«, erklärte er. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Seine Schwester schien irritiert zu sein, antwortete aber dennoch. »Marlene«, erklärte sie. »Marlene Darrer.«
Die Polizistin kehrte zu seinem Fenster zurück und übergab ihm die Papiere. »Wir haben Sie angehalten, weil Sie ihren Baum nicht richtig gesichert haben.«
Marlene drehte sich um und seufzte leicht. »Ja, Sie haben recht. Wir haben die rote Fahne vergessen.«
»Genau«, stimmte die Polizistin zu. »Das kann gefährlich werden.«
Der Polizist schien seine Schwester zu mustern. Mark konnte nicht genau deuten, was zwischen ihnen vorging, aber es schien, als würde da irgendetwas vorgehen, dass über das übliche Maß an Höflichkeit hinausging. »Wie weit haben Sie es denn noch?«, fragte er schließlich.
»Nicht mehr weit.« Mark deutete die Straße hinunter. »Marlene wohnt gleich da hinten.«
Der Polizist nickte. »Dann belassen wir es bei einer Verwarnung. Frohe Weihnachten«
Überrascht hoben sich Marks Augenbrauen. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Danke, Ihnen auch«, sagte er.
Marlene nickte hoheitsvoll. »Frohe Weihnachten, Herr Aslan.«
Der Mann stutzte. Dann lächelte er Marlene breit an. »Auf Wiedersehen, Frau Darrer.«
Als sie sich wieder auf den Weg machten, bemerkte Mark, wie Marlene ihren Blick auf den Polizisten richtete, während er ebenfalls zu ihr sah. Ein kurzer Moment der Spannung lag in der Luft, bevor Marlene schließlich den Blick abwandte.
Mark setzte den Wagen wieder in Bewegung, und Marlene lehnte sich im Sitz zurück. »Typisch, dass uns ausgerechnet heute eine Polizeistreife erwischt.«
Mark lächelte leicht. »Vielleicht sind sie hier, um sicherzustellen, dass wir keine illegalen Weihnachtsbaumüberstellungen machen.«
»Vielleicht«, antwortete Marlene leise, aber es war deutlich zu sehen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.
Bald erreichten sie Marlenes Wohnung, wo sie den Baum auf den Balkon stellten. Während der ganzen Aktion sagte Marlene nichts.
Mark schüttelte lächelnd den Kopf. »Du hast wirklich ein Talent dafür, die Dinge zu organisieren.«
Ihre Antwort wurde von einem Schulterzucken begleitet. »Was soll ich sagen, ich habe es drauf. Ich wollte das eigentlich schon immer mal machen.«
Mark ging in ihre Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. »Du weißt, Marlene, du könntest eine Liste machen. Eine Liste mit Dingen, die du in deinem Leben noch machen möchtest.«
Anstatt sich selber ein Glas einzuschenken, griff sich Marlene das seine. »Das ist eine gute Idee, Aramis. Vielleicht sollte ich das wirklich tun.«
Mark versteckte ein Lächeln. Der Abend schien seine Schwester genug von Darias zukünftigem Geschenk abgelenkt zu haben. Jetzt musste er sich nur noch selbst darüber Gedanken machen, was er seiner Mitbewohnerin zu Weihnachten schenken wollte.
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