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Bildung ist der Schlüssel zur goldenen Tür der Freiheit.
George Washington Carver, in: The Man Who Talks with the Flowers
Der Lehrsaal für Chemie vereinte Wissensvermittlung und praktisches Lernen. Der Vortragsraum, mit seinen geordneten Reihen von Tischen und Stühlen für die Studierenden, präsentierte ein Pult, von dem aus die Dozentin ihre Vorlesungen hielt. Ein Computer wartete auf Anwendung und ab und an nutzte sie auch den Beamer. Gegenüber vom Pult öffneten sich die Türen zum Laborraum, einem Schatzkästchen chemischer Instrumente und Apparaturen. Ariane rollte ihren Glücksbringerstift zwischen den Fingern und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, während sie auf den Beginn der Vorlesung wartete. Zwar hatte sie am Wochenende mit Daria telefoniert, aber ihre Freundin war in Bezug auf die Hochzeit irgendwie ausweichend gewesen. Nun war Arianes Neugier geweckt. Normalerweise freute sich sich auf ihren Chemiekurs am Montag, aber heute schien die Zeit bis zur Matheeinheit kaum zu vergehen. Natürlich hatte ihre Ungeduld nichts, aber auch gar nichts mit Dr. Schütz zu tun, den sie heute ein letztes Mal vor der Weihnachtsunterbrechung sehen würde. Ari seufzte und zupfte an ihrem Laborkittel.
»Ist hier noch frei?«, fragte jemand neben ihr. Ariane drehte sich zur Seite und sah sich überrascht der Frau gegenüber, die vor einigen Wochen mit ihrem Vermieter in ihrer Küche gebacken hatte. Wie Ariane auch trug sie die übliche Schutzausstattung, wie sie ihre Dozentin verlangte.
»Wir kennen uns doch«, stellte sie überrascht fest.
Die ältere Dame nickte. »Genau. Ariane, nicht wahr?«
In ihrem Gedächtnis kramte sie nach dem Namen der Frau. Daria würde es wissen, aber in Chemie war sie alleine. Bevor ihr Zögern unhöflich wirken konnte, rutschte sie einen Platz weiter nach innen. »Ja, natürlich ist hier frei«, antwortete sie mit Verspätung. »Nehmen Sie doch Platz.«
Die Dame setzte sich und zog einen Block und eine metallene Federtasche aus einer Handtasche. Ariane starrte beides an.
»Sie dürfen gerne fragen«, erklärte die Dame mit einem leichten Lächeln.
Ariane räusperte sich. »Oh. Tut mir leid. Ich habe Sie nur noch gar nicht hier gesehen.«
»Natürlich nicht. Ich bin heute auch zum ersten Mal hier. Wissen Sie, ich schaue mir heute verschiedene Kurse an, weil ich mich für eine Gasthörerschaft an der Universität interessiere.«
Der Saal füllte sich langsam mit weiteren Studenten. Bisher war Ari die Älteste im Raum gewesen, doch diese Position wurde nun eindeutig von ihrer Sitznachbarin übernommen.
»Und Sie interessieren sich für allgemeine und anorganische Chemie, Frau ...?«
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Allermann. Trude Allermann.« Die Dame lächelte verschmitzt. »Tatsächlich ist mir zur Zeit ein bisschen langweilig. Ich suche nach etwas, das meinen Geist beschäftigt hält. Und Chemie ist sehr interessant.«
In diesem Moment trat die Dozentin durch eine Tür ein. »Guten Morgen.«
Die Frau stellte ihre Tasche auf das Pult und schlüpfte in ihren Laborkittel. An die Tafel schrieb sie einige Seiten, mit der die Studenten die folgende Stunde daheim nachvollziehen konnten. Dann forderte sie die Anwesenden mit einer Handbewegung auf, ihr in den Laborraum zu folgen. »Heute werden wir uns mit einem Experiment aus dem Bereich Reaktionskinetik beschäftigen. Wie Sie wissen, hängt die Reaktionsgeschwindigkeit von verschiedenen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Konzentration, der Temperatur, dem Druck oder dem Vorhandensein von Katalysatoren. Um Ihnen das zu veranschaulichen, werde ich heute etwas einfaches zeigen, das Sie sogar zu Hause nachmachen können.«
Die Dozentin holte eine gefüllte Flaschen aus ihrer Tasche. Danach stellte sie eine transparente Flasche mit einem roten Deckel in die Mitte des Tisches, die etwa einen Liter fassen konnte.
Die Studierenden nahmen nach und nach um den Labortisch herum Platz. Sie waren etwa zwanzig an der Zahl und trugen alle weiße Laborkittel. Einige von ihnen machten sich Notizen, andere unterhielten sich leise. Frau Allermann hatte ganz selbstverständlich neben Ariane Platz genommen. Nacheinander wurden nun verschiedene Flüssigkeiten in die leere Flasche gefüllt.
»Was wir hier haben, ist eine Lösung von Wasserstoffperoxid, das Sie vielleicht als Desinfektionsmittel kennen. Hierbei handelt es sich um eine instabile Verbindung, die sich langsam in Wasser und Sauerstoff zerlegt. Die Reaktion ist jedoch sehr langsam und kaum sichtbar. Um sie zu beschleunigen, brauchen wir einen Katalysator. In diesem Fall werden wir ganz einfach Trockenhefe verwenden.«
Die Dozentin öffnete die kleine Packung und schüttete den Inhalt in eine weitere Schüssel. Frau Allermann beobachtete aufmerksam das Geschehen. »Ich hätte beim Wasserstoffperoxid jal 30 % statt 6 % genommen«, murmelte sie leise.
Ariane drehte ihren Kopf zur Seite. »Hätte das denn einen großen Unterschied gemacht.«
Die stahlgrauen Augen von Frau Allermann glitten kurz über Ariane hinweg, dann schmunzelte sie. »Ein wenig. Auf jeden Fall hätte sie einen größeren Auffangbehälter gebraucht.«
Als nächstes gab die Dozentin warmes Wasser hinzu und rührte die Mischung um. »Trockenhefe enthält Enzyme, die als biologische Katalysatoren wirken. Enzyme sind spezielle Proteine, die chemische Reaktionen in lebenden Zellen beschleunigen. In diesem Fall wird das Enzym Katalase die Zerlegung von Wasserstoffperoxid in Wasser und Sauerstoff katalysieren.«
Frau Allermann beugte sich nach vorne. »Kaliumjodid wäre auch ein guter Katalysator gewesen«, grinste sie. »Zumindest wenn man Explosionen mag.«
»Oh. Mögen Sie die denn?«
Die Dozentin warf einen strengen Blick in ihre Richtung, bevor sie einen Löffel voll Hefe-Wasser-Mischung nahm und ihn gab in die Flasche mit der Wasserstoffperoxid-Lösung. »Beobachten Sie nun genau, was passiert.«
Kaum hatte sie den Löffel losgelassen, begann sich in der Flasche ein Schaum zu bilden. Der Schaum stieg schnell an und quoll heraus wie ein Vulkan.
»Wow!«, riefen einige Studierende aus.
»Das ist beeindruckend!«, sagte Ariane zu ihrer Sitznachbarin.
Frau Allermann nickte. »Das ist Chemie. Ich habe tatsächlich einmal eine Versucht gesehen, da wurde Aceton hinzugefügt. Das sollte man aber nicht nach machen.«
»Oh, weil es in die Luft gegangen ist?«
»Ganz genau.« In den Augen der Frau funkelte eindeutig Erheiterung.
»Das nennt man den Elefantenzahnpasta-Effekt«, erklärte die Dozentin. »Der Schaum besteht aus vielen kleinen Bläschen aus Sauerstoffgas, die vom Spülmittel eingefangen werden. Die Lebensmittelfarbe gibt dem Schaum eine schöne Farbe. Die Reaktion ist exotherm, das heißt, sie gibt Wärme ab. Wenn Sie den Schaum berühren, werden Sie merken, dass er warm ist.«
Die Dozentin nahm einen Handschuh und machte es vor.
»Seid aber vorsichtig, denn das Wasserstoffperoxid kann eure Haut reizen oder bleichen. Auf keinen Fall die Handschuhe vergessen.« Die Dozentin lächelte und sah sich im Raum um. Ihr Blick stoppte bei Frau Allermann. »Ich habe gehört, dass es Fragen zu diesem Experiment gibt?«
»Ja, tatsächlich«, antwortete ihre Sitznachbarin und lächelte in die Runde. »Wie kann man mit Hilfe der Arrhenius-Gleichung die Aktivierungsenergie dieser Reaktion berechnen, wenn man die Reaktionsgeschwindigkeit bei verschiedenen Temperaturen misst?«
»Ähm.« Die Dozentin blinzelte mehrfach. »Nun, um die Aktivierungsenergie dieser Reaktion zu berechnen, müssten wir erst die Reaktionsgeschwindigkeit bei verschiedenen Temperaturen messen. Das ist leider im Rahmen dieser Vorlesung nicht möglich, da wir dafür mehr Zeit und Materialien bräuchten.«
»Verstehe«, erwiderte Frau Allermann und klappte ihr Buch zu. Die Dozentin wandte sich um und nahm eine andere Studierende dran, die eine Frage zu haben schien.
Nach der Stunde zogen Ariane und Frau Allermann ihre Kittel aus und verließen gemeinsam den Raum.
»Spannend«, stellte Frau Allermann mit undurchdringlicher Miene fest.
Ariane grinste und ging neben der älteren Dame zum Ausgang. »Ich fand es tatsächlich interessant. Allerdings habe bisher auch keine explodierenden Vergleichsexperimente gesehen.«
»Das ist vielleicht gar nicht so schlecht.«
Daria kam ihr durch die Halle entgegen. In ihren Haaren klebten ein paar Schneeflocken. Wahrscheinlich war sie bereits auf der Suche nach Ari, um sie für die Matheeinheit abzuholen. Beim Gedanken an Luca machte ihr Herz einen kleinen Purzelbaum. »Was haben Sie denn jetzt noch vor?«, fragte sie Frau Allermann, während sie Daria zuwinkte.
Die ältere Dame schaute von ihr zu Daria und lächelte breit. »Oh, wie schön. Da ist ja auch Daria.«
Ihre Freundin wurde immer langsamer, als sie Frau Allermann entdeckte.
»Hallo, Daria«, begrüßte die ältere Dame ihre Freundin. »Wie schön Sie auch hier zu treffen.«
Daria schluckte sichtbar. »Ja. Und so unerwartet.«
»Sie interessiert sich für die Gasthörerschaft«, erklärte Ariane. »Wir hatten gerade Chemie zusammen.«
Darias Augenbrauen hoben sich. »Weiß Paul, dass sie sich für Chemie interessieren.«
»Nein, nicht wirklich.« Ihr Lächeln war ein wenig furchteinflößend. »Außerdem ist es immer gut, ein paar Geheimnisse für sich zu behalten.«
Beide Frauen nickten.
In diesem Moment kam Luca auf sie zu. Er schien in Gedanken versunken und schaute sich nicht wirklich um. Der Zufall führte ihn direkt zu Ariane.
»Guten Morgen, Dr. Schütz«, schnurrte Ariane und er stoppte abrupt. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Ariane.« Er stutzte. »Daria. Schön euch zu sehen. Kommt ihr nicht in die Vorlesung?«
»Natürlich«, antwortete Ariane. »Als ob wir das Verpassen würden.«
»Oh, schön.« Erst jetzt schien er zu bemerken, dass noch jemand neben ihnen stand. Er musterte Frau Allermann und fuhr sich über das Kinn. »Hallo. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht ignorieren.«
»Ist nicht schlimm, Dr. Schütz. Ich wollte die Beiden auch nicht aufhalten.«
Luca nickte, blickte wieder zu Ariane und dann eilte er weiter.
»Die Universität ist wirklich interessant.« Frau Allermann musterte Ariane. »Ich nehme an, Sie haben jetzt Mathematik?«
»Statistik«, antwortete Ariane mit einem unguten Gefühl.
»Sehr schön.« Frau Allermann griff in ihre Tasche und förderte erneut ihren Notizblock hervor. »Ich mag Mathe. Das scheint auch ein wenig explosiver zu sein als Chemie. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich mich Ihnen anschließe?«
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