5
»Alle großen Leute waren einmal Kinder, aber nur wenige erinnern sich daran.«
Antoine de Saint-Exupéry in: Der kleine Prinz
Hannover 1999
Das Baumhaus sah alt aus. Älter, als es gut für Marks Nerven war. Mit einem mulmigen Gefühl blickte Mark hinauf. Das Häuschen war an einem alten, knorrigen Baum befestigt, dessen Äste sich wie krumme Finger in den Nachthimmel reckten. Es bestand aus Holz, das auch auf die Entfernung verwittert und morsch aussah. Die Bretter waren teilweise abgefallen oder gebrochen, die Fenster fehlten ganz. Eine Strickleiter führte hinauf, die aber ausgefranst und löchrig wirkte. Selbst im Dach befand sich großes Loch. Mark konnte durch das Fenster den Mond sehen. Womöglich war das Haus älter als er selbst. »Ich halte das für keine gute Idee.«
»Halt die Luft an, Mark.« Daria zog an der Strickleiter, bevor sie sich mit ihrem ganzen Gewicht daran hängte.
Griechenland machte die Situation definitiv nicht leichter. »Einmal hochklettern und du hast gewonnen. Oder kneifst du?«
»Es gibt nichts zu gewinnen. Komm schon, Ria. Mach keinen Blödsinn.«
Aber Daria ignorierte seine Bitte genauso, wie sie offensichtlich die Gesetze der Schwerkraft und Materialermüdung nicht anerkannte.
Mark konnte nicht glauben, dass sie wirklich hochklettern würde. Bis sie es tat.
»Du bist irre!«, stöhnte er, mehr zu sich selbst als zu ihr.
Die anderen versammelten sich und sahen dem schwarz gekleideten Mädchen nach, dass sich Stück für Stück die Strickleiter hochzog. Jemand leuchtete mit einer Taschenlampe hinauf. Man konnte sagen was man wollte, aber Daria hatte Kraft.
Oben angelangt stellte sie sich an das Geländer und strahlte herab. Sie wirkte so glücklich und unbeschwert. Vielleicht war die Party ja doch eine gute Idee gewesen?
Ein lautes Knarren ertönte, dann ein Schrei. Das Licht der Lampe zuckte über die leere Stelle hinweg, an der Daria eben noch gestanden hatte. Marks Herz trommelte. Dann sah er zwei Beine zappeln. Ihr Körper steckte in einem Loch. Der Boden des Baumhauses hatte nachgegeben und ihre untere Hälfte verschluckt. Bennet stieß ein nervöses Kichern aus.
Mark sah sich um. Wie die Hasen flohen seine Mitschüler durch den Garten in Richtung Ausgang. Die Taschenlampe lag am Boden und tauchte den Garten in ein schwaches Licht. Nur Kalomria starrte unbeweglich hinauf zu Darias Füßen.
Bennet wollte sich den Fliehenden anschließen, aber Mark Griff nach seinem Arm. »Wo willst du hin?«
»Na, weg hier. Wenn man uns erwischt haben, gibt es garantiert Hausarrest.«
»Spinnst du? Wir müssen ihr helfen!«
Marks Stimme riss Kalomira aus ihrer Starre und sie rannte zurück zum Haus.
Niemand schien sich der Gefahr bewusst zu sein. Daria konnte jederzeit abstürzen. War denn die ganze Welt verrückt geworden? Seine Finger bohrten sich in Bennets Arm. »Du wirst ihr helfen, oder es bereuen.«
Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit seines Mitschülers. »Drohst du mir?«
»Wenn es sein muss.«
Darias Stimme erklang von oben. »Hallo?«
»Beweg dich nicht«, antwortete Mark. »Wir holen dich da runter.«
Doch noch immer rührte sich Bennet nicht. Mark trat einen Schritt näher an ihn heran.
»Was willst du tun? Mich schlagen?« Bennets Worte irritierten ihn.
Das Lachen in seiner Brust ließ sich nicht stoppen, sondern nur dämpfen. Mit viel Glück hörte Daria ihren Streit nicht. »Das habe ich nicht nötig.« Eine Wolke aus Bier und Rauch umfing ihn. Bennets Augen schienen im Schein der Lampe glasig, seine hellbraunen Haare fielen ihm in die Stirn. Hoffentlich war er überhaupt in der Lage, etwas zu tun. »Vergiss eins nicht, Ben. Deine Beliebtheit besteht nur in dem Maße, in dem ich sie dir zubillige.«
Auf Bennets Stirn bildeten sich steile Falten, als er über den Wahrheitsgehalt der Aussage nachdachte.
»Ich glaube hier rutscht etwas«, keuchte Daria plötzlich. »Mark, bist du noch da?«
Entweder hatte seine Drohung gewirkt oder Bennet sein Mitgefühl wieder gefunden. Mit verschränkten Armen und einem unwilligen Nicken willigte er ein. »Was soll ich tun?«
Eine gute Frage. »Ich klettere zu ihr hoch. Versuche du, eine Leiter oder so zu finden.«
Bennet legte seinen Kopf in den Nacken. »Das sieht ziemlich kaputt aus. Bist du dir sicher?«
»Natürlich nicht. Jetzt mach schon.«
Mit einem Schnauben ließ Bennet ihn alleine. Daria hing ganz still zwischen den Holzlatten und gab keinen Mucks von sich. Es war völlig ruhig im Garten, nur ein paar Grillen zirpten.
Zunächst stellte Mark die Taschenlampe auf, lehnte sie gegen einen Stein, damit er möglichst viel Licht hatte. Seine Hände waren schweißnass und er wischte sie an seiner Hose ab. »Ich komme jetzt hoch zu dir.«
»Was?«
»Ich komme jetzt ...«
»Das habe ich verstanden. Aber warum machst du so etwas Dämliches? Ich dachte, ihr holt mich runter?«
Es brachte nicht viel, mit den Zähnen zu knirschen. Langsam kletterte Mark die Strickleiter hoch. »Ich werde versuchen, dich zu halten, bis die Leiter kommt.«
»Oh.«
Schließlich zog sich Mark durch das Loch hinauf. Darias Kopf lag im Schatten der Baumkrone. Vorsichtig verhakte er einen Fuß mit der Strickleiter. Nicht, dass er sein Glück darauf setzen wollte, aber es war besser als nichts. »Wie geht es dir?«
Daria stieß ein Schnauben aus, das in unkontrollierte Glucksgeräusche überging. Weinte sie? Irgendetwas stimmte nicht. »Lachst du?«
Ein Hicksen unterbrach den unterdrückten Strom. »Wie auch immer das hier ausgeht - wir sollten Paul auf keinen Fall davon erzählen.«
»Guter Plan.« Seine tastende Hand fand ihre und er zog vorsichtig an ihren Armen.
»Au!«
»Du steckst fest.«
»Ach wirklich?« Ihre gedehnte Stimme triefte vor Sarkasmus. »Erzähl mir mehr.«
Mark beschränkte sich darauf, sie einfach festzuhalten. Für den Moment waren sie sicher. Wahrscheinlich. »Mensch Ria, wie konntest du nur so blöd sein?«
»Sie hat mich provoziert.«
»Denk doch mal nach. Im Moment provoziert dich alles und jeder.«
Ihre Antwort bestand aus einem Schnalzen. Ganz ehrlich, wer konnte es ihr übelnehmen? Mark bestimmt nicht.
»Willst du mir jetzt eine Standpauke halten und mich daran erinnern, wie toll das Leben ist?«
Mark robbte ein Stück näher, so dass er sein Gewicht besser auf den Holzbalken verteilen konnte. »Im Leben nicht. Das ist Pauls Aufgabe.« Eigentlich sollten es ihre Eltern tun, aber soviel Glück hatte Daria nunmal nicht.
»Kannst du mich nicht hier rausziehen?«
»Nach oben hängst du fest und nach unten kann ich dich mit der Strickleiter nicht halten. Ben holt eine Leiter, das könnte gehen.«
Ein Ast knarrte und bewegte sich. Mondlicht wanderte über sie und zeichnete die Konturen weicher. Darias Gesichtsausdruck hatte etwas Prüfendes an sich. »Es tut mir leid, dass Griechenland dich erwischt hat.«
»Was meinst du?«
»Na der Kuss.«
Obwohl es nur eine Art von Entschuldigung war, fühlte es sich falsch an, mit Daria darüber zu sprechen. Mark zuckte mit den Schultern. »Naja, es war ja nur ein Kuss.«
Für einen Moment schwieg sie. »Du gehst ziemlich freigiebig damit um.«
»Womit?«
»Na, Küssen.«
»Neidisch?« Wenn sie nur etwas weniger kratzbürstig wäre, würde sich bestimmt jemand finden, der sie küssen würde. Natürlich nur, solange Paul nicht in der Nähe war. Irgendetwas an dem Bild störte ihn. Fing er etwa auch schon an, sie als kleine Schwester zu sehen?
»Pff, Blödsinn. Ich mache mir nur Sorgen.«
In der Dunkelheit war es schwierig, ihre Stimmung abzuschätzen. War sie wirklich besorgt oder war etwas anderes im Busch. Mark legte den Kopf schief, aber das half ihm auch nicht. »Ich glaube nicht, dass Griechenland eine ernstzunehmende Gefahr für mich darstellt. Du etwa?«
»Nein, wohl kaum. Aber ...«
Wo blieb nur Bennet? Ob er einfach so abgehauen war? »Aber was ...?«
»Ich will nur nicht, dass man den Bruder meines besten Freundes für eine Schlampe hält. Was sollen denn die Leute von mir denken?«
Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Solche Worte aus ihrem Mund waren dermaßen unwahrscheinlich, dass es einen Moment dauerte, bis er sie verdaut hatte. »Sehr witzig.«
Daria kicherte. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
Ein kleines Tier huschte den Baum hinunter. Ihr Lachen hatte die Stimmung verändert. Auch wenn immer noch das Risiko des Absturzes über ihnen schwebte, war er entspannt, beinahe gelöst. »Natürlich. Du kannst mir alles anvertrauen, das weißt du, oder?«
»Komm näher.«
Soweit er es dem morschen Holz zutraute, rutschte er näher.
Ihre Stimme war leise und verschaffte ihm eine Gänsehaut. »Wenn ich jetzt mal ganz, ganz ehrlich bin ...«
»Ja?« Sein Herz machte einen Satz.
»Ich glaube Ouzo ist das fürchterlichste Gesöff, was ich jemals getrunken habe. Das war so eklig. Wenn ich jemals zwischen zwei unangenehmen Möglichkeiten stehe, werde ich mich definitiv gegen Ouzo entscheiden. Da würde ich jederzeit zweimal hier hochklettern.«
Soviel zu unrealistischen Hoffnungen. Mark tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. »Ich verspreche, dass ich mein Bestes tun werde, um dich davor zu bewahren.«
Sie legte ihren Kopf auf die Schulter und das Holz knarrte. »Weißt du, was komisch ist?«
»Was?«
»Ich hatte keine Angst. Als ich durch das Loch gerutscht bin.«
Dieses Mal nahm sich Mark Zeit für eine Antwort. »Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht.« Sie zögerte. »Jedenfalls nicht genau. Manchmal fühlt es sich so an, als ob Torben noch da ist. Und auf mich aufpasst.«
Ein schöner Gedanke. Bevor Mark etwas dazu sagen konnte, hörte er Stimmen von unten. »Ben?«
»Ja, Mann. Wir holen euch jetzt.«
Neben ihm tauchte die Spitze einer Leiter auf und die Sprossen knarrten, als jemand hinauf stieg. Schließlich tauchte ein brauner Lockenkopf auf, der zu einem jungen Mann gehörte, den Mark nicht kannte. »Das Baumhaus ist uralt. Hier sollte niemand sein.«
»Das wissen sie, Luca. Jetzt hol sie runter.« Kalomira war ebenfalls zurückgekehrt.
Der Fremde legte ein paar Werkzeuge neben sich und begann damit, Daria aus ihrer Falle zu lösen. »War das die Idee meiner Schwester?«
»Stiefschwester!«, korrigierte ihn Griechenland.
Daria zog es vor zu schweigen und Mark konzentrierte sich auf ein unbestimmtes Schulterzucken. Seine eigenen Geschwister reichten ihm, da musste er sich nicht noch in die Streitigkeiten anderer Familien einmischen.
»Ich heiße Luca.«
»Das interessiert sie nicht, Luca«, tönte es von unten.
Der schüttelte mit einer beneidenswerten Ruhe den Kopf und lockerte die Bretter.
Nach kurzer Zeit hatte Griechenlands Stiefbruder Daria befreit und nacheinander kletterten sie die Leiter hinab.
Bennet wartete nur solange ab, bis Darias Füße den Boden berührten, dann schlenderte er durch den Garten davon.
»Bist du verletzt?«, fragte Kalomira.
»Nein.« Darias Antwort klang überraschend friedlich.
»Soll ich jemanden anrufen, der euch abholt?«, mischte sich Luca ein.
Seine schlichte Frage schien Griechenland zu ärgern. »Ochi, Luca. Geh einfach wieder rein und kümmere dich um deinen Kram.«
»Dir ist schon klar, dass du Glück hattest, dass Dante nicht hier war? Der würde bestimmt weniger Nachsehen mit deinen Spinnereien haben.«
Kalomira reckte ihre Nase in die Höhe und rauschte ohne Abschied zurück zum Haus.
Ihr Stiefbruder schüttelte nur den Kopf. »Es tut mir leid. Mira kommt nicht wirklich gut mit der Situation zurecht.«
Im Licht der Taschenlampe wirkte Darias Gesicht noch blasser als üblich. Auf ihren Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet, aber abgesehen von einigen Kratzern entdeckte Mark keine Verletzungen. Es wurde Zeit, sie nach Hause zu bringen. Mark hob ihre Tasche und die Jacke auf, die sie vorab dort abgelegt hatte. »Danke jedenfalls.«
Luca fuhr sich mit der Hand durch die Locken und hob die Taschenlampe auf. Ihr Licht wies ihnen den Weg zur Gartentür. Mark verabschiedete sich und folgte dem Schein. Die Luft war frisch und duftete nach Blumen und Kräutern. Überall leuchteten Rosen, Lavendel, Sonnenblumen und andere Pflanzen im Mondlicht. Die Farben waren sanft und geheimnisvoll, die Formen waren kunstvoll geschnitten oder natürlich gewachsen. Auf dem Weg legte Daria ihre Jacke über die Schultern. Der Garten war in verschiedene Bereiche unterteilt, die durch Wege verbunden waren. Sie zitterte ein wenig, aber vielleicht war es auch nur Adrenalin. Nebeneinander gingen sie die Straße entlang. Daria griff in ihre Innentasche und förderte zwei Lakritzschlangen zu Tage. Eine reichte sie Mark. »Wir müssen wirklich nicht darüber reden. Mit niemandem«, stellte sie klar.
Die Lakritze vertrieb den Geschmack der Aufregung, die er noch immer im Mund trug. Also teilten sie jetzt Geheimnisse. Was blieb ihm auch anderes übrig?
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