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Einige Bücher lassen uns frei und einige Bücher machen uns frei.
Ralph Waldo Emerson, in: Essays: Second Series
Ariane zog ihren Anorak höher, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Ob es heute wohl schon schneien würde? Sie würde sich mit den Weihnachtseinkäufen beeilen müssen. Mit etwas Glück würde sich alles ausgehen.
Als sie einen Zebrastreifen überquerte, bemerkte sie auf der anderen Seite einen Mann, der ihren Weg kreuzte. Ariane kniff ihre Augen zusammen. Wenn sie jetzt schon anfing, in jedem Mann, der ihr begegnete Luca zu sehen, dann lief irgendetwas bei ihr ganz gewaltig schief.
Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte. Der Mann trug einen halblangen Mantel und eine Mütze. Nichts an ihm deutete auf einen heißen Mathematikprofessor hin, dennoch war ihr Bauchgefühl sich sicher. Ein wohliger Schauer fuhr durch ihre Glieder, der so gar nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
»Sei es drum«, murmelte Ariane und folgte ihm.
Der Mann eilte die Straße entlang, bis er eine kleine Buchhandlung erreichte. Dort schlüpfte er hinein. Nun, falls er sich als Produkt ihrer Fantasie herausstellte, konnte sie für ihren Vater ja immer noch ein gutes Buch besorgen. Sie zuckte mit den Schultern und trat auf das Schaufenster der Buchhandlung zu. Im oberen Bereich der Scheibe prangte in großen Lettern das Wort BUCHGEFLÜSTER, darunter waren verschiedenste Werke ausgestellt.
Ariane betrat das Geschäft und ein kleines altmodisches Glöckchen über der Tür bimmelte. Hinter einem Tresen stand eine ältere Frau, die gerade selbst in einem Buch las. Von dem Mann war nichts zu sehen.
»Herzlich willkommen«, begrüßte sie die Dame freundlich. »Hier unten finden Sie Sachbücher und Ratgeber. Falls Sie eher an Belletristik interessiert sind, folgen Sie bitte der Treppe ins Obergeschoss.«
Erst jetzt bemerkte Ariane eine Wendeltreppe aus schmiedeeisernem Metall, die sich hinter einem der Regale verbarg. Sie nickte der Frau zu und ging auf die Treppe zu. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dort oben ihren Mann finden würde. Oder zumindest den Mann, den sie für Luca hielt.
Vorsichtig stieg sie die knarrenden Stufen hinauf und gelangte in eine andere Welt. Das Obergeschoss war viel größer als das Erdgeschoss, aber auch viel verwinkelter. Überall standen Regale, die bis zur Decke reichten und mit Büchern aller Genres gefüllt waren. Zwischen den Regalen gab es abgetrennte Bereiche, in denen gemütliche Sessel und vereinzelt auch Sofas standen. An den Wänden hingen Bilder von berühmten Autoren und Zitate aus ihren Werken.
Arianes Herzschlag schlug schneller. Diese Buchhandlung war wie ein Paradies für Bücherliebhaber. Sie schlenderte durch die Gänge und schaute sich um. Es roch nach Papier, Leder und Kaffee. Sie bog um eine Ecke und entdeckte eine Lesenische, die mit einem roten Vorhang abgetrennt war. Vorsichtig späte sie durch eine Lücke und sah ihn.
Luca.
Auf einem der Sessel lagen der Mantel und die Mütze. Seine dunklen Locken fielen ihm in die Stirn. Neben ihm türmte sich ein kleiner Stapel. Die bunten Cover deuteten auf Fantasyromane hin. Ariane schob sich durch den Vorhang. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf, aber als er ansah, weiteten sich seine Augen.
»Ariane?«, fragte er ungläubig.
Lächelnd trat sie näher an ihn heran. »Hallo, Luca. Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.«
»Ja, das ist wirklich ein Zufall.«
Luca schlug die Beine übereinander, als ob er sich selbst davon abhalten würde, einfach zu flüchten. Seit Wochen hatte sich keine Möglichkeit mehr geboten, um sich privat zu sehen. Natürlich konnte sie sich nicht sicher sein, aber sie vermutete, dass er sogar seine Laufstrecke geändert hatte. Traute er ihr nicht? Oder sich?
Aber jetzt saß er eindeutig in der Falle. Ihr Blick musterte den den Stapel neben ihm. »Du liest gerne Fantasy? Das hätte ich nicht von dir erwartet.«
Luca beugte sich vor und wog eines der Bücher in seiner Hand. »Es ist nur ein Hobby. Aber ich mag es, in andere Welten abzutauchen. Alles gehorcht einer speziellen Logik, die hier bei uns nicht gilt.«
»Ich verstehe«, erklärte Ariane und griff nach dem obersten Buch im Stapel.
»Das da klang interessant.« Luca schlug das Buch auf und blätterte zu einer Karte. »Schau, es ist eine ganz neue Welt gebaut worden.«
»Der Ruf des Sehers«, las Ariane vor. »Aus der Göttermeer-Reihe.«
Sein Grinsen war jungenhaft. Ariane würde jede Wette eingehen, dass er bereits seit seiner Kindheit Bücher verschlang. Ihr Blick fuhr über die größtenteils schwarzen Buchrücken, die in den Regalen um sie herum standen. »Aber von hier hast du die Bücher nicht.«
»Nein, die Fantasy Abteilung ist neben der Treppe. Da kann man aber nicht so gut sitzen.«
Neugierig geworden zog Ariane eines der schwarzen Bücher heraus. Darauf abgebildet war die nackte Rückansicht einer Frau, deren Hände mit einer großen samtenen Schleife zusammengebunden waren. »Oh«, stieß Ariane hervor. »Das war jetzt unerwartet.«
Luca legte den Kopf schief, um das Cover besser sehen zu können. Als er verstand, worauf er da starrte, hoben sich seine Augenbrauen. »Also das ist jetzt schon eher außerhalb meiner Komfortzone.«
Mit einem breiten Grinsen griff Ari nach einem weiteren der schwarzen Werke. »Ich bin ein großer Fan davon, regelmäßig seinen Horizont zu erweitern.«
Sein Blick glitt über sie und Ari spürte, wie seine Gedanken rotierten. Ob er sich auch gerade vorstellte, was man mit so einer Schleife alles anstellen konnte?
Sie räusperte sich. »Also, hier haben wir einen Millionär, der sich auf ein Abenteuer mit einer Bikerin einlässt.«
»Sind Millionäre überhaupt noch angesagt?«, fragte Luca nach. »Ich dachte, es gibt gar nicht so viele.«
Ein weiteres Buch folgte aus dem Regal. Auch wenn der Rücken wieder schwarz war, ging dieses jetzt in ein weißes Cover über, dass den Torso eine Frau in einer nachtblauen Corsage zeigte. »Hier hätten wir was mit Fantasien einer Domina?«
»Gewalt ist nicht so meins, ehrlich gesagt.«
»Verstehe.« Ariane leckte sich über die trockenen Lippen. Auch wenn vor dem Buchladen der Winter bereits angeklopft hatte, war ihre kleine Nische mollig warm. Dieses Mal stellte sie die beiden Bücher zurück und zog wahllos gleich mehrere in ihren Schoß. »Wir finden schon etwas, dass deine Lücke beseitigen kann.«
»Eigentlich wusste ich bisher gar nicht, dass dazu ein Anlass besteht.«
Mit einem spitzbübischen Grinsen ignorierte sie seinen Einwand. Sie hob ein Cover mit einer angebissenen Kirsche hoch. »Eine Bibliothekarin und ein Autor?«
»Da habe ich gar keine Bezüge zu.« Ein Grübchen zeigte sich in seinem Mundwinkel. Er sah zum Anbeißen aus.
Ein weiteres Cover zeigte das Gesicht eines Mannes mit Hörnern. »Vielleicht das hier? Das hat offenbar einen Fantasy Bezug.«
»Da kommt es auf das Subgenre an. Ich lese High Fantasy, das scheint eher in Richtung Urban Fantasy zu gehen.« Luca sank in seinen Sitz zurück und streckte die Beine aus. Das Gespräch schien ihm auch zu gefallen.
Ariane zeigte ihm das Bild einer Frau in einer Haremshose. Außerhalb ihrer Nische war das Stapfen von schweren Stiefeln zu hören, als jemand die Wendeltreppe passierte. Ariane dämpfte ihre Stimme auf ein Flüstern. »Was ist mit Scheichen?« Sie überflog den Klappentext. »Oh, interessant. Hier teilen sich drei Scheichs eine Frau.«
Entschieden schüttelte Luca den Kopf. »Da muss ich dich enttäuschen, ich teile nicht.«
Wieder schob Ariane die ausgeschiedenen Bücher ins Regal. Ein letztes hatte sie noch. Es zeigte einen Mann, der einen Zweiteiler trug. »Das hier sieht doch nett aus.«
»Etwas gediegen. Aber ich will nicht vorschnell urteilen«, beschied Luca.
Das Glück war mit ihr und sie musste ihr Lachen zurückhalten, als sie die Inhaltsangabe überflog. »Oh, ein Professor, der seine Studentin verführen möchte.«
Mit einem Satz richtete sich Luca auf. Er schluckte. »Ich nehme es sehr genau mit Unstimmigkeiten. Ich glaube ...«
»Nanana«, unterbrach ihn Ariane. »Keine Vorverurteilungen haben wir gesagt.«
Seine Augen bohrten sich in ihre und jetzt war es an Ariane, sich gemütlich in ihren Sessel zurücksinken zu lassen. »Ich denke, wir schauen uns mal eine Szene in der Mitte an.«
Es war wohl als gutes Zeichen zu werten, dass er sitzen blieb. Sie spürte seine Aufmerksamkeit mit jeder Faser ihres Körpers. Es prickelte an sogar an Stellen, die ihr bis eben noch gar nicht bewusst gewesen waren.
»"Aber nein", hauchte ich. Mit einem Satz saß er neben mir und griff nach meinem Nacken. "Es tut mir leid, Aileen. Aber ich muss dich haben." Seine Berührung sandten heiße Wellen über meinen Rücken, und ich spürte ein Kribbeln, das bis in meine Beine lief.« Zufrieden schnalzte ich mit der Zunge. »Da habe ich offenbar genau den richtigen Moment abgepasst.«
Lucas Körper war angespannt. Mit großen Augen hing er an meinen Lippen. »Du bist mehr als gefährlich.«
Statt ihm zu antworten las ich weiter. »"Aber Sie wollten mir doch nur zeigen, wie diese Rechnung..."« Überrascht brach Ariane ab und kontrollierte den Klappentext. »Gibts ja nicht, der ist Mathelehrer. Wie passend!«
»Ariane.« Lucas Tonfall hatte eine dunkle Färbung bekommen.
»Moment noch«, murmelte Ariane, ohne ihren Kopf zu heben. »Wo war ich? Ach ja: Seine Hand glitt unter mein kurzes Oberteil und strich an der Unterseite meiner Brüste entlang.«
»Ariane!« Sein leises Zischen war mehr als unterhaltsam. Wie weit er wohl gehen würde, um sie zum Schweigen zu bringen? Auf der anderen Seite des Vorhangs ging jemand vorbei, ohne jedoch ihre kleine private Blase zu stören.
Ariane zuckte nur mit den Schultern. »Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Meine Beine gaben nach und ich rutschte auf seinen Schoss. Schon spürte ich die ...«
»Ari.« Seine Hände berührten ihre, als er sich reckte und das Buch einfach zuklappte. »Du musst aufhören. Wirklich.«
»Muskeln«, hauchte Ariane. »Ich wollte Muskeln sagen.«
Ihre Augen fochten einen regelrechten Kampf aus. Auf Lucas Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Ob er gegen sie kämpfte oder sich selbst konnte Ariane nicht sagen. »Noch vierundfünfzig Tage«, seufzte er.
»Du bist wirklich eine harte Nuss.« Langsam stand Ari auf. Mit einem Finger strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Bist du denn das Warten wert?«
Luca legte das Buch aus seiner Hand, das er bis eben eher gewürgt als umklammert hatte. Seine Hände umfassten ihren Kiefer und hielten ihr Gesicht an Ort und Stelle. Dann senkte sich sein Kopf zu ihr, aber anstatt sie zu küssen, streiften seine Lippen ihre Schläfe. Ari sog scharf die Luft ein. »Das werden wir wohl herausfinden«, erklärte er feierlich.
»Verdammt«, fluchte sie.
»Wem sagst du das.« Mit einem halben Lächeln beugte sich Luca zu seinem Stapel und nahm die obersten beiden Bücher in die eine Hand. Die restlichen klemmte er sich unter den Arm.
»Du gehst?«
»Ja.« Sein Blick saugte sich in ihrem fest. »Ich kann mich nicht mehr gut konzentrieren. Aber die beiden hier nehme ich mit.«
»Gut.« Sie winkte mit dem Buch, dass sie noch hielt. »Ich nehme das. Vielleicht kann ich von Aileen noch was lernen.«
»Du bist unverbesserlich.«
Ari nickte bestätigend und wandte sich ab. Ihre Jacke legte sie sich über den Arm, dann verließ sie die Nische und kletterte die Wendeltreppe hinab. Luca folgte ihr.
An der Kasse bezahlten sie nacheinander ihre Bücher. Die Kassiererin nickte zufrieden und packte die Käufe in zwei braune Papiertüten. »Viel Spaß beim Lesen«, sagte sie zum Abschied. »Wenn Sie Nachschub brauchen, vergessen Sie nicht: Das Buchgeflüster ist immer für Sie da.«
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