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Wenn du das Glück finden willst, suche nicht in der Ferne; es liegt direkt vor dir, in jedem Moment.

Leo Tolstoi, in: Krieg und Frieden

Als sich Daria auf den Weg zum Gehege machte, tauchte die Herbstsonne den Garten in warmes Licht. Der kalte Hauch der kommenden Wintermonate lag bereits in der Luft, und es wurde Zeit, Kasper auf seine Winterruhe vorzubereiten. Die Blätter raschelten unter ihren Schuhen, während sie sich dem Gehege näherte.
Kasper war bereits wach und streckte seinen Kopf neugierig aus dem Versteck. Seine kleinen, glänzenden Augen beobachteten sie. Daria lächelte ihm zu. »Hey, Kasper. Es ist Zeit für deine Winterruhe, alter Freund.«

Mit ruhigen Bewegungen öffnete sie das Gehege und kniete sich neben die kleine Schildkröte. Kaspers Schuppen fühlten sich rau an, als sie ihn behutsam aufhob. Sein Gewicht in ihren Händen war vertraut, und sie spürte eine tiefe Verbindung zu dem kleinen Geschöpf. Er war leichter geworden in den letzten Wochen, sein Körper bereitete sich auf die Ruhephase vor.

Die vorbereitete Kiste stand bereit, gefüllt mit weichem Torf, duftendem Laub und wärmendem Heu. Vorsichtig legte Daria Kasper in die Kiste. Ein leises Schnauben erklang, als er sich auf den vorbereiteten Untergrund legte, als wüsste er bereits, was bevorstand. Die Gedanken an Kaspers bevorstehenden Winterschlaf machten Daria melancholisch. Abschiede, auch wenn sie nur für kurze Zeit waren, gefielen ihr einfach nicht. Die Luft wurde merklich kühler, als sich Daria mit der Kiste in den Händen auf den Weg in den Keller machte. Dort würde Kasper die nötige Dunkelheit und Kühle finden, die er für seine Winterruhe brauchte. Sanft stellte Daria die Kiste zwischen Marks Habseligkeiten ab. Bevor sie ging, strich sie noch sanft über die Oberfläche. »Bis zum Frühjahr, Kleiner. Schlaf schön.«

Das Gehege war wirklich eine nette Geste von Mark gewesen. Mehr als nett, wenn sie ehrlich war. Daria betrat die Küche und streckte sich. Heute feierte er seinen Geburtstag im Kreis der Familie. Zwar hatte Mark sie eingeladen, aber Daria hatte abgelehnt, da ihre Anwesenheit nicht falsch verstanden werden sollte. Ihre Beziehung zu Mark hatte sich verändert. Sie waren irgendwo zwischen Feindschaft und Neutralität angelangt, in einer Art fragilem Frieden. Frustriert biss sich Daria auf die Unterlippe. Einerseits war es schön, die alte Vertrautheit wieder zu fühlen, andererseits hasste sie die damit einhergehende Verletzlichkeit. Dennoch spürte sie eine tiefe Dankbarkeit für Marks Einsatz, sowohl beim Umzug als auch für den Bau des Geheges. Vielleicht sollte sie ihm etwas Kleines schenken. Etwas Unverbindliches, das ihre Wertschätzung zeigte, ohne aufdringlich zu sein. Kurz dachte sie an Frau Allermanns Raderkuchen, die Mark bestimmt lieben würde. Irgendwann einmal musste sie Lisas Oma nach dem Rezept fragen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Experimente.

Wobei die Zeit natürlich schon eine Rolle spielte. Nachdenklich zückte sie ihr Handy und schrieb Mark eine Nachricht.

Happy Birthday. Wann wirst du heimkommen?

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Wieso? Vermisst du mich schon?

Träum weiter. Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Ich bin beschäftigt.

Sein schneller Konter überraschte sie nicht. Oh, das klingt interessant. Soll ich kommen und dir helfen?

Daria band sich die Haare zusammen und verteilte die Zutaten auf der Arbeitsplatte. Keine Sorge, ich komme alleine klar. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Wann kommst du heim?

Kommt darauf an. Muss ich mir Sorgen machen?

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Je nachdem wie lange du für eine Antwort noch brauchen wirst.

Einige Minuten vergingen, bevor sein nächster Text erschien. Das klingt nach einer Drohung. Vergiss nicht, ich bin ein sensibler Mensch. Wie stehen denn meine Chancen, dass mir gefallen würde, was du so vorhast?

Der Mixer verrührte die Zutaten alleine und Daria griff erneut nach ihrem Handy. Oh, da bin ich mir sicher. Aber du wirst dich noch gedulden müssen.

Sie biss sich auf die Lippe, um ein Lachen zu unterdrücken. Dieses Spiel war wirklich unterhaltsam. Während sie den Mixer alleine arbeiten ließ, las sie die nächste Nachricht von Mark. Geduld ist nicht meine Stärke. Kannst du mir nicht einen Hinweis geben?

Wir werden sehen. Vielleicht, wenn du artig fragst.

Ich kann sehr überzeugend sein, Ria. Mit einem Holzlöffel beförderte Daria den Teig in eine kleine Backform. Hoffentlich ist dir klar, dass du jetzt eine gewisse Erwartungshaltung aufgebaut hast.

Oh, ich bin mir sicher, du könntest sehr überzeugend sein. Aber ich lasse mich nicht so leicht um den Finger wickeln. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Augen und Daria pustete sie zurück, um keine unliebsamen Teigspuren zu hinterlassen. Und was deine Erwartungen betrifft, das ist dein Problem, nicht meins.

Der Ofen war warm, als Daria den Kuchen hineinschob, und sie nutzte die Zeit, um wieder auf ihr Handy zu schauen. Oh, das ist hart, Ria. Du weißt genau, neugierig ich bin.

Ein Grinsen stahl sich auf ihre Lippen, als sie die nächste Nachricht tippte. Wie gesagt. Dein Problem.

Während der Kuchen im Ofen langsam vor sich hinbackte, fühlte Daria ein leichtes Prickeln der Vorfreude. Gleichzeitig war da auch eine gewisse Vorsicht. Sie hatte nicht vor, die Kontrolle so leicht aus der Hand zu geben. Ihr Handy vibrierte erneut, und eine Nachricht erschien auf dem Display. Du wirst es mir nicht leicht machen, oder?

Daria setzte sich an den Küchentisch und lehnte sich zurück. Ein Grinsen zierte ihr Gesicht, als sie die Worte tippte. Wo wäre der Spaß, wenn es einfach wäre?

Mark antwortete fast sofort. Weiß eigentlich der Rest der Famile, wie grausam du sein kannst?

Nein, dieser Teil ist für dich reserviert. Sie schmunzelte und blickte auf das Display. Aber jetzt mal im Ernst, wann bist du heute zu Hause?

Die Antwort brauchte diesmal etwas länger, als würde Mark seine Worte mit Bedacht wählen. Schließlich erschien seine Nachricht. Wann hättest du mich gerne?

Daria blickte kurz auf den Kuchen im Ofen. Sein Duft begann sich bereits im Raum auszubreiten. Jederzeit. Sobald du dich von der Familie trennen kannst, natürlich.

Wie es der Zufall will, sind wir gerade fertig geworden. Kannst du mir wenigstens einen winzigen Hinweis geben? Nach und nach füllte Daria den Geschirrspüler auf und wischte die Tischoberfläche ab. Ob Mark bei diesem Zufall nachgeholfen hatte?

Als sie fertig war, zog Daria spielerisch eine Augenbraue hoch, obwohl Mark das natürlich nicht sehen konnte. Ein kleiner Hinweis, hm?

Die Konversation zwischen ihnen wurde von einem sanften Piepen unterbrochen - der Kuchen war fertig. Daria stand auf, öffnete den Ofen und griff nach den Topflappen. Gleichzeitig konnte sie nicht umhin, über Marks Worte nachzudenken. Mark konnte so charmant sein, wie er wollte, sie würde nicht auf ihn hereinfallen. Aber ein bischen Flirten würde sie doch wohl kaum in Gefahr bringen. Oder?

Bitte, hab ein Herz. Immerhin habe ich doch Geburtstag.

Stimmt natürlich. Daria tippte sich an die Unterlippe. Sollte sie ihm schreiben, dass er seinen Mund für die Überraschung brauche würde oder wäre damit eine Grenze überschritten?

Bevor sie sich zu einer Erwiderung durchringen konnte, hörte sie wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde. Schritte tapsten durch den Flur und Mark spähte hinein. »Das riecht himmlisch.«

Daria senkte den Kopf und neigte ihn leicht zur Seite. »Danke«, murmelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der ist für dich. Alles Gute.«

Mit hochgezogenen Brauen setzte sich Mark neben sie und musterte den Kuchen. »Ist er vergiftet?«

»Nein!«

»Vielleicht unabsichtlich?«

Daria starrte ihn an. »Hör zu, du musst ihn nicht essen. Ich fand es nur angemessen, so als Mitbewohner.« Sie griff nach dem Kuchen, aber Mark war schneller.

»Keine Chance, Ria. Was mein ist, ist mein.« Er lehnte sich zurück und angelte nach einer Kuchengabel.

»Warte, er könnte noch heiß sein.«

Sein Augen funkelten. »Heiß war nie mein Problem.«

Die Worte brachten Daria zum Lachen. »Du bist unmöglich.«

Statt zu antworten schob sich Mark ein Stückchen in den Mund. »Aber du magst mich trotzdem, nicht wahr?«

Zu Darias Überraschung konnte sie ihm keine schlagfertige Erwiderung geben. Sie beschränkte sich auf ein hoheitsvolles Nicken und zog sich in ihr Zimmer zurück. Es gab einiges, über das sie nachdenken musste.

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