39

Die Logik ist das Reich des Scheins.

Friedrich Nietzsche, in: Nachgelassene Fragmente

»Wie war der Umzug?« Ariane schob Daria die Stufen hinab zu einer der vorderen Reihen.

»Anders als erwartet«, antwortete ihre Freundin. Mit hochgezogenen Augenbrauen wanderte ihr Blick über die Reihen. »Was genau machen wir hier unten?«

Ariane grinste. »Mitarbeiten, Daria.«

»Und das können wir nicht von unseren normalen Plätzen?«

Mit einem Lächeln drückte sie Daria auf einen Stuhl in der zweiten Reihe. »Nope.«

»Aha.« Daria setzte sich und packte ihre Unterlagen aus. »Nur aus Interesse. Warum nicht die erste Reihe?«

Ihre Stimme senkte sich. »Ich möchte nicht aufdringlich wirken.«

»Verstehe«, kicherte Daria. Sie wirkte wesentlich gelöster als in den letzten Tagen.

Immer mehr Studierende betraten den Raum und nahmen ihre Plätze ein. Es waren weit weniger als in der ersten Woche. Der durchaus anspruchsvolle Stoff hatte einige verjagt, daher gab es endlich genug Sitzplätze für alle.

Der Stuhl auf Darias abgewandter Seite blieb frei und auch Ariane begann damit, ihren Notizblock auszupacken.

Schließlich öffnete trat Luca auf die Bühne. Seine Augen wanderten sofort nach oben und er schien die Gesichter der Anwesenden zu studieren. Ihre Mundwinkel hoben sich. Suchte er nach ihr?

Eine Falte zeigte sich zwischen seinen Brauen. »Guten Morgen! Im Hinblick auf die Klausur werden wir uns heute mit der Bernoullische Ungleichung beschäftigen. Wer kann mir dazu etwas sagen?«

Einige Hände hoben sich. Ariane fixierte Luca. Als sein Blick in ihre Nähe wanderte, meldete auch sie sich.

Luca schluckte sichtbar, dann nickte er ihr zu.

»Mit der Bernoullischen Ungleichungen können Potenzen bewiesen werden, ohne dass dazu der Logarithmus benötigt wird.« Sie lehnte sich zurück und musterte ihn ausgiebig.

»Sehr gut.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, griff er nach einem Laserpointer.

Ariane lächelte breit.

»Wie die Kommilitonin erklärt hat, können wir mit der Bernoullischen Ungleichungen Potenzen beweisen. Ich werde Ihnen nun zeigen, wie Sie mittels einer vollständigen Induktion beweisen können, dass für alle n ∈ N gilt.« Luca wandte ihnen den Rücken zu. An der Wand öffnete sich eine Folie und der Professor deutete mit dem Laserpointer auf die erste Reihe.

»Ich bin beeindruckt«, flüsterte Daria ihr zu.

»Von mir oder ihm?«

»Ein bisschen von beidem. Eure Zurückhaltung ist der Wahnsinn.«

Ariane studierte seine Rückansicht. Sein Hintern zeichnete sich sehr gut ab und bescherte ihr ein flaues Gefühl im Bauch. Gut, dass sie die Inhalte schon vorgearbeitet hatte, denn ihre Konzentration war dahin.

»Wie ist denn bei euch Stand der Dinge?«, fragte Daria weiter.

»Wir haben festgestellt, dass wir aufeinander stehen. Aber der Kurs steht zwischen uns.«

»Schlecht.«

»Aber nur noch bis Ende des Semesters. Eigentlich auch nur bis zur Klausur. Danach ist alles offen.«

»Und bis dahin?«

»Bis dahin müssen wir uns beherrschen.«

»Das klingt hart.«

»Das ist es auch.«

Ariane spürte, wie Lucas Blick auf ihr ruhte. »Ich sehe, Sie haben noch Fragen, Frau Kollegin.«

»Also, ich«, begann Ariane, aber er unterbrach sie, indem er die Hand hob.

»Können Sie mir bitte die erste Zeile vorlesen?«

Ariane räusperte sich und las die mathematische Formel laut vor. Leider war ihr Gehirn zu sehr von seinem Lächeln abgelenkt, um irgendetwas zu verstehen. Aber sie tat ihr Bestes, um nicht zu stottern.

»Danke. Und was bedeutet das?«

Ariane zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung?« Hinter ihr ertönte vereinzeltes Lachen. Offenbar war sie nicht die Einzige, die nicht mitgekommen war.

Sein Blick verfing sich in ihrem. »Das bedeutet, dass wir die Aussage für n = 1 beweisen müssen. Das ist der sogenannte Induktionsanfang.«

Er erklärte weiter, wie man die Ungleichung für n = 1 umformen und vereinfachen konnte, bis man eine wahre Aussage erhielt.

»Haben Sie das verstanden?«

Ariane nickte. »Ja, glaube schon.«

»Gut. Dann können wir zum nächsten Schritt übergehen. Das ist der Induktionsschritt. Hier müssen wir die Aussage für n + 1 beweisen, unter der Annahme, dass sie für n gilt. Das nennt man auch die Induktionsvoraussetzung.«

Luca schrieb eine neue Formel an die Wand und zeigte mit dem Laserpointer auf die verschiedenen Teile. Schritt für Schritt ging er durch die Rechnung und erklärte die Bedeutung der einzelnen Teile.

»Verstehen Sie jetzt?«, fragte er.

Ariane nickte wieder. Seine Aufmerksamkeit sorgte dafür, dass sie unruhig über ihren Sitz rutschte. »Ja, ein bisschen besser.«

»Gut. Dann sind wir fast fertig.« Luca schrieb die letzte Formel an die Wand und markierte die Stelle, wo er die Ungleichung anwandte.

»Nachdem Sie hier noch ein paar Probleme zu haben scheinen, kommen Sie doch nach der Stunde in mein Büro. Ich gebe ihnen ein paar weitere Unterlagen, die sie gerne einscannen, und im Kursforum teilen können.«.

Ariane sah ihn an und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. In seinem Anzug mit den hochgeschobenen Ärmeln wirkte er einfach nur anbetungswürdig.

»Ja...«

Sein Blick glitt über ihren Mund, dann nickte er und wandte sich wieder dem Rest der Klasse zu. »Sehr schön. Dann kommen wir zum nächsten Punkt.«

Sein Laserpointer tanzte über die nächste Folie, aber um Arianes Konzentration war es endgültig geschehen.

»Ich gehe davon aus, dass wir heute nicht zusammen essen«, flüsterte Daria.

»Sieht so aus.«

»Gutgut. Denkst du, du schaffst es am Samstag zu meiner Einweihungsparty?«

»Diesen Samstag?« Ariane wandte sich ab und starrte ihre Freundin an. »Aber das ist vor den Klausuren!«

»Ich weiß. War nicht meine Idee.«

»In Ordnung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Regelmäßige Lernpausen sollen gut sein, für das Gesamtergebnis.«

Die Stunde verging wie im Flug. Ariane hatte Mühe, sich auf die Formeln zu konzentrieren, die Luca an die Wand schrieb. Immer wieder spürte sie seine Aufmerksamkeit auf ihr ruhen. Was er ihr wohl sagen wollte? Oder war es nur eine Ausrede, um mit ihr allein zu sein?

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Ihr Puls beschleunigte sich.

»So, das war es für heute«, sagte Luca schließlich. »Wenn Sie Fragen haben, können Sie mir gerne eine E-Mail schreiben oder mich in meiner Sprechstunde besuchen. Die nächste ist am Mittwoch von 14 bis 16 Uhr. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal.«

Lächelnd packte er seine Sachen zusammen. Die Studierenden klopften auf ihre Tische, bevor sie aufstanden und den Raum nach und nach verließen. Ariane blieb sitzen und wartete, bis die meisten weg waren.

»Viel Glück«, flüsterte Daria und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Und viel Spaß.«

»Danke«, erwiderte Ariane.

»Und ruf mich an, wenn du fertig bist. Ich will alles wissen.«

»Mach ich.«

Daria zwinkerte ihr zu und ging.

Schließlich stand Ariane auf und nahm ihre Tasche. Sie ging langsam nach vorne, wo Luca noch einige Papiere sortierte. Als er sie kommen sah, hoben sich seine Mundwinkel. »Hallo, Frau Kollegin«, sagte er.

»Hallo, Herr Professor«, antwortete sie.

»Danke, dass du gekommen bist. Kommst du mit?« Luca deutete auf die Tür hinter der Bühne.

»Ja, klar.«

Ariane folgte ihm in einen schmalen Gang. An den Wänden hingen Bilder von berühmten Mathematikern und diversen Formeln. Einige kannte sie, andere nicht.

Endlich erreichten sie eine Tür mit dem Schild: Prof. Dr. Luca Schütz - Professor für Mathematik.

Luca öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

Sein Büro war dunkel und klein, aber gemütlich. Ein Schreibtisch mit seinem Computer und dem Telefon stand an der Wand. Im ersten Moment bemerkte sie das kleine Fenster darüber gar nicht, da ein mächtiger Baum das Licht aussperrte. Luca schaltete das Licht ein. Ein Bücherregal mit vielen Fachbüchern füllte eine andere Wand aus. An der dritten Wand hing eine Tafel mit einigen Kreidezeichnungen darauf. Ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen stand in der Mitte des Raumes.

Luca schloss die Tür hinter ihnen und ging zum Schreibtisch.

»Setz dich doch«, sagte er und zeigte auf einen der Stühle am Tisch.

Ariane folgte seiner Aufforderung.

Aus einer Schublade holte Luca einen Stapel Papiere heraus. »Hier sind die Unterlagen, von denen ich gesprochen habe«, erklärte er und legte sie auf den Tisch vor ihr.

Ariane sah sich die Papiere an. Es waren Übungsblätter zur Bernoullischen Ungleichung mit verschiedenen Aufgaben und Lösungen.

»Danke.«

Luca erhob sich, trat um den großen Tisch herum, um auf dem anderen Stuhl neben ihr Platz zu nehmen. »Bitte«, murmelte er.

Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an. Ariane spürte die Spannung zwischen ihnen. Ob er sie küssen würde? Ob er sie überhaupt küssen wollte?

Vor Anspannung richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Sie räusperte sich. »Also...«

Seine Hand legte sich auf ihre Sie zuckte zusammen und sah ihn überrascht an. »Ich weiß, dass wir uns zurückhalten müssen«, flüsterte er. »Aber ich möchte dir etwas sagen. Etwas Wichtiges.«

Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

»Was denn?«

Er beugte sich etwas vor und senkte seine Stimme noch mehr. »Ich möchte dir sagen, dass ich dich mag. Sehr sogar. Du faszinierst mich.«

Sein Duft hüllte Ariane ein und sie blähte ihre Nasenflügel. Sandelholz, Zitrone und Duschgel. Sie räusperte sich. »Ich möchte dir sagen, dass ich dich will. Mehr als alles andere.«

Das Deckenlicht flackerte, als ob es von der Stimmung zwischen ihnen beeinträchtigt wurde. »Das hast du jetzt nicht gesagt«, murmelte er heiser. Mit der Hand strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Und wenn doch?« Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Unterlippe. »Muss ich dann nachsitzen?«

»Das würde ich nicht überleben.«

Plötzlich ging das Licht aus. Der ganze Raum wurde in Dunkelheit getaucht. Ariane folgte ihrem Instinkt und beugte sich vor. Ihre Hand tastete sich vor und berührte Lucas Kopf. Mit den Finger glitt sie durch seine Haare und zog das störende Haarband heraus.

»Ari.« Sein Tonfall war mahnend, aber sie hatte keine Lust auf ihn zu hören. Sie zog sein Gesicht näher zu ihrem und verschloss seinen Mund mit ihrem. Sein Widerstand brach zusammen. Sanft erwiderte er den Kuss und öffnete seine Lippen. Sie berührte seine Zunge mit ihrer. Sein Geschmack war so gut. Sie stöhnte leise und zog sich auf seinen Schoß. Mit einem Stöhnen vertiefte Luca den Kuss und drückte sie fester an sich. Durch den Stoff seiner Anzughose fühlte sie, dass er sie auch wollte.

Ein Summen erfüllte den Raum, dann ging das Licht wieder an. Luca schob sie von sich und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Was war das denn?«

»Der Stromausfall?« Ari lächelte zufrieden. »Eine glückliche Fügung.«

Seine Augen verengten sich. »Du bist wesentlich gefährlicher als ich gedacht habe.«

Ariane lächelte ihn an. »Ich weiß halt, was ich möchte.«

Sie waren sich so nah. Sein Blick war hungrig und Ariane wusste, dass auch er mehr wollte. Aber er verfügte über mehr Selbstbeherrschung als sie.

Als er sich erhob, rutschte Ariane an seinem Körper entlang und Luca biss sich auf die Lippen. Er umfasste ihre Oberarme und starrte sie an. »Es sind noch genau Fünfundneunzig Tage bis zum Ende des Semester. Einhundertundneun Tage bis zur Abschlussprüfung.« Seine Hand glitt um ihren Nacken und er beugte sich vor. Sein Kuss war heiß und fordernd. Der Puls an seiner Schläfe pulsierte, als er sich zurückzog. »Wage es ja nicht, nächstes Semester Analysis 2 zu wählen.«

»Vernünftig«, antwortete Ariane. »Das verschiebe ich dann wohl besser auf nächsten Winter.« Draußen vor der Tür erklangen Schritte, aber niemand klopfte an. Ariane trat einen Schritt zurück, lächelte verschmitzt und eilte hinaus.


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