37
Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin.
Mark Twain, in: Die Abenteuer des Tom Sawyer
Mark ließ sich Zeit. Zuerst kümmerte er sich um das Schlafzimmer, dann fegte er das Parkett im Wohnzimmer. Viel kam nicht zusammen. Er strich sich die Haare aus der Stirn und schaute nach Daria. Das Bad war leer, aber aus der Küche erklang ein unterdrückter Fluch.
Mit überkreuzten Armen lehnte sich Mark an den Türrahmen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die kleine Küche war schlicht und funktional eingerichtet. Eine weiße Arbeitsplatte mit einem Spülbecken und einem Herd bildete eine L-Form an der Wand. Darüber hingen einige offene Hängeschränke, in denen wohl früher Geschirr und Lebensmittel verstaut waren. An der gegenüberliegenden Wand stand ein kleiner Kühlschrank und eine Mikrowelle. Ein runder Tisch mit zwei Stühlen passte gerade noch in die Mitte des Raumes. Daria stand auf einer Leiter und versuchte, die obersten Schränke auszuwischen. Ihr Gesicht war gerötet und sie hatte sich die Ärmel hochgebunden.
»Was ist los?«, fragte er, während er ein Grinsen unterdrückte. Es gab heute einfach nichts, dass seine Laune beeinträchtigen konnte.
Sie blickte ihn kurz an und schnaubte. »Ich habe hier eine Dose gefunden, die seit zwei Jahren abgelaufen ist. Und sie ist nicht mal von mir.«
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie dein Vormieter vergessen.«
Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck warf sie die Dose zielsicher in den Mülleimer und stieg von der Leiter. »Das macht es nicht besser. Ich hasse es, wenn Leute so unordentlich sind.«
»Du hast es tapfer hinter dich gebracht. Und in der neuen Wohnung wirst du keine solchen Überraschungen finden.«
Sie sah ihn skeptisch an. »Das will ich hoffen. Sonst bist du schneller wieder draußen, als ich eingezogen bin.«
»Das glaube ich nicht. Immerhin ist es meine.«
»Einzelheiten«, knurrte Daria. Sie holte den halbvollen Beutel aus dem Eimer und hängte ihn im Flur an die Klinke der Eingangstür.
Marks Handy vibrierte und er kontrollierte die Nachricht. Sie war von Noah. Wir sind fertig. Soll ich abschließen?
Das Timing war mehr als perfekt. Ja bitte. Leg den Schlüssel auf den Küchentisch, ich habe noch Darias mit.
Daria war mittlerweile im Wohnzimmer verschwunden. Als durch den Türrahmen spähte, erwischte er sie, wie sie das Ergebnis seiner Reinigungsarbeit überprüfte. »Und? Passt alles?«
»Geht.« Mehr Lob würde er heute wohl kaum bekommen.
Mark nickte zufrieden. »Wir sollten langsam los. Die Anderen haben schon alles hochgetragen.«
Ihre Zähne nagten an ihrer Unterlippe, während sie ihre Kopf den Raum musterte. Auch wenn es wohl eher eine nachdenkliche Bewegung war, war sie durchaus aufreizend. Mark schluckte. Hitze sammelte sich in seinem Bauch, aber er ignorierte sie eisern. Falscher Zeitpunkt. Definitiv.
Schließlich nahm Daria ihre Jacke und die abgedeckte Transportbox, in die Schildkröte saß und er folgte ihr zur Tür.
»Willst du dich verabschieden?«, fragte er.
»Nein, danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn man es genau nimmt, war die Wohnung im Sommer wirklich ganz schön heiß.«
Nacheinander verließen sie die Wohnung und Daria schloss ab. Sie gingen zu ihren Autos, die vor dem Haus standen. Zeitgleich starteten sie ihre Motoren. Daria fuhr zuerst los und Mark folgte ihr in einigem Abstand.
Seine Vorfreude verkürzte die Fahrt. Offensichtlich wusste Daria ganz genau, wo seine Wohnung lag, denn sie wählte die kürzeste Strecke und parkte direkt vor der Tür, während er in die Garage fuhr.
Eilig lief er durch das Treppenhaus hoch und ließ sie ein. Sie hatte ihren Zopf geöffnet und ihre rotblonde Mähne fiel ihr ungebändigt über die Schultern. Unwillkürlich musste er lächeln.
»Ich habe ganz vergessen, dir deinen Schlüssel zu geben«, erklärte ihr, während er den Reservebund aus seiner Hosentasche zog. Nacheinander zeigte er auf jeden der drei Schlüssel. »Schau, damit öffnest du die Haustür, damit die Wohnungstür und der kleine hier ist für den Briefkasten.«
»Alles klar.« Sie sah sich suchend im Flur um und Mark deutete auf die Tür rechte Wohnung im Hochparterre. Sein Herz trommelte. Immerhin hatte sie weder die Wohnung noch ihr Zimmer bisher gesehen. Ob sie es mögen würde?
Als Daria die Stufen hinaufstieg, hörte er eine andere Tür ins Schloss fallen. Ein schwarzer Bob schob sich über das Geländer und Mark biss die Zähne zusammen. Natürlich, Anastasia. Wenn es eines gab, was er an seiner Wohnung echt nicht mochte, dann war es seine aufdringliche Nachbarin. »Mist«, flüsterte er Daria zu. »Ich hatte gehofft, ich könnte sie dir länger ersparen.«
Anastasia lächelte breit, als sie Mark sah. Ihr enges Kleid betonte ihre Kurven. Mit den rot geschminkt Lippen sah sie aus, als wäre sie auf dem Weg zu einer Party. Dabei war es noch nicht einmal Mittagszeit.
»Hallo, Mark«, hauchte sie und kam näher. Ihre hohe Schuhe verliehen ihr mehr Größe, als sie von Natur aus besaß.»Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.«
»Hallo, Anastasia. Ich war beschäftigt.« Mark versuchte, höflich zu bleiben. Mit dem Kinn deutete er auf Daria, welche die Szene mit einem skeptischen Blick beobachtete. »Das ist Daria. Sie ist meine neue Mitbewohnerin.«
Anastasia musterte Daria von oben bis unten. Im Vergleich sah sie wild und müde aus, so als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Schnell vertrieb er jeden Gedanken an Betten aus seinem Kopf. Von Daria ging mehr sexuelle Spannung aus, als Anastasia je austrahlen könnte.
»Oh, wie nett«, sagte Anastasia mit einem falschen Lächeln. »Willkommen in der Nachbarschaft.«
Daria nickte kurz. »Danke.«
Sanft schob Mark sie in Richtung der Wohnungstür. »Wir müssen jetzt rein«, erklärte er. »Wir haben noch viel zu tun.«
Unglücklicherweise ließ sich Anastasia nicht so leicht abwimmeln. Sie folgte ihnen und lehnte sich an die Tür. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass du eine Mitbewohnerin suchst. Ich hatte nach David eigentlich wieder einen Mann erwartet.«
Mark seufzte innerlich. Natürlich hatte ihr nichts erzählt. Er mochte sie nichte einmal, aber seine Ablehnung schien sie immer weiter anzuspornen.
»Es war eine spontane Entscheidung«, sagte er ausweichend.
Anastasias Blicke fühlten sich unangenehm an. Als würde sie ihn gleichzeitig verhören und ausziehen. Das musste also Folter sein. »Und wie habt ihr euch kennengelernt?«, schnurrte sie dabei.
»Wir kennen uns schon lange«, antwortete er ehrlich. »Wir sind Freunde aus Kindertagen.«
Anastasia lachte spöttisch. »Freunde? Ist das alles?«
»Ja, das ist alles. Und jetzt entschuldige uns bitte.« Was ging es sie überhaupt an? Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen zog er Daria ins Innere der Wohnung und drückte die Tür zu. »Und Grüße an deinen Verlobten!«
Auf der anderen Seite der Tür ertönte ein gedämpfter Fluch, gefolgt von einem Stampfen. Seine gute Laune kehrte zurück.
»Es tut mir leid«, murmelte er entschuldigend. »Sie ist leider immer so.«
Daria zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal.«
Ihr Blick huschte durch seine Wohnung. Im Vergleich zu ihrer alten Wohnung war seine vielleicht dunkler. Auch wenn er große Fenster besaß, ließen sie wahrscheinlich weniger Licht ein, als die Dachfenster zuvor. Sein Sofa war groß und bequem, mit vielen Kissen und einer Decke. Auf dem Couchtisch standen eine Lampe, ein paar Zeitschriften und eine Schale mit Nüssen. Er hatte sich Mühe gegeben, dass alles einladend wirkte. Aber könnte es jetzt unordentlich wirken?
Mark wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab und deutete auf das Badezimmer, vor dem eine von Darias Kisten stand. »Ich habe bereits ein Fach im Regal geleert. Hoffentlich reicht der Platz.«
Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sie warf einen Blick in den Raum, nickte, dann trat sie zurück in den Flur. In einer Ecke stand ein Bücherregal, das bis zum Rand gefüllt war mit Romanen, Sachbüchern und Comics, daneben führte eine Tür in sein Zimmer. »Das ist mein Zimmer, die Tür neben dem Schuhschrank gehört zu deinem«, erklärte er.
Daria stellte Kasper in den Flur und öffnete die Tür in ihr neues Reich. Netterweise hatte Noah dafür gesorgt, dass sowohl ihr Bett als auch der Kleiderschrank schon aufgebaut auf sie warteten. Der Petrolton harmonierte gut mit dem Holz der Möbel. Ein weißer Schaukelstuhl stand unter dem Fenster neben einer Komode. An der Wand neben der Tür stapelten sich drei Kisten mit dem Schriftzug "SCHLAFZIMMER".
»Petrol?«, fragte Daria.
»Magst du die Farbe nicht?«
Statt zu antworten hob Daria nur eine Augenbraue.
Mark schluckte. »Ich dachte, sie passt gut zu deinen Haaren.«
Jetzt zuckten Darias Mundwinkel. »Du wählst eine Zimmerfarbe nach meinen Haaren aus?«
Da er nicht wusste, wie er sich retten konnte, zuckte Mark nur mit den Schultern.
»Was ist heute nur los mit euch?« Daria stellte sich auf die Zehenspitzen und starrte ihn an. »Zuerst zwinkert mir Noah zu. Noah. Was er noch nie getan hat. Und machst du auch noch einen auf schüchtern?«
»Ich bin nicht schüchtern«, verteidigte sich Mark. Nach dem Gespräch mit Porthos konnte sich Mark gut vorstellen, was sein Bruder gedacht hatte. Aber er würde auf keinen Fall den Kuss ansprechen. Er war nicht lebensmüde.
»Was dann?«
»Ich wollte nur, dass du dich wohlfühlst. Das ist alles.« Er warf die Hände in die Luft. »Normalerweise hätte ich dich gefragt. Aber das hätte vielleicht aufdringlich gewirkt. Außerdem wollte ich dich überraschen. Ach, ist ja auch egal.«
»Ach so.« Beinahe friedfertig schaute Daria unter gesenkten Lidern zu ihm auf. »Danke.«
Der Vorhang in ihrem Zimmer blähte sich und erinnerte Mark, an die Überraschung, die er vorbereitet hatte. »Aber ich habe tatsächlich, noch etwas, dass ich dir zeigen möchte. Kommst du?«
»Jetzt? Oder kann ich erst auspacken?«
»Jetzt«, beschied Mark. Er griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich durch das Wohnzimmer zum Balkon.
»Soll ich irgendwie die Augen zumachen?« Darias Tonfall war eindeutig sarkastisch und auch er fand seine innere Mitte wieder.
»Wenn du das möchtest.« Er trat einen Schritt zur Seite und präsentierte ihr den Garten. »Aber dann siehst du ja leider nichts mehr.«
Mit großen Augen starrte Daria in den Garten. Die Hälfte der Rasenfläche wurde von einer Konstruktion aus Holz und Kaninchendraht eingenommen, die er gestern unter Zuhilfenahme seines Werkzeugkoffers und mehreren Youtube-Videos zusammengebaut hatte.
»Ist das, was ich denke, dass es ist?« Ihr Gesicht leuchtete beinahe.
»Ja.« Mit seinem Daumen wies er in Richtung Wohnzimmer. »Was hälst du davon, wenn du Kasper sein neues Reich zeigst, während ich etwas zu trinken vorbereite?«
Sie nickte, auch wenn nicht klar war, wie viel sie von seinem Vorschlag mitbekommen hatte. Schließlich blinzelte sie und eilte zurück, um ihre Schildkröte zu holen.
Bisher war sein Plan perfekt aufgegangen. Daria schien aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Vielleicht war es Zeit, einen weiteren Schritt zu versuchen. Ihre Freundschaft hatte sich immer auf Vertrauen und Spaß gegründet. Auch wenn sie vielleicht noch nicht ganz überzeugt war, was das erste betraf, am zweiten konnte er arbeiten.
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er in die Küche und öffnete die Lade, die den Ouzu beherbergte.
Es dauerte eine Zeit, bis Daria mit der leeren Transportbox aus dem Garten zurückkehrte. Der Rand um ihre Augen schien etwas rötlich zu sein. Es wurde eindeutig Zeit für mehr Spaß.
Mark verschränkte seine Beine übereinander. »Setz dich«, forderte er sie auf.
Ihre Mimik wurde sofort wachsam. Als sie die Flasche auf dem Tisch und die beiden Schnapsgläser sah, zog sie ihre Augenbrauen hoch. »Was wird das denn?«
Mit einem Lächeln beugte sich Mark vor und schenkte ein. »Wir haben noch so etwas wie eine Wette offen, Dar.«
»Was für eine Wette?« Für den Moment verbuchte Mark es als Erfolg, dass sie nicht in ihr neues Zimmer stürmte und die Tür ins Schloss warf.
»Wenn ich dich zitieren darf?« Dieser Teil machte richtig Spaß. »Auf Feekes Taufe sagtest du, dass du wesentlich unangenehmere Dinge als Lakritze in dich einfüllen würdest, bevor du mit mir zusammen ziehst.«
»Ernsthaft, Mark?«
Sein Blick glitt über ihre Jeans hinauf, bis er von einer wilden Locke eingefangen wurde, die ihr störrisch ins Gesicht viel. Einladend deutete er auf den Sessel gegenüber. »Natürlich. Es sei denn natürlich, du hast andere Vorschläge.«
Sie schnaubte, dann nahm sie Platz und griff mit angewiderter Miene nach einem Glas. »Na dann, auf die Getränke, die keiner mag.«
Der Alkohol schwappte ein wenig, als ihre Gläser zusammen stießen. »Warum nicht auf die Dinge, die wir uns bisher nicht vorstellen konnte.«
Ihr Stöhnen klang mehr belustigt, als genervt. »Auch gut. Auf ein gutes Zusammenwohnen, Mitbewohner.«
»Fürs Erste«, antwortete Mark. Während er den Anisschnaps hinunter kippte, ließ er sie nicht aus den Augen. Die Hitze brannte in seiner Kehle. Nie hatte das Zeug so gut geschmeckt wie heute.
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