24
Es gibt nichts auf der Welt, das so unwiderstehlich ansteckend ist wie Lachen und gute Laune.
Charles Dickens in: A Christmas Carol
Im ersten Moment wusste Daria nicht wo sie war. Lediglich das Blinken ihres Handys sorgte für Licht. Hatte sie geschlafen? Das unbekannte Zimmer war so klein, dass lediglich ein Bett hinein passte. Zuhause war sie demnach nicht. Erst sie die Taschenlampe ihres Handys anschaltete, erkannte sie den Raum. Lindgrüne Streifen schufen ein gemütliches Ambiente und hinter einem hellen Vorhang verbarg sich ein großes Fenster. Arianes Gästezimmer.
Der Quälgeist in ihrer Hand meldete sich erneut. Daria seufzte. Offenbar hatte sie vergessen, das Gerät auszuschalten. Jetzt wo sie wach war, konnte sie auch gleich nachsehen, wer sich mitten in der Nacht berufen fühlte, ihr zu schreiben. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie gleich mehrere Nachrichten von Mark.
Wusstest du, dass ausgerollte Lakritzschnecken lang genug für Fesselspiele sind?
Perplex blinzelte Daria. Immerhin war sie nun vollkommen wach. Sie scrollte weiter.
Ich kann nicht schlafen, weil ich gerade daran denke, was ich gerne mit dir anstellen würde ...
Das klang so gar nicht nach Mark. Wieder zeigte sich das Schreibsymbol, aber es wurde keine Nachricht gesendet. Ob er wirklich erwartete, dass sie etwas antwortete? Es gab eigentlich nur eine Sache, die sie interessierte. Bist du betrunken?
Wieder zeigten sich die Punkte, wieder kam keine Antwort. Es war dunkel, es war still. Irgendetwas an der Situation lockte sie. Bevor sie sich zu sehr in die Sache hineinsteigern konnte, tippte sie ihre nächste Nachricht ein. Was machst du gerade?
Daria drehte sich auf die Seite und zog die Decke über ihre Schultern. Warum schrieb er nicht? Sie hätte ihm gar nicht erst antworten sollen.
Das klingt jetzt wie eine äußerst dämliche Ausrede ...
Ein Klirren ertönte. War Ariane ebenfalls wach?
Aber ich werde jetzt einen Spaten suchen, damit ich meinen letzten Freund beerdigen kann, der sich gerade mein Handy geklaut hat.
Daria runzelte die Stirn. Sollten die Worte Sinn ergeben? Mit der Fingerspitze tippte sie an ihre Nase. Was für ein Blödsinn. Wer würde schon so etwas machen? Ihr Finger stoppte. Natürlich gab es einen Verdächtigen.
Brauchst du ein Alibi?
Postwendend kam Marks Antwort. Würdest du mir eins geben?
Ein weiteres Poltern erklang. Moment, roch es hier etwa nach Keksen? Daria schüttelte den Kopf. Die Nacht wurde immer skurriler.
Ich weiß nicht. Irgendwie mag ich Ben, warum auch immer.
Er lässt dich auch schön grüßen.
Vor ihrer Zimmertür lachte jemand verhalten. Daria richtete sich auf. Ein Mann? Hatte Ariane Luca doch mitgenommen?
Warte kurz. Daria stand auf und schob sich zur Tür. Irgendwie kam es ihr schon komisch vor, an dem Holz zu lauschen. Auf der anderen Seite ging Sicherheit einfach vor.
Wieder blinkte ihr Handy. Was ist los?
Geräusche waren keine mehr zu hören, aber es roch definitiv nach Keksen. Ich bin mir nicht sicher. Vorsichtig öffnete sie ihre Tür und schaute durch den Spalt. Die Küchentür war geschlossen, aber ein Lichtschein drang durch den Spalt. Vielleicht saß Ariana ja dort am Tisch und versuchte, sich ihre Sorgen wegzubacken. So richtig gut kannten sie sich ja noch nicht und irgendwie hatte doch jeder seine Macken. Ich übernachte gerade bei einer Freundin und irgendetwas kommt mir komisch vor.
Schick mir die Adresse. Ich komme.
Sein Angebot überraschte Daria. Einfach so?
Jetzt mach schon. Wo bist du?
Wahrscheinlich war sie überreizt. Eine unbekannte Umgebung, Marks Nachrichten – es gab so viele Möglichkeiten, die ihrer Wahrnehmung einen Streich spielen konnten. Auf der anderen Seite des Fluches öffnete sich eine Tür und Ariane schob sich in den Flur. Mit einem Baseballschläger in den Händen. Bevor Daria ihr etwas signalisieren konnte, riss sie schon die Küchentür auf.
Daria beeilte sich, um ihrer Freundin beizustehen.
In der Küche saßen zwei grauhaarige Menschen am Esstisch. Daria blinzelte, als sie die Frau erkannte.
»Herr Walzmann«, protestierte Ariane und ließ den Schläger sinken. Darias Handy leuchtete und die ältere Dame zwinkerte ihr zu.
»Oh, tut mir leid, wir wollten euch nicht wecken«, erklärte Lisas Oma.
Es musste eine ganz einfache Erklärung für diesen Irrsinn geben. Wahrscheinlich träumte sie noch. Daria zwickte sich in den rechten Arm, wachte aber zu ihrer Überraschung nicht auf.
Der ältere Herr nickte und deutete auf einen Teller. Langgezogene und verdrehte Teigstücke bedeckten die Oberfläche. »Wir wollten backen.«
Ariane zeigte auf den Herrn. »Das ist Herr Walzmann. Mein Vermieter.«
»Nett, Sie kennen zu lernen«, antwortete Daria höflich. Wieder blinkte ihr Handy.
Es ist alles in Ordnung. Wenn sie Mark noch länger warten ließ, würde er wahrscheinlich völlig ausrasten. Lisas Oma ist hier.
»Also, Herr Walzmann«, begann Ariane. »Ich weiß, wir haben darüber bisher noch nicht gesprochen, aber ...« Sie verstummte. Offenbar fehlten auch ihr die Worte.
Frau Allermann stand auf und goss ein Glas Wasser ein, das sie Ariane reichte. »Es tut mir sehr leid. Mein Name ist Trude Allermann und ich bin eine Bewohnerin aus dem Birkenhof. Irgendwie haben Wilhelm und ich uns hinreißen lassen. Als ehemalige Ostpreußen haben wir über die richtige Zusammensetzung von Raderkuchen philosophiert ...«
Mit beiden Händen deutete Herr Walzmann auf die Keksteller, als würden sie eine Art heiligen Gral darstellen. »Sie sind perfekt. Kommt, setzt euch. Probiert!«
Ohne die Möglichkeit eines Protestes, saß Daria plötzlich neben Frau Allermann und hielt einen der Kekse in den Händen. Sie rochen wirklich gut. Ariane schien ähnlich verwundert und knabberte bereits an einem der Teile.
»Die sind wirklich wundervoll«, erklärte ihre Freundin. »Aber warum hier? Wie sind sie überhaupt herein gekommen?«
Frau Allermann holte ein weiteres Glas Wasser für Daria. »Die Regeln in der Residenz sind ziemlich streng. Die Küche ist nicht nutzbar und wir brauchten einen guten Ofen. Wilhelm meinte, er habe schon immer gerne gebacken und seiner sei erstklassig.«
Eifrig nickte der alte Mann. »Das stimmt. Und reingekommen sind wir natürlich mit dem Reserveschlüssel.«
Die beiden wirkten zu gleichen Teilen zerknirscht und glücklich. Zumindest Daria konnte es ihnen nicht übel nehmen und Arianes mildem Gesichtsausdruck nach ging es ihr ähnlich.
»Diese Raderkuchen sind großartig.« Ariane wedelte mit dem angebissenen Keks und legte den Kopf zur Seite. »Also, prinzipiell habe ich gar nichts dagegen, wenn Sie die Küche benutzen wollen. Aber bitte nicht zwingend nachts. Und ohne Voranmeldung.«
Herr Walzmann nickte. »Ja, da haben wir uns wohl hinreißen lassen. Es tut mir aufrichtig leid.«
Schweigend verzehrten sie die Kekse. Schließlich deutete Lisas Oma auf Darias blinkendes Handy. »Ich glaube, da versucht jemand Ihre Aufmerksamkeit zu erregen, Daria.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Ariane überrascht.
Ihre Antwort bestand aus einem Nicken. Schnell scrollte sie durch Marks besorgte Nachrichten. Ich möchte, dass du mich anrufst und mir wenigstens kurz sagst, dass wirklich alles in Ordnung ist. Im Moment bin ich mir nicht sicher, ob und für wen ich eine Vermisstenanzeige aufgeben soll.
Daria schnappte sich einen weiteren Keks und stand auf. »Ich glaube, da muss ich mich kurz drum kümmern.«
»Natürlich, meine Liebe. Gehen Sie ruhig. Wir werden auch gleich aufbrechen«, erwiderte Trude Allermann mit einem Lächeln. Dann wandte sie sich Ariane zu. »Daria gehört fast zur Familie. Die Welt kann manchmal sehr klein sein.«
Während Daria in ihr Zimmer zurückkehrte, wählte sie Marks Nummer. Sofort ging er dran. »Geht es dir gut?«, fragte er anstelle einer Begrüßung.
»Ja.« Tatsächlich ging es ihr sogar richtig gut. Daria musste kichern. Hoffentlich waren es ganz normale Kekse gewesen. Irgendwie traute sie Lisas Oma mittlerweile einiges zu.
»Gut. Ich war mir nicht sicher, ob Lisas Oma für ein Codewort steht, dass ich nicht kenne.«
Blubbernd entkam ihr ein weitere Gluckser. Schnell schob sie sich die Hand vors Gesicht.
Im Hintergrund, auf Marks Seite, hörte sie ihn tuscheln. »Ja, es ist in Ordnung. Sie lacht.«
Prompt erklang Bens Stimme. »Dann noch einen schönen Abend, ihr Turteltauben.«
Hilflos sackte Daria aufs Bett. Vor Lachen traten ihr Tränen in die Augen. Wenn das nicht die merkwürdigste Nacht war, die sie jemals erlebt hatte.
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