20
Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht,
Lass' dich nieder in jenen Gefilden,
Wo in Freiheit wir glücklich einst lebten,
Wo die Heimat uns'rer Seele ist.
Giuseppe Verdi, in: Nabucco, der Gefanngenenchor
Die Musik wummerte durch Arianes Körper und zog sie beinahe in einen Rausch hinein. Der Refrain von Pharrell Williams Sommerhit "Happy" setzte ein und rhythmisch klatschte sie im Takt der Musik in die Hände. Bei der nächsten Drehung fiel ihr Blick auf Daria, die mit hochgezogener Augenbraue an einer Säule lehnte.
Ariane wirbelte näher zu ihr heran. »Komm schon!«, forderte sie und bewegte sich hüftschwingend um Daria samt Säule herum.
»Im Leben nicht«, grinste Daria.
Auf der anderen Seite der Tanzfläche erkannte sie ein paar Kommilitonen, aber Ariane wollte lieber ihre neue Freundin motivieren. Mit einem Lächeln hob sie ihre Hand und lockte Daria mit ihrem Finger und einer hochgezogenen Augenbraue.
Daria kicherte. Kopfschüttelnd hob sie die Hände, fing aber gleichzeitig an, sich zur Musik zu bewegen. Ihre Füße machten ein paar schnelle Bewegungen und schon tanzte Daria neben ihr.
»Wow, du bist ja richtig gut«, schrie Ariane über die Musik hinweg.
»Ich bin Sportlerin«, erwiderte ihre Freundin ebenso laut. »Mit ein bisschen Körperkontrolle geht das schon.«
Die Musik wechselte und ein neuer Song brachte tiefe Bässe. Ein Mann strich sich die dunklen Haare aus der Stirn und breitete die Arme aus. Sein Blick wanderte von ihr zu Daria und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Vergiss es. Soviel Glück hast du nicht«, schnaubte Daria, während sie leicht gegen Arianes Arm stupste und sich umdrehte.
Ariane hob eine Hand und versteckte ihr Lachen dahinter. Die Enttäuschung ließ den Mann jünger wirken, beinahe wie ein trauriges Hündchen.
»Du bist böse«, erklärte sie vorwurfsvoll, als sie Daria an der Bar wiedertraf.
Die zuckte nur mit den Schultern. »Ehrlich. Warum Hoffnungen wecken, die sich sowieso nicht erfüllen können.«
»Aber das geht auch freundlicher, meinst du nicht?«
Daria blies ihre Wangen auf, bevor sie langsam die Luft ausstieß. »Kann sein. Aber was bringt das?«
»Gutes Karma?«, grinste Ariane, beugte sich vor und signalisierte dem Barkeeper, dass er ihnen zwei Flaschen Wasser bringen könnte.
Der Mann hinter der Theke nickte und blickte sich hektisch um. Seine Hände glitten über die verschiedenen kleinen Flaschen hinweg, hoben sie nacheinander hoch, bis er mit einem erleichterten Seufzen zwei blaue zu ihnen hinüber schob.
»Ich glaube nicht an Karma.« Daria setzte sich auf einen der gepolsterten Barstühle und drehte dem Tresen den Rücken zu.
Der überforderte Barkeeper hatte sich zumindest von Arianes Seite aus ein freundliches Lächeln verdient, was er etwas überrascht zur Kenntnis nahm. Kein Wunder, am anderen Ende der Bar entstand ein Tumult, bei dem einige der Gäste erbost leere Gläser in die Höhe reckten.
»Ich finde es übrigens ziemlich krass, dass du einfach so eine Wohnung mieten konntest, ohne überhaupt eine gesucht zu haben.«
»Gutes Karma!«, erklärte Ariane grinsend.
Kopfschüttelnd wandte sich Daria wieder ihr zu. »Nein, da gehört schon mehr dazu. Danke jedenfalls für die Einladung. Ich hatte wirklich lange keine Übernachtungsparty mehr.«
»Sehr gerne. Immerhin muss ich dich ja entschädigen, nachdem ich du eigentlich gar nicht mitkommen wolltest. Wie läuft eigentlich die Wohnungssuche? Irgendwelche neue Horrorstories?«
Daria pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hielt sich die kühle Flasche gegen die Stirn. »Ich hatte ja gehofft, dass ich das Zeitalter der Diskotheken hinter mir gelassen hatte. Nein, nichts neues. Morgen habe ich eine, sogar ganz in deiner Nähe.«
»Uh, das wäre ja fein.« Mit ein bisschen Glück würde es klappen und sie könnten dann gemeinsam zur Uni fahren. Ariane trank einen Schluck und ließ ihren Blick über die wogende Masse an Menschen gleiten. Ein Mann schob sich durch die Menge. Hochgewachsen, wuschelige braune Haare. Hatte sie ihn nicht irgendwo schon einmal gesehen?
»Kannst du kurz auf meine Flasche aufpassen?«, unterbrach Daria ihre Überlegungen. »Ich muss einmal auf Toilette.«
»Kein Problem«, antwortete Ariane, während sie den Mann nicht aus den Augen ließ. Ihre Freundin schob das Wasser herüber und glitt vom Hocker.
Der Mann blieb stehen und sah sich langsam um. Spürte er ihre Aufmerksamkeit? Sein Blick fiel auf sie. Neugierig legte sie ihren Kopf schief.
Auch auf die Entfernung hin spürte Ariane, dass sie sein Interesse. Er sah sich ein letztes Mal um, dann kam er näher.
»Ist hier noch frei?«, fragte er und deutete auf Darias Hocker.
Sie musterte seine hellblauen Augen und die wilde Mähne. Endlich erkannte sie ihn. »Du bist der Stirnbandträger!«
Die Augen des Mannes weiteten sich und er musterte sie von Kopf bis zum Fuß. »Du bist Ari, nicht wahr? Das Mädchen aus der Eilenriede.«
Er setzte sich neben sie und lächelte. Vielleicht lag es an seinen leuchtenden Augen, vielleicht an dem Grübchen, das seine Wange zierte, aber seine Mimik setzte ein Feuer in ihrem Inneren in Brand. Ein Kribbeln schoss durch ihren Bauch und Ariane blinzelte überrascht. »Das bin ich. Und du Luca, nicht wahr?«
»Stimmt!«, erwiderte er. Mit der Hand strich er sich seine Locken aus der Stirn, bevor er seinen Ellenbogen auf den Tresen legte. »Möchtest du etwas trinken?«
Die Musik war so laut, dass sie sich vorbeugen musste, um ihn besser verstehen zu können. Der Kellner routierte mittlerweile, verteilte Flaschen an die wartenden Menschen, während ihm der Schweiß die Schläfen hinab ran. »Ich habe noch. Und ich glaube, der Barkeeper hat Stress.«
Luca musterte den Mann und zuckte mit den Schultern. »Ach, so wichtig ist das gar nicht. Ich habe dich gar nicht mehr beim Joggen gesehen. Was ich übrigens sehr schade fand!«
Sein Duft stieg ihr in die Nase. Männlich, frisch, aber mit einer besonderen Note. Vielleicht holzig? »Ja, das tut mir so leid. Ich musste meinem Vater in der Firma aushelfen.« Ariane zögerte, bevor sie ihm einen Wink mit dem Zaunpfahl gab. »Und ich hatte deine Nummer nicht, um dir bescheid zu geben.«
Glücklicherweise funktionierte es. »Das müssen wir ändern!«, erwiderte Luca, als er sich ein schmales Smartphone aus der Hosentasche zog. »Würdest du mir deine Nummer geben?«
Ariane nickte und tippte ihre Kontaktdaten ein. Ihr eigenes Handy vibrierte, als er kurz darauf durchklingelte, um ihr seine Nummer zu geben.
»Und, wirst du mich jetzt unter 'Stirnbandträger' einspeichern?« Sein Kiefer war kräftig und ihr gefiel der gepflegte Bart, den er trug. Unter seinem T-Shirt zeigten sich Muskeln.
»Vielleicht?«, grinste sie. »Es sei denn, mir fällt noch ein besserer Name ein.«
Luca rückte noch näher, bis sie seinen Atem während des Sprechens auf ihrer Wange spürte. »Habe ich da ein Mitspracherecht?«
»Unwahrscheinlich.« Für einen Mann hatte er ziemlich lange Wimpern. »Aber du darfst mich vielleicht inspirieren.«
Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen. »Weißt du, ich befinde mich da gerade in einer Zwickmühle.«
Das Wummern der Musik vermischte sich mit dem Klopfen ihres Herzens. Tief in ihr gab es einen ganz besonderen Takt vor. »Erzähl«, bat sie und biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht kann ich dir helfen.«
Im Wechsel der Lieder ging hinter ihr ein Glas zu Bruch, aber sie konnte nicht wegschauen. Ein kleiner Muskel zuckte an seinem Hals. Zu gerne nur wäre sie mit ihren Lippen über das Stück Haut gefahren. »Das wäre echt nett von dir. Weißt du, wir Männer sind oftmals echt überfordert.«
Mit einem Finger strich er Ariane eine Strähne zurück hinter das Ohr.
»Im Prinzip würde ich dich echt gerne küssen. Meine Schwester hat mir dazu aber schon einen Vortrag gehalten, dass es übergriffig sein könnte.« Seine Hand wanderte weiter und fuhr ihre Halslinie bis unters Kinn nach. »Das möchte ich natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, stimmte Ariane zu. Worauf wollte er hinaus? So merkwürdig die Unterhaltung schien, seine Worte banden ihr Interesse. Die Worte und die hauchzarte Berührung seiner Haut. Das flackernde Licht, die Bässe, alles verschwamm beim Klang seiner Stimme.
»Meine Schwester meinte aber auch, dass nur Feiglinge eine Frau vorher um Erlaubnis fragen und das sehr unsicher wirken könnte.«
»Du scheinst eine recht widersprüchliche Schwester zu haben.«
»Keine Frage. Nun sehe ich allerdings ein Problem, wenn du verstehst was ich meine.«
Seine Hand stoppte, verharrte unbeweglich an ihrem Hals. »Ich verstehe«, erklärte Ariane und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Du hast keine Ahnung, was du jetzt tun sollst.«
Luca setzte zu einer Antwort an, aber bevor er im schlimmsten Fall den Moment zerstören konnte, nahm ihm Ariane die Entscheidung ab. Beherzt zog sie ihn näher an sich heran und legte ihre Lippen auf seine.
Es war perfekt. Natürlich war sie schon geküsst worden, aber nicht so. Seine Zunge berührte sie. Er schmeckte heiß, frisch und definitiv nach mehr. Sanft platzierte sie einen weiteren Kuss und schob sich dann weg. Ein Grollen erklang aus seinem Hals, beinahe als wäre er ein Raubvogel auf der Jagd. Zielstrebig und äußerst unwillig, sie gehen zu lassen.
»Ich glaube, du hast gute Chancen, dass ich einen guten Namen für dich auswählen werde«, murmelte sie, bevor Ariane die Augen schloss und ihn erneut an sich zog.
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