13
Kein Lebewesen ist frei von Angst, wenn es sich Gefahr ausgesetzt sieht. Wahrer Mut besteht darin, sich der Gefahr zu stellen, obwohl man Angst hat.
L. Frank Baum, in: Der Zauberer von Oz
Mit dem Schenkeldruck gab Mark Dumas ein Zeichen, damit er das Tempo erhöhte. Die Ohren des Pferdes stellten sich auf.
Der Wald öffnete sich und machte Platz für Wiesen und Felder. Eine Fußgängerin kam Mark entgegen und er parierte frühzeitig durch, als ein kleiner weißer Hund an ihr vorbei schoss. Meist war Dumas tiefenentspannt, aber sicher konnte er sich nie sein. Die Frau pfiff ihren Hund zurück, leinte ihn an und sie wechselten einen nickenden Gruß.
An der nächsten Weggabelung würde er sich entscheiden müssen, ob er den Bogen zur großen Runde nahm, oder abkürzte. Eigentlich hatte er Zeit und der Boden war für die Hufe seines Freundes feucht genug.
»Und Kumpel? Wie schaut es aus. Möchtest du heute noch etwas erleben oder zieht es dich schon zurück zum Stall?«
Beim Klang seiner Stimme warf Dumas den großen Kopf zurück. Er hatte definitiv noch Energie. Gerade als Mark den Umweg anvisieren wollte, klingelte sein Handy.
Nur ein Mensch besaß ein derart schlechtes Timing und das Bellen, dass zumindest unterdrückt aus seiner Tasche erklang, bestätigte sein Bauchgefühl. Dumas Ohren zuckten zur Seite. Für ihn war 'Who let the dogs out?' wahrscheinlich eine akustische Beleidigung. Aber es gab kaum etwas, das besser zu Marlene passte als dieses Lied.
Mit einem Seufzen lenkte Mark sein Pferd nach rechts, an einer Koppel vorbei in Richtung Bewegungsstall. »Sorry Kumpel. Du weißt ja, im Sattel telefoniere ich nicht. Aber wenn ich mich nicht zeitnah zurückmelde, wird Milady über uns kommen wie ein Tornado. Und was das bei Dorothy angerichtet hat, kann man ja nachlesen.«
Der Klingelton erstarb schließlich, aber Mark fühlte das Vibrieren einer Nachricht am Bein. Marlene hatte in ihrem Leben noch nie viel Geduld besessen.
Hinter einem Busch machte der Pfad eine weitere Biegung und brachte ihn noch einmal zum Waldrand. Alles war frei und die leichte Senkung lud förmlich zum Galopp ein. Mit der linken Hand tätschelte Mark Dumas' Hals, während er ihn mit der rechten am Zügel stabilisierte.
Sein Freund zog an und zeigte einmal mehr, warum Hannoveraner zu den beliebtesten Pferderassen gehörten. Während die dunkle Mähne im Zugwind flatterte spürte Mark die reine Kraft, die Dumas in seinen Muskeln trug.
Viel zu schnell kam der Stall in Sicht. Mark drosselte das Tempo. »Das hast du toll gemacht, Kumpel.« Am Gatter lehnte eine zierliche Brünette, die ihn mit verschränkten Armen beobachtete. »Na schau mal, wer da ist«, murmelte er und Dumas freudiges Schnauben zeigte, dass auch sein Kumpel die Besucherin identifiziert hatte.
Das Mädchen wartete, bis er abgestiegen war. »Hallo, Daddy.«
Ein kalter Schauer fegte über Marks Rücken. »Ich hasse es, wenn du das sagst.«
»Ich weiß, Paps.« Sie blies eine rosa Kaugummiblase aus, bevor sie zu Dumas Kopf trat und das Pferd zärtlich begrüßte.
»Wenn du so weitermachst, bekommst du noch einen Vaterkomplex. Dir ist schon klar, dass wir nicht verwandt sind, oder, Didi?«
»Wer ist ein guter Junge?« Dumas, der Verräter, schob seinen Nase an ihre Schulter und sog den Duft des Mädchens ein. Aus ihrer Jacke zog sie einen Apfel hervor. »Warte noch, du bekommst ihn drinnen.«
»Diona?«
Erst beim Klang des verhassten Namens ließ sich Didi zu einer Antwort herab. »Vielleicht befinde ich mich ja gerade in einem Findungsprozess. Du weißt schon - viele Teenager müssen sich erst über ihre neue Position in der Familie bewusst werden.«
»Deine Mutter und ich sind jetzt aber schon recht lange getrennt, meinst du nicht?«
Gemeinsam sattelten sie Dumas ab und Didi schnappte sich die Pflegeutensilien, die Mark vor dem Ritt schon bereitgelegt hatte. »Aber du warst der beste, denn Mutter je angeschleppt hat.«
Ein wahrer Punkt. Auch wenn die Beziehung zur Frau gescheitert war, konnte er Didi nicht hinter sich lassen. »Möchtest du dich noch etwas um Dumas kümmern?«
»Darum bin ich da.«
»Ach so? Ich dachte, um mir zu verraten, was du dir zum Geburtstag wünschst. Immerhin wird man nur einmal sechzehn.«
»Dafür hätte auch eine Sprachnachricht gereicht.«
Sie war so erfrischend ehrlich. Ihre Antwort erinnerte Mark an Marlenes Mitteilung, die noch auf ihn wartete. »Reizend. Ich muss jetzt los. Sei lieb zu ihm!«
»Bin ich doch immer!« Als er zum Auto zurückging, band sie gerade ihre braunen Locken zu einem Zopf zusammen und spazierte mit Dumas über die Weide. Dabei redete sie in einem fort, während der Gaul sich darauf beschränkte, sie anzuhimmeln und mit den Ohren zu zucken. Dumas war regelrecht vernarrt in das Mädchen.
Erst im Auto zog Mark sein Handy heraus. Marlenes Nachricht stand ganz oben. Ruf an.
Als er den Motor startete, stellte Mark seine Schwester auf den Lautsprecher und harrte der Dinge, die sie auf dem Herzen haben mochte.
»Gehst du heute zu Mama?« Immer wenn sie es eilig hatte, verzichtete Marlene selbst auf die rudimentärsten Begrüßungsformeln.
»Nein, war nicht geplant. Warum?«
»Wegen des Familienbrunches?«
»Ach, heute ist auch einer?«
»Du bist echt vergesslich! So ein Mist. Jetzt muss ich Paul fragen, ob er mir die Seite mit Mamas Spezialrezepten abfotografiert.«
Mark war sich ziemlich sicher, nichts vergessen zu haben. »Warum fragst du Mama nicht selber?«
»Weil sie sagt, dass die zu schwer für mich sind.« Marlenes Stimme hatte einen ziemlich düsteren Ton.
»Womit sie nicht ganz falsch liegt.«
»Ach, Blödsinn. Es sind Kochrezepte, keine Magie. Mit ein wenig Übung werde ich das schon schaffen.«
Mark bog von der Zufahrt auf die Landstraße ab und reihte sich hinter einem Lastwagen ein. Normalerweise rief seine Mutter am Vortag immer an, wenn ein Familienbrunch bevorstand. Warum hatte sie es denn dieses mal nicht getan? »Auf der anderen Seite ...«
»Komm mir jetzt nicht mit Logik.«
Von hinten näherte sich ein roter Sportwagen. Anstatt abzubremsen, fuhr der Fahrer dicht auf und betätigte die Lichthupe. »Schwachkopf«, knurrte Mark.
Die Stille am anderen Ende hatte etwas Beängstigendes. »Was?«
»Nicht du.« Die Straße führte durch ein unübersichtliches Waldgebiet. Ohne einen genaueren Überblick zu haben, scherte der Sportwagen aus und setzte zum Überholen an. »Da klebt ein Idiot an mir, der keine Ahnung von Verkehrssicherheit hat.«
»Du fährst ja auch wie eine Oma.«
Von vorne schoss ein kleiner Polo auf sie zu. Im letzten Moment schaffte es der Sportwagen, sich vor den Lastwagen zu setzen. Mehrfaches Hupen begleiteten das Kunststück. »Nur weil ich versuche, weder mich noch andere umzubringen?«
»Nein, schon gut. Du hast ja recht.« Solche Worte aus Marlenes Mund waren überraschend zahm. Bedrückte sie etwas?
»Hat Mama eigentlich auch vergessen, dich einzuladen?«
»Nein, natürlich nicht. Mama vergisst nie etwas.«
Richtig. Also konnte es eigentlich nur einen Grund dafür geben. Es war kein Versehen. Mark verzog seinen Mund. »Wo ich dich gerade dran habe - seit unserem Gespräch letztens geht mir ein Gedanke durch den Kopf.«
»Spuck ihn aus, bevor du dir damit noch Verletzungen zufügst.«
Der Lastwagen bog ab und Mark beschleunigte. Er ignorierte Marlenes Spitze. »Warum denkst du eigentlich, dass ich die Schuld daran trage, dass ihr euch damals im Moor verlaufen habt?«
»Weil du mir die falsche Richtung gesagt hast?«
»Habe ich nicht!«
»Hast du doch!« Sie schnaubte. »Das hat man nun davon, wenn man einfach nur helfen möchte.«
»Ja, immer wird deine Uneigennützigkeit unterschätzt.« Endlich erreichte er die Stadtgrenze. An der ersten Ampel traf Mark erneut auf den roten Sportwagen. Viel eingespart hatte der Schwachkopf damit nichts.
»Weißt du, Aramis.« Den Spitznamen zog Marlene unangenehm in die Länge. »Wenn du wirklich wissen möchtest, warum Daria sauer auf dich ist, solltest du sie vielleicht einfach selber fragen, hm?«
Das klang durchaus plausibel. Zum Glück wusste er genau, wo sich Pauls Freundin jetzt aufhielt. »Möglich.« Der Sportwagen fuhr mit quietschenden Reifen los und Mark musste sich ein Grinsen verkneifen, als sich ein Polizeiwagen hinter ihn setzte und den Schwachkopf anhielt.
»Nun, ich muss Schluss machen. Ich habe noch einen Kunden.«
»Herrje, Marlene. Das kann man auch falsch verstehen!«
Ihr Lachen klang schmutzig. »Sei keine Spaßbremse, Aramis. Und übrigens ...«
»Ja?« Mark parkte sich vor dem Haus seiner Eltern ein.
»Wenn du bei Mama bist, fotografiere mir bitte das Rezept von den Käsespätzle mit dem Zwiebel-Birnen-Schmelz.«
»Was?«
Wieder kicherte sie. »Du bist viel zu einfach zu durchschauen.«
Bevor er etwas erwidern konnte, legte sie auf. So war es immer mit Marlene - für die Pläne ihrer Brüder schien sie einen sechsten Sinn zu besitzen. Wobei nicht auszuschließen war, dass sie mit einer Überwachungseinheit zusammen arbeitete. Vielleicht Drohnen?
Auf sein Klingeln öffnete sein Vater. Der zog die Augenbrauen hoch, trat aber dennoch einen Schritt zurück, um ihn einzulassen. »Mark. Schön, dass du auch da bist.«
»Lügen konntest du auch schon mal besser.«
Um die Augen seines Vaters zeigten sich Lachfältchen. »Nein, stimmt schon. Schön, dass du da bist. Jetzt kommt wenigstens Stimmung in die Bude.«
Mark klopfte ihm auf die Schulter und betrat das Wohnzimmer. Während das Gesicht seiner Mutter eindeutig ein schlechtes Gewissen ausdrückte, zog Paul eine Augenbraue hoch. Daria beschränkte sich darauf, ihn vorwurfsvoll anzustarren. Sein Vater schob einen Teller zu ihm herüber und Mark nahm gegenüber seiner einstigen Freundin Platz. »Wie schön. Endlich sind wir mal alle vereint. Guten Appetit!«
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