11

„Veränderung nur ist das Salz des Vergnügens ..."

Friedrich Schiller in: Kabale und Liebe

Die Hand des alten Mannes zitterte, als sie sanft über Arianes schwarzen Ärmel fuhr.

»Hast du dir das denn auch gut überlegt?«, krächzte er und blinzelte mit seinen wasserstoffblauen Augen, die immer ein wenig abwesend wirkten.

»Natürlich, Herr Walzmann. Ich möchte nur etwas neues dazulernen. Mein Vater wird seinen Betrieb noch eine lange Zeit selber leiten können und unterstützt mich voll und ganz. Er braucht mich im Moment nicht, jedenfalls nicht als Vollzeitkraft.«

Wie immer blieb ihr Auszubildender im Hintergrund. Wenn Julian als Schornsteinfeger Erfolg haben wollte, musste er dringend lernen, mehr aus sich herauszukommen. Kommunikationsfähigkeiten waren wesentlich wichtiger, als viele Laien glaubten.

Herr Walzmann führte sie zum Wohnzimmerfenster. Ariane kontrollierte unauffällig den Sitz von Julians Stoßbesens und der Kehrleine, die sich beide immer noch da befanden, wo sie sein sollten. Er würde seine Arbeit gut machen.

»Das ist doch kein Grund, alles hinzuschmeißen!«

Ariane kaschierte ihr Grinsen, doch die Verzweiflung des Mannes war herzerwärmend. »Ach, Herr Walzmann. Ich arbeite doch weiterhin in Teilzeit. Und ein Lehramtstudium ist jetzt auch nicht wirklich eine Katastrophe, nicht wahr?«

Der alte Mann zupfte erneut an ihrem Ärmel. »Aber du wirst dein Glück verlieren!«

Julian öffnete das Fenster und schaute auf das Dach hinaus. Über den roten Ziegeln zeichnete sich Hannovers wolkenverhangener Himmel ab. Ein Schwarm Spatzen jagte durch die Bäume.

Ariane nutzte den Moment, um ihre Hand über die zitternden Finger des alten Mannes zu legen. »Das werde ich nicht. Sie wissen doch, was es heißt? Einmal Schornsteinfeger, immer Schornsteinfeger.« Sie beugte sich vor und senkte ihre Stimme. »Die wenigsten wissen doch, dass man das Glück nicht auf seiner Kleidung, sondern im Herzen trägt.«

Ihr Lehrling kletterte bereits die Stufen hoch zum Kamin. Sie warf einen Blick hinaus und registrierte zufrieden, dass er alles umsetzte, was sie ihm beigebracht hatte. Seine Schritte wirkten wendig, aber nicht sorglos, so dass er mühelos sein Ziel erreichte. Dort versenkte er die Kehrleine, um den Schornstein vom Ruß zu befreien.

Herr Walzmann schüttelte nur den Kopf und gemeinsam beobachteten sie Julian, wie er Schritt für Schritt zu ihnen hinabstieg.

»Ich habe Kuchen gebacken«, grummelte der alte Mann, als Julian wieder im Wohnzimmer stand. »Stachelbeerkuchen.«

Julian warf ihr einen Blick zu, den Ariane mit einem Nicken beantwortete.

»Das ist schön, Herr Walzmann.« Der Kuchen war etwas dunkel, doch die Sprühsahne verdeckte die unschönen Stellen. Es stimmte Ariane traurig, dass es wohl das letzte Stück Kuchen war, dass Herr Walzmann für sie backen würde. Im Heim ließen sie die Bewohner bestimmt nicht mehr an den Ofen. »Wann ist denn Ihr Übersiedelungstermin?«

»In einem Monat.« Sein Blick glitt an ihr vorbei durch den Raum. Wahrscheinlich sah er viel mehr als nur gemütliche Möbel und ein altmodisches Ambiente. Dann schüttelte er den Kopf und schenkte Ariane ein winziges Lächeln. »Wo wirst du überhaupt wohnen?«

Julian schaufelte die letzten Krümel auf seine Kuchengabel, bevor er seinen Teller in die Spüle stellte. Unauffällig zog er den Ärmel hoch und deutete auf seine Uhr. Stimmt. Sie mussten los, wenn sie nicht zum nächsten Termin zu spät kommen wollten. »Ich bleibe zu Hause, das ist günstiger.« Herr Walzmann würde ihr fehlen.

Der alte Mann hob eine Hand. »Warte. Bitte, nur einen Augenblick. Ich habe da einen Vorschlag.«

Julian trabte bereits die Treppe nach unten, aber Ariane blieb stehen.

»Ich habe mir überlegt, ich könnte doch an dich vermieten. Von hier ist es nicht weit bis zur Universität und was die Miete angeht, können wir uns bestimmt einigen.«

Das Angebot verschlug ihr für einen Moment die Sprache. »Das geht nicht.« Doch ihr Widerspruch stieß auf taube Ohren.

»Natürlich geht das. Ich habe keine Erben. Es ist mein Haus und ich kann es vermieten, an wen ich will.« Den letzten Satz stieß er förmlich heraus.

»Aber ...«

Herr Walzmann unterbrach sie, in dem er einfach nur seinen Finger erhob. »Es ist doch nichts Schlimmes dabei, wenn du einfach Glück hast, oder?«

Ariane konnte nicht verhindern, dass ihr Blick durch das kleine Häuschen wanderte. Natürlich wäre es schön, auszuziehen und alleine zu wohnen. Aber dürfte sie ein solches Angebot annehmen?

Auf dem Weg zur Haustür durchquerten sie das Wohnzimmer und stiegen die schmale Treppe in die untere Etage hinab. Herr Walzmann bedrängte sie nicht weiter, die Treppe unbeschadet zu überstehen erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit.

Im Flur hing ein schmaler Spiegel. Ihre hellbraunen Haare steckten immer noch in einem kurzen Zopf, aber auf ihrer rechten Schläfe prangte ein Schmutzfleck. Seufzend wischte sie ihn mit ihrem Ärmel weg. Dann richtete sie ihr Leder-Kollar und fuhr über die oberste Reihe goldener Knöpfe.

Herr Walzmann winkte ihr nach, als sie sich mit Julian im Schlepptau auf den Weg zu ihrem letzten Termin machte. Ariane ertappte sich immer häufiger dabei, die Umgebung zu mustern. Es gab einen Penny-Markt in der Nähe, sogar die Eilenriede war fußläufig erreichbar. Mit dem Fahrrad würde sie nicht mehr als eine halbe Stunde zur Uni brauchen, während die Verbindung aus Burgdorf - zumindest öffentlich - nicht die beste war.

Die Kontrolle der Dunstabzugshauben im La Casa verlief ohne Auffälligkeiten. Alles war ordentlich und sauber. Ariane hatte zudem eine Schwäche für die spanische Küche.

»Steht sonst noch etwas an?«, fragte Julian, als sie das Restaurant verließen.

Ariane warf ihm die Schlüssel für ihren weißen Kastenwagen zu. »Nein. Für dich heißt es zurück. Bring den Wagen zurück zur Firma. Dann kannst du für die nächste Prüfung noch die Unterlagen durchgehen.«

Ihr Auszubildender nickte. Bevor er in das Auto stieg, zögerte er. »Und was ist mit dir?«

»Ich ziehe mich noch schnell um und fahre heim. Papa hat ein Spiel aufgenommen.«

»Viel Spaß«, erklärte Julian und winkte zum Abschied.

Ariane stieg ins Auto und machte sich auf den Weg hinaus aus Hannover. Ihr Vater wohnte ländlich und passte so gut ins Dorfleben wie ein Rocker in den Gesangsverein. Sollte man meinen. Tatsächlich hatte er sich aber erschreckend gut eingelebt.

Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte sie ihren Vater lauthals Lachen. Auf Zehenspitzen schlich sie hinein. Ihr Vater stand mit dem Rücken zu ihr in der Küche und telefonierte. Ab und zu wurde er von Gelächter förmlich durchgeschüttelt.

Ob er mit einer Frau telefonierte? Der Gedanke kam ganz spontan. Im ersten Moment wollte sie ihn von sich weisen, dann jedoch hielt sie ihn fest. Warum eigentlich nicht?

Immerhin war er ein gutaussehender Mann. Etwas wild vielleicht, aber nichtsdestotrotz charmant.

Ariane lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Ob es an ihr lag? Hielt er sich zurück, um sie zu schützen?

Ihr Vater beendete das Gespräch. Als er auflegte, öffnete Ariane die Tür und ließ sie zufallen, als ob sie gerade erst heimgekommen sei.

Sofort eilte ihr Vater aus der Küche und nahm sie zur Begrüßung in den Arm. »Hallo, Mädchen. Schön, dass du da bist. Da wartet ein Spiel auf uns und ich kenne niemanden, mit dem ich es mir lieber anschauen würde.«

Ariane drückte ihn an sich. »Gib mir nur einen Moment Zeit, ich will mich noch umziehen. Außerdem müssen wir reden.«

»Ach ja? Worüber denn?«

Manchmal musste man einfach Nägel mit Köpfen machen. »Herr Walzmann zieht ins Altersheim und hat mich gefragt, ob ich seine Wohnung haben möchte.«

Ihr Vater sah sie mit großen Augen an. »Aber das Studium hat doch bereits angefangen. Hast du nicht anderes zu tun, als umzuziehen?«

»Ach, mit ein bisschen Hilfe würde ich das bestimmt hinbekommen.«

Lachend legte ihr Vater ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir kriegen alles zusammen hin, Mädchen.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top