1.

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich. Jede unglückliche Familie ist jedoch auf ihre besondere Weise unglücklich.

Leo Tolstoi in: Anna Karenina

Daria biss sich auf die Lippe, um einen Fluch zu unterdrücken, der ihr auf der Zunge lag. Mit gerümpfter Nase las sie den Brief ein weiteres Mal. Sehr geehrte Frau Meiner, leider sehen wir uns gezwungen, das bestehende Mietverhältnis mit Ihnen über die Wohnung in der Mars-de-la-Tour- Straße 18, 30175 Hannover , [2. OG, Mietvertragsnummer 1004-10] unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfristen zum 30.09.2015, aufgrund von Eigenbedarf zu kündigen.

Mit zusammengebissenen Zähnen zerknüllte Daria den Brief und stopfte ihn in ihre Handtasche. Auch wenn sie sich im Sommer unter dem Dach immer aufheizte, liebte sie die kleine Wohnung am Congress Centrum,. Aber die Aufteilung, die Dachschrägen und das Badezimmer waren unschlagbar, ganz abgesehen vom Preis.

Die Eingangstür bewegte sich und riss Daria aus ihrer Starre. Ihr Nachbar aus dem ersten Stock schob sich hinein, nickte flüchtig und stieg die Treppenstufen hinauf. Ex-Nachbar sollte sie wohl ab jetzt sagen.

Daria stopfte den Brief in ihre Handtasche, dann stakste sie auf ihren kleinen VW Polo zu. Ihre Sicht verschwamm und hektisch blinzelte sie. Konzentriere dich. Das ist kein Weltuntergang.

Im Auto empfing sie der beruhigende Duft nach Tigerbalsam. Irgendwann war ein Döschen unter ihren Sitz gerutscht und ausgelaufen, seitdem roch ihr Auto trotz seines Alters frisch und angenehm. Mit einem Seufzer klappte sie den Fahrerspiegel runter. Ihre rotblonden Haare befanden sich immer noch im Flechtzopf, das Makeup war angemessen dezent und abgesehen von einer leichten Blässe sah sie ganz normal aus. Mit zwei Fingern drückte sie einen Punkt an ihrer Nasenwurzel und atmete tief ein. Das ätherische Aroma kitzelte sie in der Nase. Heute war ein besonderer Tag. Ihr bester Freund Paul hatte sie zur Patentante für seine hinreißende Tochter Feeke auserkoren. Um die Wohnungssituationen würde sie sich wann anders kümmern müssen. Gleich würde sie ein Baby halten und schwören, für das kleine Mädchen da zu sein. Kein guter Moment für eine Kündigung – soweit es überhaupt einen guten Moment dafür geben konnte. Die Sonne hatte von Darias schlechten Nachrichten nichts mitbekommen, sondern strahlte freundlich herab. Sie zog ihre Fliegersonnenbrille aus dem Etui und setzte sie auf.

Gerade als sie ausparken wollte, klingelte ihr Handy. Daria schaute nicht aufs Display, sondern aktivierte gleich ihre Freisprecheinrichtung.

»Hallo?« Sie schlängelte sich an den parkenden Fahrzeugen vorbei und bog am Congress Centrum ab.

»Du hast es vergessen!« Aus dem Lautsprecher tönte eine schrille Stimme, die sie unter tausenden erkannt hätte.

Mist. Beinahe hätte Daria den Bordstein gerammt. Wenn sie einmal nicht auf den Anrufer achtete, rächte es sich gleich.

»Hallo, Mama«, antwortete sie und zwang ihre Lippen zu einem Lächeln. Es hatte sich noch nie gelohnt, ihre wirklichen Gefühle zu zeigen. »Wie schön, dass du anrufst.«

»Es ist ja ein Wunder, dass du überhaupt rangegangen bist. Und das obwohl du den Todestag deines Bruders vergessen hast.«

Hatte sie nicht. Aber die Richtigstellung würde nichts bringen. Sie wollte sich auch eigentlich gar nicht an diesen einen verdammten letzten Tag erinnern. Torben fehlte ihr immer, das ganze Jahr. Er war fort, weil er eine Entscheidung getroffen hatte und sie würde einen Teufel tun, um sich nur an diesen dämlichen Fehler zu erinnern.

Leider sah ihre Mutter das anders. »Wenigstens heute hättest du zum Friedhof kommen können.«

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie gut in der Zeit lag. Wenn nichts schief lief, sollte sie die reformierte Gemeinde am Waterloopatz in den nächsten Minuten erreichen.

»Selbst dein unnützer Vater nimmt sich diesen Tag extra frei.«

Was blieb ihm auch anderes übrig, wenn er sich diese Anrufe ersparen wollte. Sie bog am Braunschweiger Platz ab. Eine kleine Flasche rollte aus der Halterung der Mittelkonsole und verschwand unter ihrem Sitz.

Ihre Mutter unterbrach ihre Tirade. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Natürlich, Mama«, murmelte sie. Mit einer Hand versuchte sie die kleine Flasche zu erreichen. Ein Poltern ertönte und ihr Auto zog nach rechts. Hatte sie etwas überfahren? »Verdammt.«

»Was?«, keifte es aus dem Lautsprecher. »Wenn ich dich schon erinnere, kannst du wenigstens die Höflichkeit besitzen, nicht zu fluchen. Oder ist das zuviel verlangt?«

Daria bremste. Alles fühlte sich falsch an. Sie schaffte es gerade noch, das Auto in eine freie Parklücke zu lenken. »Nein, Mama, ich meinte nicht dich. Irgendetwas stimmt nicht mit meinem ...«

Es klickte. Ihre Mutter hatte aufgelegt. Daria schloss die Augen und atmete tief ein. Heute schien ein schwieriger Tag zu sein.

Sie musste nicht lange suchen, um herauszufinden was passiert war. Ihr rechter Hinterreifen war platt, an der Seite steckte ein Nagel. Sie straffte ihre Schultern und zwang ihre Lippen zu einem Lächeln. In Krisen musste man positiv bleiben. Irgendwie. Wenigstens hatte sie nichts überfahren. Wenn sie ihr Auto hier stehen ließ und zu Fuß lief, könnte sie es noch schaffen. Über den Friedrichswall wäre es wahrscheinlich nur einen Kilometer. Normalerweise kein Problem, aber heute hatte sie Absätze an.

Sie musterte die roten Heels mit der breiten Schnalle. Es würde schon gehen.

Bevor sie das Auto verriegelte, schnappte sie sich ihre Handtasche und das Handy. Dann verfiel sie in einen gemütlichen Trab. Zumindest hätte er gemütlich sein können, wenn ihre Füße nicht protestiert hätten.

Bereits als sie das Denkmal der Göttinger Sieben passiert, spürte sie den Schweiß, der ihr zwischen den Schulterblättern herabran. Wenigstens hatte sie sich für ein schwarzes Kleid mit weißen Punkten entschieden. Da würde man hoffentlich keine Flecken sehen.

Als sie die Brücke über die Leine überquerte, konnte sie endlich die Kirche sehen. Es hatte sich bereits eine Gruppe vor den Türen versammelt. Sie erkannte Pauls dunklen Schopf. Die Frau mit dem dunkelbraunen Zopf an seiner Seite war mit ziemlicher Sicherheit Lisa. Beide betraten die Kirche und Daria sprintete auf den Eingang zu.

Daria erreichte die Pforten im selben Moment, als der letzte Gast ins Innere trat. Glücklicherweise schien niemand ihren Auftritt wahrgenommen zu haben.

Die kühle Luft zwischen den Bänken jagte ihr einen Schauer über den Rücken und auch der Schweiß in ihrem Nacken fühlte sich unangenehm an. Daria nahm ihre Sonnenbrille ab, doch bevor sie die Gläser in ihrer Handtasche verstauen konnte, fühlte sie die Macht eines Blickes.

Ohne es steuern zu können, verfiel ihr Herz in den nächsten Sprint. Daria blickte auf. Zwei dunkelblaue Augen unter schmalen schwarzen Brauen musterten sie. Natürlich.

Als Mark ihr einen betont unschuldigen Blick zuwarf, funkelte sie ihn an, bevor sie mit einem spöttischen Lächeln weiter zum Taufbecken schlenderte. Bei jedem Schritt verdrängte sie die aufsteigende Erinnerung. Mark, wie er vor Lachen von der Schaukel fiel. Mark, der sie mit Schneebällen verfolgte. Ein nasser Mark, der gerade sein Windsurfboard aus dem Wasser zog. Immer nur Mark. Und seine Lippen, die sich auf ihre legten. Vor so langer Zeit.

Schließlich erreichte sie Paul und Lisa. Ihr bester Freund zog nur eine Augenbraue hoch, was sie mit zuckenden Schultern kommentierte. Sie war pünktlich, das musste genügen.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Eine Frau mit einem freundlichen Lächeln ergriff das Wort. Richtig, die Zeremonie wurde von einer Pastorin geleitet.

Obwohl sich Daria Mühe gab, dem Ablauf zu folgen, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Erst als sie die süße kleine Feeke in den Händen hielt, vergaß sie für einen Moment ihre Sorgen. Das Baby starrte sie aus großen Augen an. Dann griff es nach Darias Kette und steckte sich den Anhänger in den Mund. Prima.

»Komm, spucks aus. Das ist kein Beißring«, flüsterte Daria, doch Feeke kaute unbeeindruckt auf dem Bernsteinkreis herum. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass die anderen den Worten der Pastorin folgte. »Na los, wenn du brav bist, kauf ich dir deine erste Fechtausstattung wenn du groß bist. Und glaub mir, die ist nicht billig.« Der Anhänger flutschte aus dem Mund des Babys, als die Kleine ihr ein Lächeln schenkte. Es hatte funktioniert. Glücklicherweise hatte sie noch ein paar Jahre, um dieses Versprechen auch finanzieren zu können.

Der Rest der Zeremonie verging ohne Zwischenfälle. Daria sagte an der richtigen Stelle ja und gab sich Mühe, die ganze Zeit unbeschwert zu wirken.

Schließlich nahm ihr der stolze Papa das Baby ab, drückte Daria fest an sich und führte sie dann nach draußen.

»Wir würden uns freuen, wenn ihr uns im Pfannkuchenhaus Hannover Gesellschaft leisten würdet«, erklärte Lisa, als die Gäste sich vor der Kirche versammelten.

Natürlich, dass Pfannkuchenhaus. Sie war mit Pauls Familie in ihrer Kindheit immer wieder hier gelandet, wenn sich die Jungs mal wieder auf nichts einigen konnten.

Eine sanfte Brise blies an ihrem Hals entlang, brachte aber mehr Hitze als wirkliche Abkühlung.

Paul zwinkerte Daria zu. Sie hob zwei Daumen und gratulierte ihm wortlos zur Wahl des Restaurants.

Der Pulk setzte sich in Bewegung. Gerade als sich Daria anschließen wollte, richteten sich ihre Nackenhaare auf. Aus den Augenwinkeln sah sie eine dunkelblaue Anzughose, deren Besitzer zu ihr aufschloß.

Sie schnaubte verächtlich und beschleunigte ihre Schritte, um ihm ihren Rücken zu zeigen.

Die Wut ballte ihre Hände zu Fäusten und Daria spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen bohrten. Ihr elender innerer Kompass war auf Mark geeicht. Sobald sie ihm zu nahe kam, fühlte sie es. Jedes verdammte Mal.

Daria überholte Pauls Mutter und wollte gerade an Noah vorbei stürmen, als eine ältere Frau in ihren Weg trat.

»Daria Meiner, wie schön Sie zu sehen. Ein wunderschöner Tag heute, nicht wahr?«, flötete die Dame. Ihre stahlgrauen Augen durchbohrten Daria regelrecht.

»Richtig«, murmelte Daria. Angestrengt durchforstete sie ihr Gedächtnis nach dem Namen der Frau. Gertrud? Sie hatte Lisas Großmutter bisher nur auf Pauls Hochzeit gesehen, eine zierliche Frau mit silbernen Locken.

»Trude Allermann. Wir haben uns getroffen, als mein Lieschen Ihren Paul geheiratet hat.«

»Er ist jetzt nicht wirklich mein Paul.«

Frau Allermann winkte mit einer Hand ab. »Papperlapapp. Paul gehört zu Ihrer Familie. Zumindest zu der, die sie sich gesucht haben.«

Die Worte der alten Dame machten Sinn. Irgendwie war ihr Paul vertrauter als ihre eigenen Eltern.

Lisas Großmutter beschleunigte ihre Schritte, bis sie nebeneinander gingen die Straße entlang eilten. »So viele Gäste. Ich mag ja Hochzeiten. Aber Taufen sogar noch ein kleines bisschen mehr.«

»Ich bin eigentlich nicht so der formelle Typ«, entgegnete Daria. Hauptsächlich, weil die Kleidung unbequem war.

»Das kommt mit dem Alter, glauben Sie mir. Irgendwann ist man froh, wenn man etwas Abwechslung zwischen den ganzen Beerdigungen hat.«

Das klang traurigerweise plausibel.

»Wenn Sie dem jungen Mann weiter aus dem Weg gehen wollen, können Sie sich übrigens gerne bei mir verstecken.«

»Was?«

Doch statt zu antworten hakte sich die alte Dame bei Daria unter und zog sie weiter mit sich.

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