Verwirrende Spuren
Fürs erste führe ich die Befragung fort. Langsam komme ich mir vor wie ein professioneller Ermittler. Oder besser wie ein unbedarfter Jugendlicher, der Detektiv spielt. Aber wenn es kein anderer tut, muss eben ich es machen.
Ich erkundige mich bei der Bäckerin: „Hat Isovre dir gesagt, wo sie hingehen will, bevor sie zu Chellen kommt?"
Kordis schüttelt den Kopf.
„Dann wiederhol mir bitte, was du ihr gesagt hast."
„Das habe ich doch schon?"
„Nein, du hast mir berichtet, worüber du mit ihr gesprochen hast. Ich brauche aber die Informationen, die du ihr gegeben hast."
„Ach so – also was Chellen am Abend zuvor getan hat?"
„Genau. Nach Möglichkeit wortwörtlich. Etwas, was du gesagt hast, muss sie auf die Spur gebracht haben."
Kordis überlegt. Klar, es ist ja jetzt einige Tage voller Sorge und Angst her. Ich hoffe nur, dass sie sich an alles erinnert.
„Chellen hat mir bis zum Mittag im Laden geholfen und dann die fälligen Lieferungen vorbereitet. Zwischendurch kamen Dalmy und Ronemun vorbei und wollten wissen, ob er am Abend mit ihnen in den ‚Roten Löwen' zum Kugelstoßen geht. Er meinte ja, aber später am Abend, weil er noch etwas vorhätte. Das gleiche sagte er mir auch, als er zu seiner letzten Runde aufbrach und wir sollten nicht auf ihn warten. Ich gab ihm noch zwei Nussbrote mit für seine Freunde."
„Dalmy und Ronemun sind seine Freunde?" Ich kenne das nicht aus eigener Erfahrung, habe aber die anderen Lehrlinge schon davon reden gehört, dass sie abends manchmal mit Freunden in Schenken oder Spielhäuser gehen, um Spaß zu haben.
Fult bestätigt das. „Dalmy lernt gerade bei seinem Vater das Schusterhandwerk, Ronemun ist Tagelöhner." Er nennt mir die Adressen der beiden.
Kordis fährt fort: „Ich habe mir also keine Sorgen gemacht, als er nicht zum Abendessen kam. Aber kurz nach Mitternacht klopfte es an unserer Tür. Die Leibwache der Ratsherren hatte Chellen bewusstlos und sich in Krämpfen windend auf der Straße gefunden. Auf der Ulmenallee, etwa hundert Meter vom Weg des kleinen Widerstands entfernt in Richtung Westen."
„War das auf dem Weg, den er zu gehen hätte, um seine Ware abzugeben?"
„Es war nicht weit davon weg. Ratsherr Brochnan bekommt jede Woche ein Körnerbrot, einen Obstkuchen und fünf Kräuterbrötchen. Er wohnt im Weg des großen Widerstands, der ja parallel zum Weg des kleinen Widerstands verläuft."
„Hm." Der Weg des kleinen Widerstands ist sowohl von der Bäckerei als auch von den Schenken und Spielhäusern der Menschen weiter weg als die Parallelstraße und Chellen wurde in entgegengesetzter Richtung gefunden; mir erschließt sich nicht, warum Chellen einen solchen Umweg auf sich genommen hat. Es sei denn, er wollte jemanden abholen. „Hat er eine Freundin oder einen Freund?" Da ich nicht weiß, ob Chellen Frauen oder Männer bevorzugt, stelle ich die Frage lieber so, dass die Bäckersleute sie hoffentlich richtig verstehen.
„Nicht, dass ich wüsste", erwidert Fult. Kordis meint nachdenklich: „Gesagt hat er nichts. Aber ich habe seit einiger Zeit den Eindruck, dass da jemand ist, er es aber noch nicht an der Zeit fand, uns davon zu erzählen."
„Warum hätte er uns verschweigen sollen, wenn er jemanden gefunden hat, mit dem er zusammen sein will?", fragt Fult verwundert und nimmt mir die Frage aus dem Mund. Es erleichtert mich, dass ich meine Unkenntnis bezüglich persönlicher Beziehungen nicht zur Schau stellen muss.
Kordis lächelt schwach und wischt Chellen erneut den Schweiß von der kalten Stirn. „Vielleicht weil es noch zu frisch ist und er sich noch nicht sicher ist. Oder er fürchtet, uns könnte seine Auserwählte oder sein Auserwählter nicht recht sein."
Fult zuckt die Achseln. „Mit wem Chellen zusammen sein möchte, entscheidet er. Und wenn es jemand ist, der ihn mag und ihm guttut, dann rede ich da sicher nicht rein."
In diesem Moment fuchtelt Chellen wieder mit den Armen herum und schlägt Kordis das Tuch aus der Hand. Mir fallen keine weiteren Fragen mehr ein, also stehe ich auf. „Vielleicht erfahre ich von seinen Freunden etwas mehr darüber. Danke für eure Hilfe, ich werde über alles nachdenken, was ihr mit mitgeteilt habt."
„Wir haben dir zu danken", stellt Meister Fult klar, als er mich die Treppe hinunterbegleitet. „Ich habe jetzt etwas mehr Hoffnung, dass es Chellen bald besser geht." Er tritt mit mir aus dem Haus und hält die Tür für Margoli und Kandreo auf, die während des Gesprächs eigenartig still gewesen sind. Aber auch wenn sie Schnabel und Schnäuzchen geschlossen gehalten haben, bin ich mir sicher, dass ihre Ohren und Augen umso weiter geöffnet gewesen sind.
„Ich werde Sarode sofort aufsuchen. Glaubst du, Chellen hat das gleiche geschluckt wie dein Kamerad?"
Wieder einmal antworte ich mit einer Gegenfrage: „Hat Chellen nach irgendetwas gerochen, als er gebracht wurde?" Es ist einige Tage her; wenn ich direkt nach dem Geruch frage, der mich interessiert, werde ich Fult damit nur beeinflussen.
„Chellen riecht immer nach etwas. Er hat die Angewohnheit, auf Blättern und Körnern herum zu kauen. Mal verströmt er Nelkenduft, dann wieder riecht er nach Minze, Sauerampfer, Anis oder Dill. Was halt gerade reif ist und ihm unter die Finger kommt."
„Und wonach roch er in dieser Nacht?"
„Ich glaube, nach Rosmarin – oder doch eher Thymian? Ja, ich glaube, Thymian wars."
„Sag das unbedingt Sarode", empfehle ich ihm. Und empfehle mich dann selbst. Ich habe noch einige Leute aufzusuchen.
„Natürlich helfe ich dir, wenn ich kann", versichert mir Dalmy und lässt das Leder im Stich, welches er gerade zuschneiden wollte. Einen unsicheren Blick sendet er dann aber doch in Richtung Schuster, der verbissen an einem halbfertigen Schuh zerrt, der nicht so recht über den Leisten will.
„Vater? Es dauert sicher nicht lange!"
„In Ordnung", knurrt der Schuster an den kleinen Nägeln vorbei, die er zwischen den Lippen hält. „Geh nur!" Der Schuh gibt jetzt endlich nach und spannt sich über den Leisten, woraufhin der Schuster einen der Nägel aus dem Mund nimmt und damit beginnt, die Außensohle auf die Brandsohlen zu nageln.
Dalmy zieht mich in einen Raum voller Lederrollen, Kisten mit Nägeln und Leimkrügen, der wohl als Lager gedacht ist. „Du kannst mir jetzt deine Fragen stellen. Und danke, dass du dich bemühst, Chellen zu helfen. Ronemun und ich haben uns in unserer Freizeit auch schon umgehört, aber wir hatten keinen Erfolg. Niemand kann uns sagen, was Chellen geschluckt haben kann oder wer ihm das Zeug überhaupt gegeben hat."
„Was er zu sich genommen hat, dürfte schon geklärt sein. Mein Arbeitskamerad hat das gleiche Zeug bekommen und Sarode hat herausbekommen, was es war."
Dalmy atmet erleichtert auf. „Das ist gut. Chellen ist ein wirklich guter Freund und ich würde ihn sehr vermissen. Du musst wissen, Navlin, Chellen ist ein besonderer Mensch. Es gibt nicht viele hier, die sich mit einem Schusterjungen und einem Tagelöhner abgeben würden, schon gar nicht ein Bäckerlehrling, der die beste Bäckerei der Stadt erben wird. Aber Chellen macht da keinen Unterschied; er achtet auf die Person und nicht auf den Rang."
Das mache ich eigentlich auch so. Aber bei mir ist das was anderes, weil ohnehin alle über mir stehen.
„Er hat das wohl von Fult und Kordis", überlege ich. „Fult scheint nichts gegen eure Freundschaft zu haben."
„Hat er auch nicht", versichert mir Dalmy und weist auf eine Kiste. „Setz dich doch, dann muss ich nicht so zu dir aufsehen. Wir haben hier keine Stühle, aber die Kisten sind auch halbwegs bequem. In der Mittagspause spielen Vater und ich manchmal Karten hier. Wenn Chellen in der Nähe ausliefert, kommt er auch oft dazu."
Jetzt verstehe ich, warum drei kleinere Kisten um eine größere herum aufgebaut sind. „Wäre das nicht in der Küche gemütlicher?"
Dalmy lacht. „Ja, aber Mutter hält Karten für Teufelszeug, dabei spielen wir gar nicht um Geld, sondern nur um des Vergnügens willen. Da haben wir uns eben hier eingerichtet."
„Macht das denn Spaß?" Vielleicht sollte ich auch mal einige Kartenspiele lernen.
„Klar, darum machen wir es ja." Dalmy setzt sich mir gegenüber. „Ich kann dir leider nicht viel erzählen. Wir wollten uns im ‚Roten Löwen' treffen und Ronemun und ich hatten uns bereits einen der Spieltische gesichert und warteten nur noch auf Chellen. Er hat gesagt, er kommt später und wir wussten beide, dass er sich vorher noch mit seiner Freundin treffen wollte."
„Er hat also eine? Fult und Kordis waren sich nicht sicher."
„Ja, hat er und er hängt auch sehr an ihr."
„Kennst du sie?"
„Leider nein. Chellen hat Angst, dass es rauskommt, dass sie zusammen sind und sie glaube ich auch."
„Warum denn das?"
Dalmy zuckt die Achseln. „Das frage ich mich auch. Chellen hat nur einmal gesagt, dass er Fult und Kordis vorsichtig vorbereiten muss, damit sie seine Freundin akzeptieren."
„Ich hatte den Eindruck, dass die beiden da wenig Vorurteile haben."
„Ja, deshalb wundert es mich auch. Ich meine, Ronemun ist ein Tagelöhner, der oft nicht weiß, ob er sich am nächsten Tag ein Brot leisten kann und Fult hat ihm gesagt, dass Ronemun an den Tagen, an denen er nicht angeheuert wird, zu ihm kommen soll. Er hat ihm sogar angeboten, ihn als Lehrling anzunehmen, wenn Chellen ausgelernt hat. Die meisten Handwerker sehen einen Tagelöhner nicht einmal an. Und trotzdem glaubt Chellen, dass Fult etwas gegen seine Freundin haben kann. Ich glaube, Fult und Kordis würde es nicht einmal stören, wenn sie eine Dirne wäre; sie würden nur fragen, ob sie ihr helfen können. Ich meine, welches Mädchen wird schon freiwillig Dirne!"
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man sich anderen auf diese Art anbietet, wenn einen nicht die Geldnot dazu bringt. Bei Tayhat hat das sicher eine Rolle gespielt. Aber bei Chellen muss das anders gewesen sein.
„Hat Chellen Geldprobleme?"
Dalmy sieht mich verblüfft an. „Aber überhaupt nicht! Er bekommt ja seinen Lehrlingslohn und wenn der nicht ausreichen sollte, steckt ihm Fult jederzeit etwas zu. Als wir mittags fragten, ob Chellen mit uns zum Kugelstoßen geht, hat Fult gleich gefragt, ob wir genug Geld für die Tischmiete haben oder ob er uns etwas dazugeben soll."
Also hatte Chellen keinen Grund, dieses Rudlizi-Zeug zu sich zu nehmen. Und doch hat er es getan. Ich habe das Gefühl, dass das warum noch sehr wichtig werden wird.
„Du hast noch nicht genug auf den Dez bekommen?", meckert Kandreo, als ich mich erneut auf den Weg in die Ulmenallee mache. „Oder wieso sonst willste dich nochmal mit den Fabelwachen anlegen? Meinste echt, die verraten dir was?"
„Ich bin ein Hund. Ich verfolge jede Spur, die halbwegs interessant riecht", erkläre ich den Famuli. „Und über das Mädchen aus der Mondscheinschenke wissen die Fabelwachen sicher am besten Bescheid."
„Ja, aber die sagen dir ganz bestimmt nichts!"
„Wir werden sehen", erwidere ich gelassener als ich mich fühle.
Margoli schnattert. „Wahrlich weise mag der sein, der weiß, was unmöglich ist, bevor er es versucht hat. Aber wer es trotzdem probiert, schafft auch das Unmögliche."
Ich fange an zu lachen. „Das hast du von Isovre, nicht wahr? Das klingt ganz nach ihr."
Die Katze maunzt bestätigend.
„Da hat sie aber auch recht." Nach dem Motto bin ich auch immer vorgegangen. Und das führe ich auch jetzt fort, als ich die Wachen am Tor der Ulmenläufer nach Hauptwachtmeister Zawei frage.
Zu meiner Überraschung kommt sofort die Gegenfrage: „Bist du Navlin?" Und als ich nicke: „Komm mit. Der Hauptwachtmeister hat Anweisung gegeben, dich sofort vorzulassen, wenn du kommen solltest."
Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet und ich bedanke mich bei Zawei auch dafür, als ich in sein Arbeitszimmer geführt werde. Der Dschinn winkt allerdings nur ab. „Es wäre ja wohl lächerlich, sollte ich den Mann vor der Tür stehen lassen, der gerade unsere Arbeit für uns erledigt."
Ich registriere mit Verwunderung, dass ich offenbar von „Jungen" zum „Mann" befördert worden bin. Ich meine, ich bin nach wie vor erst sechzehn und damit noch jugendlich und nach Ansicht so einiger Leute nicht ernst zu nehmen. Zumal ich ja nur ein Höllenhund bin. Mir wird bewusst, dass mich in letzter Zeit immer mehr Personen mit mehr Respekt behandeln als ich jemals erfahren habe. Das ist ungewohnt, aber es gefällt mir. Hoffentlich bleibt das so.
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