Keep calm and move on
Keep calm and move on. Ruhe bewahren und weitermachen. Das war es, was ich mir selber zusprach, bevor ich mich in Richtung der Übersichtstafel machte. Schon seit längerem gab es einige Städte, die ich super gerne mal sehen wollte. Gestern Abend überschlug ich wieder ein paar dieser Ideen in meinem Kopf. Ich hatte mir fest vorgenommen mir keine festen Pläne zu machen. Ich wollte es auf mich zukommen lassen und nach Lust und Laune entscheiden können. Vor dieser riesigen Tafel mit leuchtenden Buchstaben, die die Reisenden über die Ziele der verschiedenen Züge aufklärten, überkam mich erneut die Überforderung. Wieso hatte ich mir gestern Abend nicht kurz die Zeit genommen, anstatt stundenlang mit Rafael zu telefonieren? Innerlich stöhnte ich auf. Egal. Keep calm and move on.
Ein paar Meter neben mir sah ich ein Mädchen stehen, die ähnlich alt alt aussieht wie ich. Sie checkte, ob die Daten auf ihrem Handy mit den Abfahrtzeiten auf der Übersichtstafel übereinstimmen. Ihre gelockten roten Haare wehten leicht im Wind. Ihr Gesicht war von kleinen roten Sommersprossen überzogen. Alles an ihrer Erscheinung inspirierte mich. Sie wirkte so ausgelassen und so eigenständig. Auch sie hatte ihr eigenes Gepäck dabei. Im Gegensatz zu mir hatte sie sich allerdings für einen Rucksack entschieden. Nicht für einen modischen kleinen Rucksack, nein. Auf ihre Schultern war ein richtiger Backpacking Rucksack geschnallt. Scheinbar bemerkte sie meine Blicke, denn sie schaute auf einmal etwas erwartungsvoll zu mir rüber. „Na, wo gehts für dich hin?", fragte sie mich locker. Kurz schluckte ich. Eine Fremde hatte mich einfach so angesprochen und dazu noch geduzt. Ich schätze so läuft das in der großen weiten Welt. „Ähm, ich weiß noch nicht genau.", antwortete ich. Dazu lachte ich leicht histärisch, um meine Unsicherheit zu verdecken. Sie schmunzelt. „Ich nehme heute einen Zug nach Amsterdam. Abfahrt ist in zwanzig Minuten. Wenn du Lust hast, kannst du gerne mitkommen. Ich freue mich immer über nette Reisebegleitungen.", schlug sie mir zwinkernd vor. Ich war erneut überrascht, aber freute mich auch total über die Einladung. „Amsterdam klingt gut. Ich glaub, ich bin dabei.", sagte ich euphorisch. „Cool, wir müssen zu Gleis fünf. Wie heißt du eigentlich?", fragte die rothaarige mich. Stimmt, ich hatte mich ja noch gar nicht vorgestellt. „Ich bin Dalia von, einfach nur Dalia", schnell hatte ich mich verbessert. Die Gewohnheit mich direkt mit meinem vollen Namen vorzustellen musste ich mir mehr als dringend abgewöhnen. „Und wie heißt du?", gab ich zurück. „Ich bin Loretta.", stellte sie sich vor. Gemeinsam gingen wir los.
„Der Zug auf Gleis fünf nach Amsterdam ist bereit zur Abfahrt. Bitte treten sie weg von den Gleisen.", hörten wir den Bahnhofssprecher verkünden. Zum Glück hatten wir es noch rechtzeitig zum Zug geschafft und konnten sogar zu zweit einen Vierer Sitzplatz ergattern. „Wieso willst du eigentlich ausgerechnet nach Amsterdam?", fragte ich Loretta. „Naja, ich denke das ist ja relativ klar bei Leuten in unserem Alter.", gibt Loretta augenzwinkernd zurück. „Was meinst du?", frage ich ehrlich ahnungslos zurück. „Naja, Amsterdam... Gras und so... Da ist ja vieles von dem Zeug legal.", erklärte Loretta mir. Mit der Antwort hatte ich nicht gerechnet. Allgemein hatte ich in meinem bisherigen Leben noch keinen Kontakt mit Drogen und Ähnlichem. Aber dafür bin ich schließlich auf dieser Reise. Um eben genau sowas zu ändern. „Wie muss ich mir das vorstellen? Spritzt du dir das? Dealst du selber?", frage ich sie mit gesenkter Stimme. Loretta lacht laut los. Sie hatte einen unfassbar schöne Stimme und auch ihr Lachen ist glockenhell und total fröhlich. „Nein, wo denkst du hin. Du musst dir das mehr so vorstellen wie Kekse oder Brownies, wo das Pulver beim Backen hinzugefügt wurde. Und die kannst du dann dort legal kaufen.", erzählte sie. Ich hörte ihr gespannt zu und stellte ihr noch ein paar weitere Fragen, die mir plötzlich zu dem Thema auf der Seele brannten. Loretta erklärte mir alles geduldig. Meine Vorurteile den Drogen gegenüber schrumpften Minute für Minute und ich begann nach selber darüber nachzudenken, meinen ersten Trip zu starten, wenn wir in Amsterdam sind.
Nach einer Weile begann Loretta Musik zu hören und ich schloss mich dem an. Es entspannte mich, die Welt vor der Fensterscheibe an uns vorbeirauschen zu sehen. Nach ein paar Stunden spürte ich, wie mich jemand an den Schultern rüttelte. „Aufwachen Dalia, wir sind gleich da", hörte ich Lorettas Stimme. Ich schreckte hoch. Ich musste scheinbar eingeschlafen sein. Eilig schnappten wir uns unser Gepäck und gingen in Richtung der Türen. „Amsterdam Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.", hörte man es aus dem Lautsprecher. Draußen wehte mir direkt eine frische Brise um die Nase. Relativ planlos bleib ich erstmal neben Loretta auf dem Bahnsteig stehen. „Jonas! Jonas! Hier drüben!", fing Loretta auf einmal an hektisch zu schreien. Sie winkte einem Jungen Mann zu. Er bemerkte sie und lief los auf uns zu. Loretta stellte ihren Rucksack auf den Boden und rannte ebenfalls auf den Typ zu. Sie umarmten sich stürmisch und Loretta quietschte vor Freude. Gemeinsam mit dem Typen kam sie nach ein paar Minuten zu mir und dem Rucksack zurück. „Dalia, das hier ist Jonas, mein Freund. Jonas, das ist Dalia meine Reisebekanntschaft. Ich hab sie am Berliner Hauptbahnhof aufgegabelt.", stellte Loretta mich vor. Ich musterte Jonas kurz. Optisch passte er gut zu Loretta. Auch hat hellblonde Haare und einen lässigen Stil. Ein paar Locken hängen ihm ins Gesicht, aber es sieht so aus, als ob es genau so soll.
„Dalia, sag mal. Weißt du eigentlich schon, wo du übernachtest?", fragte Loretta mich. Gute Frage, darüber hatte ich mir nämlich noch keine Gedanken gemacht. „Puh, ne. Ich schätze, ich gucke ob ich ein freies Air BnB hier in der Nähe finde.", antworte ich. Mittlerweile war es schon 18 Uhr. Wahrscheinlich werde ich mir zumindest für die erste Nacht ein Hotelzimmer nehmen müssen. Schlecht für meinen Geldbeutel. „Wenn du willst kannst du bei uns wohnen, ich und mein Mitbewohner haben ein Gästezimmer in unserer WG und wenn Loretta mit bei mir schläft, hättest du das Zimmer für dich.", bot Jonas mir an. „Das wär super toll, wenn das geht. Natürlich nur, wenn euch das keine zu großen Umstände bereitet.", sagte ich dankbar. „Ach Quatsch, wir haben gerne Besuch da. Je mehr desto lustiger.", sagte Jonas herzlich. Gemeinsam gingen wir in Richtung Straßenbahnen.
Als Stadtkind bin ich den Trubel einer Großstadt zwar gewöhnt, das ganze Geschehen in den Straßen Amsterdams zu beobachten war trotzdem spannend. Anders als in Berlin herrschte hier eine fröhlichere, gemütlichere Atmosphäre. Das lang bestimmt auch an den süßen Häusern, Brücken und der lustigen Sprache in der sich alle Menschen hier unterhielten, wenn sie nicht gerade auf ihrem Hollandrad durch die Stadt fahren. Mittlerweile stand die Sonne schon tiefer. Jonas führte uns durch einige kleinere Gassen, bis er schließlich seinen Schlüssel zückte und die Tür eines Etagenhauses für uns aufschloss. Er winkte uns herein und wir stapften zwei Stockwerke hoch, bis wird endlich vor der Haustür standen. Ich merkte meine Arme von dem Hochtragen meines Koffers. Jonas hatte mir zwar seine Hilfe angeboten, aber das schaffte ich schon alleine.
Die Wohnung war von innen zwar sehr spartanisch eingerichtet, aber ich fühlte mich trotzdem direkt wohl. „Da drüben ist das Gästezimmer.", er zeigte auf die Tür am Ende des Flurs links. „Das Bett ist frisch bezogen. Fühl dich ganz wie zuhause. Mein Mitbewohner Milan ist heute Abend mit Freunden feiern. Der kommt mit Sicherheit nicht vor zwei Uhr zurück.", erklärte Jonas mir. Ich nickte und bedankte mich nochmal dafür, dass sie mich aufnahmen. Mit meinem Koffer im Schlepptau ging ich in Richtung des Gästezimmers. Ich öffnete die Tür und blickte in ein kleines, aber sehr helles Zimmer. Gegenüber der Tür war ein großes Fenster, vor dem ein Doppelbett stand. Links an der Wand war eine Kommode und rechts an der Wand befand sich ein Kleiderschrank. Alles was man braucht eben. Nachdem ich das Zimmer kurz begutachtet hatte, begann ich meine Klamotten teilweise in den Kleiderschrank zu räumen. Ich ließ mir von Loretta das Bad und die restlichen Zimmer zeigen und das WLAN Passwort geben. „Boah, ich hab so einen Hunger.", stöhnte Loretta auf. „Ich auch. Wollen wir Pizza bestellen?", schlug ich vor. Loretta und Jonas nickten begeistert und Jonas suchte den Flyer von ihrem Stammpizzaboten raus. Keine dreißig Minuten später war das Essen da. Wir setzten uns auf die große Couch im Wohnzimmer und verschlangen unsere Pizzen. Loretta und Jonas erzählten mir, wo sie sich kennengelernt hatten, auch einer Party von einem gemeinsamen Freund, und von ihren Zukunftsplänen.
Gegen 22 Uhr legte ich mich ins Bett und schrieb Rafael eine Nachricht, dass ich gut angekommen bin. Ich berichtete ihm kurz vom heutigen Tag und er antwortete, dass er jetzt auch Fernweh habe. Ziemlich schnell schlief ich ein. Am nächsten Morgen wachte ich gegen neun Uhr auf. Die Sonne strahlte in mein Zimmer. Ich ging in Richtung des Badezimmers, um erstmal zu Duschen und meine Haare zu waschen. Ich drückte die Klinke runter und erschrak. Einen Meter vor mir in der von Glas umrandeten Dusche stand ein nackter Fremder Mann. Alles ist gut Dalia, Keep Calm and move on.
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