8. Kapitel

„Seid ihr jetzt zusammen?", flötete schon wieder die helle Stimme in mein Ohr, während ich versuchte zu überlegen, wie es mit Robin weiter gehen sollte. Bis auf die kurze Nachricht hatte ich nichts mehr von ihm gehört, offenbar hatte er keine Lust mehr auf mich oder ihn hatte der Kuss tatsächlich vollkommen verstört.

Mein kleiner Bruder hatte seit dem Abendessen gestern offenbar nichts anderes mehr im Kopf, sodass er seine gesamte Zeit damit zubrachte mich darüber auszufragen, was da zwischen Alec und mir lief. Er konzentrierte sich so sehr auf die Tatsache, dass er uns alleine im Flur aufgefunden hatte, dass er nicht einmal merkte, wie absurd der Gedanke eigentlich war. Ich mochte Alec nicht und Alec konnte mich genauso wenig leiden, wie um alles in der Welt sollten wir also zusammen sein können?! Wir waren ja nicht einmal befreundet! Und wenn Elias endlich einmal seinen Verstand einsetzen würde, würde er das auch sehen.

„Hör endlich auf.", versuchte ich zum wiederholten Male seine nervigen Vermutungen abzustellen, doch wenn Elias sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann blieb er für gewöhnlich eine ziemlich lange Zeit dabei. Meine Nerven waren bereits jetzt zum reißen gespannt.

„Ihr kommt heute beide mit ins Krankenhaus, okay? Ich beeile mich auch und dann unternehmen wir den Nachmittag etwas zusammen.", fragte Papa uns an diesem Morgen, als wir ausnahmsweise einmal alle zusammen Frühstückten. Ich kam nicht drum herum ihn fragend anzusehen, schließlich war mir wirklich nicht danach, meinen Sonntag unter kranken Menschen zu verbringen und darauf zu warten, dass Papa alle von ihnen versorgt hatte.

„Wieso?", fragte Elias, auch er war ziemlich skeptisch. Paps biss sich beinahe unmerklich auf die Unterlippe, diese Geste tat er nur, wenn er uns etwas verschwieg. Was war los? Wieso redeten sie beide nicht einfach Klartext? Eine ungute Vermutung schlich sich in meine Gedanken, ich verscheuchte sie jedoch sofort wieder.

Da Paps keine Anstalten machte, die suspekte Situation aufzuklären, nahm Papa seine Worte wieder auf: „Ich habe es nicht geschafft mir frei zu nehmen und Christopher muss heute Nachmittag etwas dringendes erledigen." Und? Ich verstand nicht, wieso wir nicht zuhause bleiben konnten. Warum mussten wir unbedingt mit ins Krankenhaus? Als ich kleiner war, kam es öfters vor, dass Papa mich und Lucas mitgenommen hatte, doch jetzt war ich eindeutig alt genug – ich war beinahe volljährig!

Damals war es in der Zeit, als meine Väter das dritte Kind, Elias, adoptiert hatten, er war damals gerade einmal drei Jahre alt und in seiner Entwicklung viel weiter zurück, als es eigentlich der Fall sein sollte – das nahm die komplette Aufmerksamkeit unserer Väter in Anspruch und Lucas und ich mussten uns selbst beschäftigen. Wir waren damals etwa Neun oder Zehn und fanden es unheimlich cool ein Krankenhaus von innen zu sehen, ohne krank zu sein – zumindest nachdem wir herausgefunden hatten, was man so alles erleben konnte. Ich erinnerte mich noch genau den ersten Tag, an dem es uns nicht mehr reichte, im Pausenraum der Ärzte zu warten und uns mit langweiligen Spielen die Zeit zu vertreiben:

„Ich habe keine Lust mehr!", rief Lucas aus, was ich schon seit einer geschlagenen Stunde dachte. „Das ist doch blöd, wieso können wir nicht einfach zuhause bleiben?!" Wir waren direkt nach der Schule hergekommen und hätten eigentlich unsere Hausaufgaben machen müssen, doch diese Idee hatten sowohl Lucas, als auch Ich ziemlich schnell verworfen.

„Du weißt doch, dass Elias einfach noch ein bisschen Zeit braucht.", versuchte ich meinen Bruder zu beruhigen. Ich konnte sehen, dass ihm die Situation nicht gefiel, doch wir hatten beide zugestimmt, noch einen Bruder zu bekommen, also versuchte ich seinen Gemütszustand weitgehend zu beruhigen. Lucas fing zwar an zu Lächeln, doch ich war mir sicher, dass es nicht an meinen Worten lag.

„Was für eine Idee hast du?", fragte ich daher vorsichtig. Immer wenn Lucas diesen verrückten Blick aufsetzte, der seine grünen Augen zum strahlen brachte, dann konnte das nichts Gutes bedeuten – ich war jedoch zu vielem bereit um der Langeweile auszuweichen.

„Wir sind hier doch nicht eingesperrt! Komm mit, wir sehen uns mal ein bisschen um." Er ließ mir keine Zeit die Vernünftige zu spielen, denn kaum schaute einer der Ärzte, der sich gerade einen Kaffee einschenkte, nicht hin, huschte mein impulsiver Bruder aus dem Raum – und ich konnte natürlich nicht anders, als ihm zu folgen.

„Das ist doch verrückt!", murmelte ich, als wir uns auf den Weg in die große Cafeteria wagten. Lucas hatte mir seinen Plan erklärt und ich musste zugeben, dass er ziemlich genial war, jedoch hatte ich ein kleines bisschen Angst, dass wir auffliegen würden. Doch trotzdem - das Krankenhaus wirkte schon jetzt wesentlich cooler, als in den letzten Tagen zusammen.

Wir betraten beide die Cafeteria, die um diese Zeit ziemlich voll war und ließen die Show beginnen. Lucas liebte große Auftritte, daher störte es ihn reichlich wenig, einfach mal auf einen der letzten freien Tische zu klettern und seine Stimme so laut zu erheben, dass jeder ihn hören konnte: „Schönen Guten Tag, meine Damen und Herren!", rief er und streckte zur Verstärkung beide Arme aus. Ich stand unauffällig an der Wand und beobachtete die Menschen an ihren Tischen ganz genau. Es stand auch ein Mann an der Essensausgabe, doch er hatte sich umgedreht, um meinem Zwillingsbruder zuzuhören. „Ich dachte mir, es wäre sicher eine gute Idee, Ihnen ein bisschen Unterhaltung zu servieren." Wir hatten seinen Auftritt genau abgesprochen und dafür sogar die Vorratskammer geplündert. Lucas und ich hatten im Sommer einen Kurs im Zirkus gemacht und wie sich herausstellte, war es gar nicht so schwer, drei Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Mit drei Mullbinden zu jonglieren konnte doch nicht viel schwerer sein.

Während Lucas seine Show trotzdem mehr schlecht als recht fortführte und dabei noch ein paar unterhaltsame Tanzschritte machte, bei denen er aufpassen musste, nicht vom Tisch zu fallen, gesellte ich mich unauffällig zum Buffet und griff nach dem Pfeffer, der eigentlich nur zum Würzen gedacht war. Ich versicherte mich noch ein letztes Mal, dass Lucas seine Aufgabe erfüllte und alle Augenpaare auf sich zog, ehe ich das starke Gewürz über die gesamte Hauptspeise schüttete. Ich fand das so lustig, dass ich mich zusammenreißen musste, nicht auf der Stelle laut loszulachen. Als ich einen kurzen Blick auf den Mann neben mir warf, der seinem Tablett inzwischen den Rücken zugewandt hatte und begeistert auf meinen Bruder schaute, wurde ich mutiger. Den letzten Rest des Pfeffers schütte ich daher kurzentschlossen in seinen Kaffee – ich freute mich schon auf sein Gesicht, wenn er herausfand, dass er reingelegt wurde.

Mit einem Zeichen sagte ich meinem Bruder, dass ich es geschafft hatte und er beendete seine Nummer mit einer tiefen Verbeugung – ein paar Leute applaudierten sogar. Das machte die ganze Aktion nur noch lustiger.

„Und?", fragte er etwas außer Atem, als er bei mir ankam. Wir beide hatten uns neben den Ausgang gestellt und ich zeigte stolz auf den Mann, der sicherlich gleich eine Überraschung erleben würde. Lucas grinste mich wissend an und wartete mindestens genauso gespannt wie ich auf die Reaktion des Mannes.

Wir mussten nicht lange warten, denn er hatte sich schon hingesetzt und führte gerade den Becher zu seinem Mund. Ich biss mir auf die Lippen, um mir ein Lachen zu verkneifen. Mit einem lauten „Bäh!" spuckte er den Schluck Kaffee in hohem Bogen wieder aus und ließ ihn über den ganzen Tisch ergießen. Eine Frau am Tisch daneben, erschreckte sich so stark, dass sie einen kurzen, hellen Schrei ausstieß. Lucas war der erste, der es nicht mehr aushielt und lautstark zu prusten anfing. Wir ergriffen beide gleichzeitig die Flucht und lachten auch noch, als wir den Pausenraum erreichten. Das war definitiv besser, als meine Hausaufgaben zu machen.

Ich musste ein bisschen Lächeln, als ich an den Tag dachte. Es ist erst nach Tagen aufgeflogen, dass Lucas und ich die Störenfriede waren, die im ganzen Krankenhaus streiche gespielt hatten. Von da an, hatte uns immer eine Auszubildende beaufsichtigt, wenn wir unsere Nachmittage dort verbrachten, doch auch die hatte es nicht immer geschafft, sowohl Lucas als auch mich in Schach zu halten. Wenn ich an die Zeit zurück dachte, dann waren die Tage im Krankenhaus einige meiner besten Erlebnisse.

Als ich mir wieder ins Gedächtnis rief, was Lucas getan hatte, verschwand auch die Freude die ich bei den Gedanken gefühlt hatte. Die Zeiten waren vorbei, ich sollte aufhören so nostalgisch zu sein. Ich war Siebzehn, ich hatte mein ganzes Leben noch vor mir, darauf sollte ich mich konzentrieren.

„Was muss Paps denn machen?! Können wir nicht einfach hier bleiben oder uns mit Freunden treffen?", fragte Elias und holte mich wieder zurück an den Frühstückstisch.

„Nein, das geht nicht. Bitte macht jetzt keinen Aufstand, es ist eine Ausnahme und ihr beide werdet noch früh genug verstehen, worum es geht, aber nicht jetzt.", antwortete Papa bestimmend und damit war das Thema gegessen. Wenn er diesen Ton einschlug, dann nützte eine Diskussion überhaupt nichts. Was konnte nur so wichtig sein, dass Paps und aus dem Haus haben wollte?

Eine ungute Vermutung überkam mich, als ich an das Abendessen zurück dachte. Papa war nicht da und Paps hatte so schlechte Laune wie schon lange nicht mehr, außerdem verhielten die beiden sich gegenüber nicht mehr so liebevoll, wie noch vor ein paar Jahren... Ich verbannte den komischen Gedanken sofort aus meinem Kopf. Zwischen meinen Vätern war alles in bester Ordnung, ich sollte aufhören so paranoid zu sein!

Es kam wie es kommen musste, Elias und ich befanden uns im Pausenraum des Krankenhauses und warteten auf das Ende von Papas Schicht. Er hatte uns zwar versprochen nur kurz nach seinen Patienten zu sehen und uns dann von unserer Langeweile zu erlösen, doch ich hatte wenig Vertrauen in seine Worte.

„Mir ist langweilig.", murmelte Elias zum wiederholten Mal und machte mich damit fertig. Ich könnte jetzt auch mit Robin reden, würde er mir antworten, aber offenbar schien er mich zu meiden. Ich hatte ihm geschrieben und ihn gefragt, ob ihm zufällig auch gerade langweilig war, doch er hatte nicht darauf geantwortet. Er hatte auf keine meiner Nachrichten geantwortet, die ich ihm geschrieben hatte.

„Hier.", sagte ich resigniert und reichte der Nervensäge mein Handy – wenn Robin mir nicht antwortete, konnte mein kleiner Bruder auch ruhig den Akku meines Handys aufbrauchen.

Da Elias nun abgelenkt war, langweilte ich mich nur noch mehr und beschloss herauszufinden, warum Papa so lange brauchte. Vielleicht war wieder einmal ein Notfall herein gekommen, er musste operieren und konnte uns daher nicht Bescheid geben.

Ich ließ Elias alleine auf dem Sofa hocken und verließ den Raum. Das Krankenhaus hatte sich im Laufe der Jahre nicht viel verändert, zwar wurde es vor etwa drei Jahren komplett saniert, doch die Wände wurden immer noch durch das kalte Weiß-Grau geschmückt und es roch noch immer nach Desinfektionsmittel. Jeder Gang erinnerte mich an die Zeit in der ich hier quasi gewohnt hatte und in der Lucas bei mir war – ich hasste es.

„Samantha?!", fragte eine raue Frauenstimme hinter mir und ließ mich sofort umdrehen. Ich konnte kaum glauben, wen ich da sah. „Erika!", rief ich mindestens genauso erstaunt. Sie arbeitete immer noch hier? Damit hatte ich nicht gerechnet, offenbar schien sie sich auch zu freuen mich zu sehen, denn sofort schloss sie mich in ihre Arme.

„Ich habe dich ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen, was machst du hier?", fragte die Frau vor mir, die in den Jahren erwachsen geworden zu sein schien. Als sie damals dazu verdonnert wurde auf Lucas und mich aufzupassen, damit wir kein Chaos mehr anstellten, war sie eine unerfahrene Auszubildende, die gerade ihr Studium abgeschlossen hatte. Sie hatte ihre Haare immer zu einem schrägen Zopf gebunden und bunte Armbänder getragen – heute war von dem rebellischen Mädchen nicht mehr viel übrig, ihr Zopf wurde durch einen strengen Dutt ersetzt und die Armbänder durch eine praktische Uhr. Was war nur aus ihr geworden? Mit einem Mal fand ich es schade, dass ich sie nicht ab und an mal besucht hatte. Sie hatte sich schließlich wirklich gut um mich und meinen Bruder gekümmert und uns sogar ein paar Mal gedeckt, wenn wir wieder etwas angestellt hatten.

„Ich war auch schon lange nicht mehr hier, doch Papa muss länger arbeiten als erwartet und aus irgendeinem unerfindlichen Grund wurde ich gezwungen hier auf ihn zu warten." Als sie mich freundlich zu einer Bank führte, auf die wir uns setzen konnten fügte ich noch hinzu: „Du hast dich ziemlich verändert." Daraufhin warf sie den Kopf in den Nacken und lachte laut los – immerhin etwas, das sich nicht geändert hatte. Schon damals hatte sie die coolste Lache der Welt, es schien einfach so als würde sie mit ihrem herzlichen Lachen, die ganze Welt unter eine Decke der Fröhlichkeit legen.

Als sie aufgehört hatte, beugte sie sich zwinkernd zu mir herüber und flüsterte: „Glaub mir, das ist bloß Tarnung. Aber in meinem Inneren bin ich immer noch die alte – die bunten Bänder liegen bloß bei mir Zuhause." 


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