4. Kapitel
Es verging genau eine Stunde und fünfzehn Minuten, die ich im ersten Unterricht des Tages damit zubrachte, auf den breiten Rücken von Alec zu starren. Mir war es vorher noch nie so wirklich aufgefallen, aber der Idiot saß tatsächlich direkt vor mir in meinem Mathematikkurs. Ich hatte mich wie so oft, in die letzte Reihe verabschiedet und saß nun neben einem Mädchen namens Elena, die zwar ab und an mit Marie rum hing, aber zumindest bei Partnerarbeiten immer nett zu mir war.
Doch heute verbrachte ich keine Sekunde damit, mich über ihre Nettigkeit zu wundern und ich folgte auch in keiner Weise dem Unterricht, stattdessen sah ich auf den breiten Rücken vor mir. Wieso hatte der Idiot mich vorhin so gemein auflaufen lassen, hatte absichtlich all die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt?
Ich steckte gerade in meinen Gedanken und mahlte mir die verrücktesten Geschichten aus, die dem Idioten zu dem gemacht hatten, was er war, als Elena mich mit ihrem Ellenbogen an stupste und mit dem Kopf nach vorne deutete. „Da ich ja jetzt endlich die volle Aufmerksamkeit von allen von Ihnen genießen darf", sagte Anton Riese, mein merkwürdiger Lehrer, den alle nur freundlicherweise „Affe auf Droge" nannten, mit dem Blick auf mich gerichtet. Offenbar hatte ich auffällig nicht aufgepasst. Seinen Spitznamen hatte der Mann durch sein ungepflegtes Äußeres erhalten, überall an seinem Körper wucherten so viele Haare, dass es wirklich unappetitlich aussah und er schien sich als einziger nicht daran zu stören. Vermutlich hätte man ihn in der Arktis aussetzen können und alle hätten ihm mit dem Yeti verwechselt, doch leider befand sich dieser Mann nicht im Norden der Erde, sondern in dieser Schule und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir immer wieder einen reinzuwürgen. Genau wie jetzt. Er wusste, dass ich die ganze Aufmerksamkeit nicht gut ab konnte, doch trotzdem stellte er mich vor der ganzen Klasse bloß. Er fuhr fort, bevor ich etwas erwidern konnte: „möchte ich Ihnen auftragen in Partnerarbeit eine Lösung für das Problem an der Tafel auszuarbeiten." Er deutete auf die grüne Tafel, auf die er tatsächlich eine Formel geschrieben hatte, die vermutlich mehr Buchstaben als Zahlen enthielt. Ich verstand natürlich wieder einmal gar nichts, doch Elena war relativ gut in dem Zeug, daher machte ich mir wenig Sorgen. Wir sahen uns an und nickten gleichzeitig – es war beschlossen: Wir beide würden die Aufgabe zusammen lösen.
Doch dazu kam es nicht, denn noch bevor ich meinen Kugelschreiber zum Blatt führen konnte, versperrte eine Gestalt das ganze Licht, das aus dem Fenster zu uns schien. „Wir machen das zusammen.", ertönte seine dunkle Stimme und jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Vergiss es.", sagte ich mit möglichst stark klingender Stimme und schaute den Jungen nicht an. Er sollte einfach verschwinden. Doch offenbar hatte Alec Pecht andere Pläne, denn er nahm sich seinen Stuhl und drehte ihn so, dass er mir gegenüber saß und uns nur ein kleiner Tisch trennte. Mir gefiel diese Nähe überhaupt nicht.
„Hau ab.", zischte er leise zu Elena, die sich zu meiner Überraschung sofort erhob und so hektisch das Weite suchte, dass ihr Stuhl dabei lautstark zu Boden polterte. Ich konnte nicht anders, ich starrte ihr entgeistert hinterher. Wieso hatten alle so viel Angst vor dem Typen?! Als ich aufsah erkannte ich ein paar Wunden in seinem Gesicht, die ich heute Morgen aus der Ferne nicht ganz ausmachen konnte. Sein rechtes Auge unterlag einem so dunklen Blau, dass es beinahe aufgemalt wirkte und seine Unterlippe war leicht aufgeplatzt. War das, was Elena zur Flucht getrieben hatte? Auf mich wirkte es jedoch eher armselig, denn es bedeutete, dass er sich mal wieder mit irgendjemandem geprügelt hatte.
„Was willst du?", fragte ich genervt und brauchte mir nicht einmal mehr Mühe zu geben, stark zu klingen, denn in diesem Fall war ich wirklich stark. Solange die Person keine Wasserstoffblonden Haare hatte und unglaublich hohe Schuhe trug, konnte ich keine Angst fühlen. Vielleicht lag es daran, dass all meine Kraft bei Marie verbraucht wurde, oder ich war einfach nicht ganz richtig im Kopf, aber in diesem Augenblick kam mir die Eigenschaft zu gute.
„Sorg dafür, dass dein Bruder endlich Emma in Ruhe lässt." Darum ging es?! War er einer dieser großen Brüder, die so krampfhaft darauf bedacht waren ihre kleine Schwester zu beschützen, dass sie ihr keine Freude ließen?
„Die beiden sind zehn, was denkst du denn was die machen!? Sie sind definitiv nur Freunde." Das Thema war so lächerlich, dass ich lachen musste, ich lachte über Alecs merkwürdigen Vorstellungen. Was dachte er sich eigentlich? Jedoch blieb mir das Lachen sofort im Hals stecken, als ich merkte, wie wir beide von allen angestarrt wurden und ich zog unbewusst meine Schultern ein Stück nach vorne. Wir gaben auch sicherlich ein abstraktes Bild ab – der Schlägertyp und das Mädchen von dem Foto – natürlich stießen wir dabei auf Neugier der anderen, aber hatten sie nichts Besseres zu tun?!
„Emma braucht keine Freunde.", antwortete der Junge mit den eisblauen Augen ernst und schien gar nicht zu merken, dass alle Blicke auf uns ruhten, vermutlich interessierte es ihn auch einfach nicht.
„Das ist lächerlich, lass sie doch selbst entscheiden. Und jetzt verschwinde endlich, die anderen starren schon." Vielleicht hätte ich mir den letzten Satz lieber verkneifen sollen, denn das zauberte ein überlegenes Lächeln auf Alecs Gesicht. Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück gegen die Lehne seines Stuhls und musterte mich.
„Das stört dich? Ich hätte gedacht, dass jemand von dem so ein Foto existiert, anderes gewohnt sein müsste.", sagte er provozierend und ich fiel vollkommen darauf herein.
„Jetzt halt doch endlich mal die Klappe und lass mich in Ruhe.", zischte ich wütend und sein Lachen wurde noch lauter, ehe er ganz plötzlich wieder ernst wurde und sich zu mir hervor beugte. Er sah mir in die Augen und wollte wohl gefährlich aussehen, doch mit den Wunden im Gesicht, die all meine Aufmerksamkeit auf sich zogen, konnte ich ihn einfach nicht ernst nehmen.
„Und jetzt reden wir mal Klartext: Sorge dafür, dass Elias sich von meiner Schwester fernhält, oder ich sorge dafür, dass dein Leben zur Hölle wird.", stellte er leise die absurde Forderung, die ich niemals erfüllen konnte. Wieso gönnte er Emma keine Freunde? Das war ja völlig verrückt.
„Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: Du machst mir keine Angst und ich lasse mich auch nicht von dir bedrohen – erst recht nicht, mit so einer dummen Forderung.", antwortete ich und hielt seinem durchdringendem Blick die ganze Zeit über stand.
„Das werden wir ja noch sehen.", murmelte er, als die Klingel das Ende dieser ereignisreichen Stunde verkündete.
Den restlichen Tag versuchte ich die komische Begegnung mit Alec Pecht zu vergessen, in meinen Gedanken spielte ich jedoch trotzdem immer wieder unser Gespräch durch. Wieso verlangte er so etwas von mir? Als ich Elias das nächste Mal sah, sagte ich ihm natürlich nichts davon, es hätte ihn nur unnötig aufgewühlt. Vermutlich hatte Alec auch einfach nur geblufft, sich einen Scherz mit mir erlaubt. Er konnte ja schließlich schlecht wollen, dass seine eigene Schwester keine Freunde hatte. Aber was wäre, wenn er es tatsächlich ernst gemeint hatte? Ich dachte zurück an den Tag, an dem Emma bei uns Zuhause war und sich nicht getraut hatte, bei ihrer Familie anzurufen, ich dachte zurück an die Angst, die ich in ihren Augen gesehen hatte – mit einem Mal tat sie mir unheimlich leid und ich schwor mir, egal wie sehr sich der Junge mit den eisblauen Augen auch bemühen würde, ich würde weder Elias, noch irgendwem anderes Schaden zufügen.
Mein kleiner Bruder war gerade mit Paps einkaufen gefahren und das Haus war tatsächlich einmal Still – das kam nicht besonders Häufig vor. Ich dachte automatisch an frühere Zeiten zurück, als Lucas noch da war und ich noch wesentlich mehr Freude am Leben hatte. Wir sind damals oft durch das ganze Haus gerannt, haben Verstecken und Ticken gespielt und haben so viel gelacht, dass ich dachte wir würden die Unendlichkeit spüren. Ich weiß noch, wie wir damals immer allen Streiche gespielt hatten und Paps und Papa oft in die Grundschule kommen mussten, um mit dem Direktor über uns zu reden.
Mit einem Mal wurde ich unheimlich sentimental und nostalgisch. Ich dachte an Lucas, der alles kaputt gemacht hatte und fragte mich, wie alles gelaufen wäre, wenn er mich nicht einfach zurück gelassen hätte. Ich war zwar nicht so schlau wie er, aber vielleicht hätte ich ja einfach nur genügend lernen müssen und hätte ihn dann begleiten können, vielleicht wäre ich dann genauso glücklich geworden, wie mein Zwillingsbruder es immer zu sein schien, wenn er die Sommerferien Zuhause verbrachte.
Um mich ein bisschen abzulenken und nichts Unüberlegtes zu tun, nur weil ich mich mal wieder schlecht fühlte, griff ich nach meiner Kamera und zog meine Schuhe an. Ich verzichtete auf eine Jacke, mein dunkelblauer Pullover war dick genug, und trat nach draußen. Dort wurde ich sofort von einem kalten Herbstwind erfasst, beinahe so, als wollte dieser mich wieder zurück ins Haus schicken, doch das konnte ich nicht zulassen.
Ich ging einfach drauf los, achtete nicht auf den Weg den ich zurück legte und machte in unregelmäßigen Abständen ein paar Fotos. Diese waren zwar nicht wirklich besonders, meist schaffte ich es lediglich einen Baum oder ein paar Vögel ins Bild zu kriegen, doch diese Aktivität schaffte es, meinen Kopf ein bisschen frei zu bekommen.
Als ich an einer Bank vorbei ging, auf der eine ältere Dame platz genommen hatte und Brotkrümel zu den Tauben warf, die sich zu ihren Füßen versammelt hatten, konnte ich nicht anders uns hielt unauffällig meine Kamera auf das perfekte Motiv. Ich ging weiter und warf der Frau noch ein freundliches Lächeln zu, während ich mir das Bild genauer anschaute. Es zeigte die Dame, mit ihren grauen Haaren und faltigem Gesicht, doch vor allem stellte es die Hingabe, mit der sie die Tiere fütterte deutlich dar. Ich konnte ihre blitzenden Augen wunderbar erkennen und versank in Gedanken über sie. Ich stellte mir vor, wie sie jeden Tag zu dieser Bank ging und die Tauben fütterte, stellte mir vor wie sie alleine wohnte, weil ihr Ehemann, mit dem sie fünfzig Jahre lang glücklich verheiratet gewesen war, nicht mehr auf der Erde weilte, dachte an ihre Familie, die nur noch zu den Geburtstagen zusammen kam und sah vor meinem inneren Auge, wie sie daher täglich hierhin ging und ihre Großzügigkeit an den Tauben ausließ.
Das Bild verschwand jedoch sofort, als ich um die Ecke in einen kleinen Park der Stadt einbog und beinahe in jemanden herein lief. Ich erkannte den Jungen sofort – es war Robin. Der Braunhaarige war zum gleichen Zeitpunkt wie Lucas aus meinem Leben getreten. Damals war er der beste Freund meines Zwillingsbruders und somit ständig bei uns Zuhause, doch diese Besuche hörten zu meiner bitteren Enttäuschung auf, nachdem mein Bruder sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Das machte die ganze Situation nur noch schwerer für mich, da ich damals tatsächlich ziemlich verknallt in Robin war. Ich war meist dabei, wenn die beiden Jungs etwas unternahmen und er war immer für mich da, wenn ich mich mal mit Lucas stritt – zumindest kam es mir zu der Zeit so vor, denn danach schien er mich ziemlich zu ignorieren. Dabei hatte ich ihn wirklich bewundert. Er ging eine Stufe über mir zur Schule und somit sah ich ihn nur noch ziemlich selten. Jetzt, nach Jahren, hatte ich ihn komplett aus meinen Gedanken gestrichen.
„Sorry.", sagte ich leise und wollte mich schon umdrehen, um schnell zu verschwinden, als er mich erkannte. „Sam? Ich habe dich ja Ewigkeiten mehr gesehen!", sagte er begeistert. Es brauchte nur dieses breite Lächeln und sofort hatte ich alles vergessen. „Wie geht es dir? Was machst du hier?", fragte er freundlich und ich erwiderte sein Lächeln, ohne nachzudenken.
„Ich habe ein paar Fotos gemacht, musste einfach mal raus von Zuhause.", antwortete ich ehrlich und wunderte mich überhaupt nicht, wieso es mir so leicht fiel mit ihm zu reden. Der Typ hatte einfach eine ruhige Ader an sich, die man sofort ins Herz schließen musste.
Wir verfielen sofort in ein angeregtes Gespräch, in dem ich herausfand, dass er der Fußballmannschaft der Schule beigetreten war und kurz davor war, ein Stipendium für seine Traumuniversität zu erhalten. „Hast du Lust noch einen Kaffee trinken zu gehen? Ich lade dich ein." Bevor ich antworten konnte, nahm er meine Hand und führte mich über die Straße auf ein Café zu, das mir noch nie vorher aufgefallen war. Die Berührung unserer Hände ließ alte Gefühle von früher wieder hochkommen und ich spürte das Kribbeln, dass mir all die Jahre verwehrt geblieben war.
Wir setzten uns an einen freien Tisch im hinteren Bereich und ich war unheimlich froh, endlich in der Wärme zu sein, mir war gar nicht aufgefallen wie durchgefroren ich tatsächlich gewesen war.
„Wie geht es eigentlich Lucas?", fragte Robin, als wir beide unsere Getränke hatten und die heiße Schokolade meinen Körper wieder auf Normaltemperatur gebracht hatte.
„Keine Ahnung, wir haben seit den Sommerferien nichts mehr von ihm gehört – Paps ist verrückt vor Sorge." Normalerweise wurde ich komisch angeschaut, wenn ich vor jemandem meine Väter erwähnte, doch Robin kannte meine Familie, kannte alle Besonderheiten, vor ihm konnte ich jeden Erwähnen, den ich wollte.
„Du klingst aber nicht so, als würde es dir etwas ausmachen.", vermutete Robin und schlürfte an seinem Kaffee.
Ich erzählte ihm ausführlich von meinen Gefühlen bei der Sache, erzählte ihm, wie ich eigentlich nur sauer auf Lucas war und wie ich ihn am liebsten auf den Mond verbannt hätte – jedes Wort schien der braunhaarige Junge mit den Sommersprossen nur so in sich aufzunehmen, er hörte mir tatsächlich interessiert zu. Es tat so gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Wieso war ich ihm nicht schon früher begegnet?
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