37. Kapitel

„Was war das gerade?!", fragte ich außer Atem, als ich Emma im Treppenhaus endlich eingeholt hatte. Sie war vor mir weg gelaufen, sobald sich die Tür zwischen uns und Alecs Wohnung geschlossen hatte und schien mich keinesfalls aufklären zu wollen.

„Emma, verdammt!" Ich hielt ihren Arm fest umklammert, damit sie nicht wieder weg lief, doch als sie unter meiner Berührung zusammen zuckte, ließ ich sofort erschrocken los. War Alec nicht der einzige seiner Familie, der Berührungen so sehr hasste? Ich konnte genau in ihr verletztes und ängstliches Gesicht sehen, also fügte ich weniger energisch, aber dafür um einiges freundlicher ein „Bitte." hinzu. Sie musste mir einfach erklären, was da gerade vorgefallen war – ich musste es wissen!

Immer wieder erinnerte ich mich daran, wie verzweifelt Alec auf meiner Mailbox geklungen und wie verletzt er in dem Augenblick ausgesehen hatte, als seine Eltern wieder aufgetaucht waren. Es fühlte sich alles so unglaublich falsch an, dass mein Unterbewusstsein einen Haufen schrecklicher Geschichten erfand, die sein verhalten erklärten – ich brauchte Emma, um mich davon zu überzeugen, dass sie nicht wahr sein konnten. Verdammt, was ging hier ab!?

„Es ist nichts.", meinte Emma, wenig überzeugend. Ihre hellen blauen Augen wurden von unübersehbaren Augenringen geschmückt, als hätte sie in der letzten Nacht nicht geschlafen, und ich konnte genau erkennen, wie sich eine Tränenschicht auf ihnen gebildet hatte.

„Warum warst du bei mir zuhause?", fragte die Kleine, als wir eine Weile schweigend nebeneinander her gegangen waren. Da ich Paps nicht erreichte, waren wir gezwungen den Weg zu Fuß zu bestreiten. Ich hatte es irgendwann aufgegeben, denn wenn ich eines gelernt hatte, dann das dieses Mädchen schweigen würde.

„Ich hatte das Gefühl, dass Alec eine Freundin brauchen konnte und dann hat uns der Regen überrascht." Ich deutete auf die Alecs Kleidung, die mir noch immer wie ein Sack von dem Körper hing und meine breiten Kurven bedeckte. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich immer noch Alecs Geruch darauf verspüren.

„Bist du seine Freundin?", fragte sie weiter und irgendwie wunderte mich, dass sie sich so viele Gedanken darüber machte.

„Ja, aber nicht seine feste Freundin, sondern nur eine Freundin.", beantwortete ich ihre Frage schnell und fragte mich gleichzeitig, was Alec wohl an meiner Stelle sagen würde. Würde er uns ebenfalls als Freunde bezeichnen? Heute Nachmittag hätte ich ohne Umschweife zugestimmt, doch nun war ich mir nicht mehr sicher. Sein Blick sprach Bände und irgendwie wusste ich, dass er den heutigen Tag bereute.

„Woran erkennt man denn den Unterschied? Ist das nicht das gleiche?" Warum hatte ich so langsam das Gefühl, dass es gar nicht mehr um mich und Alec ging? Emma ging einfach weiter und starrte geradeaus ohne mich eines Blickes zu würdigen, doch sie knetete ihre Finger. Genau das gleiche tat auch Alec, wenn ihm Unbehagen war – eine Angewohnheit, die sie sich wohl bei ihrem großen Bruder abgeschaut hatte.

„Naja, ich denke, wenn man fest mit jemand zusammen ist, dann sollte diese Person einem mehr bedeuten, als alles andere. Man küsst sich und will jede freie Minute miteinander verbringen.", sagte ich und versuchte sicher zu klingen. Aber in Wahrheit hatte ich absolut keine Ahnung, von was ich hier sprach. Mein einziger Vergleich war die Sache mit Robin und die wollte ich so schnell wie möglich vergessen, außerdem zweifle ich daran, dass wir überhaupt jemals zusammen waren. Mir kamen wieder Bilder in den Sinn, in denen er anfing mich überall zu berühren und mir wurde schlecht.

„Also ist, bis auf das Küssen, alles genau wie mit einem besten Freund.", schlussfolgerte Emma leise und fing an ihre Finger noch stärker zu kneten. Sie war unheimlich unsicher und ich fragte mich, ob mehr zwischen ihr und Elias vorgefallen war. Offenbar beschäftigte die Kleine dieses Thema ziemlich stark, dabei war sie doch gerade einmal Zehn – ich wusste nicht, ob ich es süß oder übertrieben finden sollte. Aber irgendwas an ihren Worten ließ mich trotzdem in meine Gedanken abdriften.

„Vielleicht hast du recht.", murmelte ich daher und dachte weiterhin über ihre Worte nach. Bis auf die Intimitäten, war doch wirklich alles genau so wie bei einer sehr guten Freundschaft. Emma hatte völlig Recht. Im Grunde war es also nichts besonderes, ergo ich verpasste nichts, wenn ich weiterhin mein Leben ohne eine Person wie Robin lebte, denn auf das ganze rummachen konnte ich problemlos verzichten. Es hatte sich sowieso nie richtig angefühlt.

„Emma?", fragte Elias perplex, als er die Küche betrat und seine Freundin an einem Becher heißer Schokolade schlürfen sah. Ich hatte uns beide versorgt, während wir auf meinem Laptop einen Film sahen, den die Kleine ausgesucht hatte. Elias war mit Paps unterwegs gewesen und da ich weder Paps, noch Alec erreicht hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als an diesem Abend Babysitter zu spielen. „Was machst du denn hier?"

„Ich wollte dich Besuchen, doch du warst nicht da, also hat Sam mir angeboten, hier auf dich zu warten.", log das Mädchen neben mir unverfroren und verzog dabei keine Miene. Sie war erstaunlich gut darin, die Wahrheit zu verdrehen, doch ich sagte nichts. Vermutlich war ihr die ganze Geschichte einfach unangenehm, also hielt ich meinen Mund und die beiden gingen zufrieden nach Oben in Elias Zimmer.

„Das war lieb von dir.", sagte Paps und nahm den Platz an meiner Seite ein. „Wie war es bei Alec?" Er war eindeutig neugierig, weil er ganz genau wusste, dass ich den Tag bei einem Jungen verbracht hatte – zum Glück hatte ich mich inzwischen umgezogen, andernfalls wäre er vermutlich komplett aus dem Häuschen gewesen – und ihm der Gedanke gefiel, dass ich endlich einen Freund haben könnte.

„Es war okay.", antwortete ich gelassen und sah Paps dabei tief in die Augen, damit er nicht bemerkte, dass ich log. Ich wusste zwar nicht, was ich von dem Tag mit Alec halten sollte – erst die Gespräche über der Autobahn, dann der Film und unsere Neckereien und am Ende die ganze Sache mit seinen Eltern und Emma – aber „okay" war kein passender Begriff für meine Erlebnisse.

„Das freut mich." Paps ergriff lächelnd nach meiner Hand und drückte sie einmal liebevoll, ehe er anfing die Becher von Emma und mir in die Spülmaschine zu räumen. Ich war wirklich froh, dass ich ihn hatte.

„Lass Emma bis Montag bei euch schlafen.", las ich zum wiederholten Mal, als ich die Matratze auf dem Boden meines Zimmers bezog. Mehr hatte Alec mir nicht geschrieben. Keine Erklärung und keinen Dank, ich wusste nicht, ob ich besorgt oder sauer sein sollte. Es war doch Wahnsinn, dass dieses kleine zehnjährige Mädchen das ganze Wochenende bei einer Familie verbringen sollte, die ihre Eltern erst einmal zu Gesicht bekommen hatten!

„Wieso machst du so viel für diesen Typen?!" Ich fuhr erschrocken herum und entdeckte – sehr zu meinem Leidwesen – dass Lucas mich von dem Türrahmen aus beobachtete.
„Wenn du nichts zu tun hast, dann hilf mir wenigstens.", fuhr ich ihn an. Meine Laune war sowieso schon im Keller, ich wollte mich nicht auch noch mit meinem Zwillingsbruder herum schlagen.

Zu meinem Erstaunen ging er wirklich auf mich zu und Griff nach dem Kissen, um es zu beziehen.

„Du lässt seine kleine Schwester ohne zu murren in deinem Zimmer übernachten – ich wette er hat nicht einmal Bitte gesagt!" Lucas sah mich eindringlich an und ich fragte mich, woher er das wissen konnte. Alec hatte mich tatsächlich nicht gebeten.

„Elias hat sie gerne hier und weder Papa noch Paps erlauben, dass die beiden in einem Zimmer schlafen – anders als eine bestimmte Person in diesem Haushalt, liegt mir etwas an meinen Geschwistern." Zumindest an Elias, aber ich befürchtete, dass es wieder in einem Streit enden würde, wenn ich das so deutlich aussprach.

„Was muss ich denn noch tun, damit du endlich akzeptierst, dass wir verwandt sind?!" Lucas fing an sich durch seine Haare zu fahren und das machte mich wahnsinnig. Sie hatten exakt den gleichen rot-blonden Ton, wie meine eigenen und erinnerten mich immer wieder an meine Blutsverwandtschaft zu dem Idioten – vielleicht sollte ich mir überlegen sie zu färben.

„Da liegt das Problem! Denn offenbar komme ich mit Menschen, mit denen ich nicht direkt verwandt bin, wesentlich besser aus." Ich wusste, dass ihn die Worte verletzten; Ich wollte, dass ihn die Worte verletzten. Paps, Papa, Elias, Oma... Ich zählte alle von ihnen zu meiner Familie, obwohl ich kein Blut mit ihnen teilte. Früher stand die Verbindung zu Lucas für mich an oberster Stelle, doch vielleicht war es einfach mein Schicksal, nicht mit meinen Blutsverwandten aus zu kommen. Meine Erzeuger kannte ich nicht mehr und von einem möglichen Rest, wie Tanten, Onkel, Cousins oder Großeltern, hatte ich noch nie etwas gehört. Lucas sollte genauso in meinen Erinnerungen verblassen, wie es all diese Personen getan haben.

„Sag so etwas nicht. Vergleiche mich nicht mit ihnen!" Lucas warf wütend das frisch bezogene Kissen auf die Matratze und wollte aus dem Raum flüchten. Wieso konnte er sich erinnern und ich nicht?!

„Dann klär mich auf und erzähl mir von ihnen!", bat ich energisch, doch Lucas tat mir den Gefallen nicht.

In der Nacht wurde ich von einem kleinen, spitzen Schrei geweckt, der mir bis ins Mark ging. Sofort saß ich kerzengerade im Bett und warf einen Blick auf meinen Mitbewohner für das Wochenende, doch sie schien noch immer zu schlafen. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und ich schaltete Vorsichtig das Licht neben meinem Bett an, um wieder klar sehen zu können.

Emma hatte unverkennbar geschrien und jetzt wälzte sie sich unruhig von einer auf die andere Seite – sie hatte einen Albtraum. „Nein, geh weg.", murmelte sie auf einmal kläglich. Zuerst dachte ich, dass sie mich meinte, denn ich war dabei auf zu stehen, um sie aus ihren Träumen zu befreien. Es dauerte einen kurzen Moment, in dem ich stillsitzend verharrte, um zu realisieren, dass sie einfach im Schlaf sprach.

„Emma.", flüsterte ich vorsichtig und versuchte die Kleine zu wecken.

„Ich will das nicht. Bitte geh weg." Sie weinte.

„Emma!" Dieses Mal flüsterte ich nicht mehr und schüttelte ihre Schulter leicht. Was träumte sie da nur?

Erschrocken fuhr Alecs kleine Schwester aus ihrem Schlaf hoch und rückte schnell von mir weg, um meine Hand von ihrer Schulter zu bekommen. Sie sah sich panisch um. Offenbar hatte sie tatsächlich genauso viele Probleme berührt zu werden, wie ihr Bruder. So langsam bekam ich eine schlimme Vermutung, was Auslöser ihres Albtraums gewesen sein könnte und betete zum Himmel, dass ich nicht recht behalten würde.

Sie wischte sich schnell die Tränen von ihrer Wange und atmete tief durch. Selbst bei dem wenigen Licht konnte ich erkennen, wie ihre hellen Augen blitzten. „Ist alles in Ordnung?", fragte ich leise und hoffte, dass sie sich nicht wieder verschließen würde.

„Klar, ich habe nur was blödes geträumt.", murmelte sie mechanisch, doch wirkte noch immer Abwesend. Sie schaffte es nicht, ihre Augen auf eine Stelle zu fixieren – das war gruselig.

„Bist du sicher? Du kannst auch zu mir ins Bett kommen, das ist groß genug.", bot ich ihr nicht zum ersten Mal an, doch schon wieder verneinte sie. Dabei war mein Bett wirklich breit genug für zwei Personen. Aber schon vorhin, als wir geklärt hatten, dass sie in meinem Zimmer übernachten würde, wollte Emma lieber auf einer dünnen Matratze auf dem Boden schlafen.

„Ich merke doch, dass etwas bei dir und Alec nicht stimmt! Du hattest gerade so viel Angst... Das sollte niemand in deinem Alter verspüren.", sagte ich ehrlich, während ich mich wieder auf den Weg in mein eigenes Bett machte.

Ich wusste wovon ich sprach, denn auch ich war nachts schon mit einem tränenüberströmten Gesicht aufgewacht. Damals war Lucas gerade an das Internat gewechselt und Marie hatte mich als ihren neuen Zeitvertreib entdeckt. In meinen Träumen durchlebte ich immer wieder, wie sie mir ins Gesicht spukte, mich schubste und sich in ein riesiges, bestialisches Monster verwandelte, das mich verstümmeln wollte. Auch heute wachte ich noch ab und zu von Albträumen auf, doch zum Glück war es nicht mehr so schlimm wie vor ein paar Jahren.

„Bitte halt dich da raus, Sam. Es ist alles gut, das meine ich ernst!", bat sie mich und sah mir dabei ins Gesicht. Ich wollte ihr ja glauben, doch noch immer blitzten die Tränen in ihren Augen und erinnerten mich an ihre Worte, die mir einen Schauer über den Rücken jagten.

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