34. Kapitel

Als ich Lucas und Marie entdeckte wurde mir bewusst, wie dumm ich mich eigentlich benahm. Der Kuss der beiden zeigte doch, wie bescheuert Liebe oder Ähnliches sein konnte, wieso nahm ich denn gleich alles so persönlich? Wenn die Anziehungskraft ausgerechnet meinen Bruder mit Marie zusammen gebracht hatte, dann konnte sie doch offenbar nicht klar denken, ergo es lag nicht an mir, dass alles mit Robin den Bach runter gegangen war.

„Die sollen sich endlich ein Zimmer suchen, oder ich kotze Marie gleich Höchstpersönlich auf ihr Kleid!", zischte ich auf dem Sofa zu Becks, die ebenfalls den kurzen Stofffetzen beäugte, den Marie als Kleid bezeichnen wollte. Ihre Absichten waren damit komplett offen gelegt und Lucas schien voll darauf herein zu fallen.

„Das ist eine gute Idee, ich bin dabei! Ob unser Mageninhalt aus dem bisschen Stoff raus geht?", fragte sie nachdenklich und sah Marie genauer an, um dann noch hinzu zu fügen: „Zumindest wird sie nicht viel zum Ausziehen haben." Ich lachte und nahm den wirklich letzten Schluck an diesem Abend – eine Lüge, die ich mir schon seit einer Stunde einreden wollte, doch irgendwie machte das süße Zeug süchtig.

„Mir ist schlecht.", murmelte ich mit dem Glas in meiner Hand und meinte damit nicht nur die Knutschorgie in der mein Bruder verwickelt war – ich hatte eindeutig zu viel Getrunken. Das Zimmer drehte sich schon längst und ich sah mich nicht mehr im Stande von der gemütlichen Couch auf zu stehen, das kam einem Marathon gleich.

„Setzt diese Brille auf und ihr wisst, wie sich betrunkene Leute fühlen.", sagte der Mann in der Polizeiuniform und reichte einem nach dem anderen die Zauberbrille, die uns vor der Gefahr von Alkohol warnen sollte. Ich hatte noch nie Alkohol probiert und hatte es auch eigentlich nicht vor, doch neugierig war ich schon.

„Gleich bin ich dran!", rief Lucas freudig. Wir waren gerade mal in der fünften Klasse und das war seit langem das interessanteste, das in der neuen Schule bis jetzt passiert war. Wann bekam man auch schon mal die Chance sich betrunken zu fühlen, ohne den ekligen Alkohol zu trinken?

„Ich bin mal gespannt.", antwortete ich leise und sah auf die Kinder, die inzwischen schon einen Blick durch die Zauberbrille werfen durften – sie unterhielten sich alle begeistert und lachend miteinander.

Als ich an der Reihe war und mir der Beamte die Brille über den Kopf zog, konnte ich kaum fassen, was sich vor meinen Augen tat. Alles verschwamm und erinnerte mich an den Ausblick, den ich bekam, wenn ich beim Tauchen meine Augen öffnete. Als ich dann auch noch einen Schlüssel vom Boden aufheben sollte, wusste ich nicht welcher der Drei der Richtige war und griff daher ein paar Mal ins Leere. Das war eine Erfahrung die ich nicht einschätzen konnte und trotzdem musste ich lachen – ich hatte es ja nicht einmal geschafft, diesen blöden Schlüssel auf zu heben, wieso taten sich die Erwachsenen so etwas freiwillig an?

Nun hatte ich eine Antwort auf die Frage, denn sie taten sich das an, weil ihre Kindheit vorbei war und sie nun einen Ausweg aus ihren Problemen gefunden hatten. Traurig und melancholisch nahm ich den nächsten Schluck.

„Ich denke wir sollten vielleicht aufhören zu trinken.", sagte Becks und kicherte dabei, nahm jedoch einen weiteren Schluck. „Wir hatten beide schließlich genug. Außerdem bin ich schon zwanzig und sollte daher verantwortungsbewusst handeln.", äffte sie vermutlich ihre Eltern nach und lachte dabei noch mehr – ich tat es ihr gleich.

Als ich am nächsten Morgen wach wurde und die Sonnenstrahlen auf meiner Nase tanzten, brauchte ich ein wenig um die Realität zu verstehen, denn Becks lag neben mir im Bett und mein Kopf schmerzte so stark, dass ich schwören konnte, er würde jeden Augenblick explodieren.

„Vielleicht hätten wir doch ein, zwei Gläser weniger trinken sollen.", murmelte Becks in mein Kissen und vergrub ihr Gesicht so unter der Decke, dass nur noch ihre pinken Haare heraus schauten. Ich stimmte ihr zu und wollte meinen Kopf ebenfalls vor der Sonneneinstrahlung schützen, doch mein Vorhaben wurde von einem lauten Klopfen an der Zimmertür unterbrochen, das mir zusätzlich Nadeln ins Gehirn zu rammen schien. Wie konnte ich nur so viel trinken? Jetzt hatte ich den Salat.

„Seid ihr wach?", fragte Lucas laut und betrat mein Zimmer, ohne dass ich ihm erlaubt hatte herein zu kommen. Dreist wie immer – warum hatte er keine Kopfschmerzen, die ihn beinahe umbrachten? Er hatte gestern schließlich Marie geküsst und ich war mir ziemlich sicher, dass so etwas nur möglich war, wenn man so stark betrunken war, dass man nicht mehr klar denken konnte.

„Verschwinde.", murmelten Becks und ich im Gleichsang, doch er lachte nur. „Man Lucas, lass uns in Ruhe.", versuchte ich es weiter, doch es war unübersehbar, dass es ihm blendend ging und er diese Überlegenheit ziemlich genoss.

„Kommt runter – ich mache euch etwas gegen den Kater und dann könnt ihr mir helfen auf zu räumen, damit Paps keinen Herzinfarkt bekommt, sobald er das Chaos unten sieht.", kommandierte er und verschwand lachend aus meinem Zimmer. Ich hatte eigentlich nicht vor gehabt seinen Worten Folge zu leisten, doch wenn ich weiter über das versprochene Mittel gegen die Kopfschmerzen nachdachte, geriet meine Entschlossenheit ins Wanken.

Daher standen Becks und ich wenig später in der Küche und hielten uns beide den Kopf. Ich hatte Becks eine meiner Jogginghosen geliehen, die ihr natürlich viel zu groß war, doch in meinem Zustand verschwendete ich keinen Gedanken darüber. Ich wollte einfach nur die höllischen Kopfschmerzen los werden. Wieso war ich gestern nur so leichtsinnig gewesen und hatte mich so stark betrunken?

„Da seid ihr ja endlich! Na, schön geschlafen?", flötete Lucas fröhlich und ich fing tatsächlich an Mordgedanken gegen meinen eigenen Bruder zu hegen. Als er dann auch noch anfing pfeifend eine Melodie zu summen, fragte ich mich, wie viel Kraft ich aufwenden müsste, um ihn mit einem Buttermesser ernsthaft verletzen.

„Du kannst ja wirklich unheimlich süß aussehen, aber trotzdem hasse ich dich im Moment. Hör endlich auf oder mein Kopf explodiert gleich.", meinte Becks nicht gerade schlagfertig und entlockte Lucas ein weiteres Lächeln. Musste sie sein Ego denn wirklich noch weiter steigern?

Meine Mordgedanken lösten sich jedoch schlagartig in Luft auf, als er mir ein Glas mit Brause reichte – vermutlich war es Aspirin. Ich hätte ihn dafür sogar abknutschen können, denn meine Kopfschmerzen schienen sich tatsächlich ein wenig zu mildern, nach dem ich die Flüssigkeit komplett ausgeleert hatte.

„Möchtet ihr etwas essen?", fragte Lucas scheinheilig, obwohl ihm genau klar war, dass Becks und ich uns nur mit Mühe vor dem erbrechen retten konnten. Er war ein Sadist und meine Mordgedanken kehrten wieder.

„Ich kann nicht glauben, dass ihr tatsächlich alles Aufgeräumt habt!", sagte Papa begeistert und schlug Lucas anerkennend auf die Schulter. Ich konnte es auch nicht glauben, schließlich war ich mir vor einer Stunde noch sicher gewesen, dass ich jeden Augenblick die Überreste meines Explodierten Kopfes aufräumen könnte. Glücklicherweise gingen die Schmerzen so weit zurück, dass Lucas und ich es tatsächlich gemeinsam geschafft hatten, das Wohnzimmer wieder in den gewohnt sauberen Zustand zu bringen.

Becks konnte uns leider nicht dabei helfen, denn sie musste ihren Eltern im Café helfen und war sowieso schon viel zu spät dran. Ich fand es zwar schade, verstand es aber. Hauptsache sie war überhaupt da gewesen – mein Geburtstag war im Endeffekt viel besser, als ich es gedacht hatte und dafür war ich vor allem meiner Freundin mit den pinken Haaren dankbar.

„Du siehst, ich bin vollkommen vertrauenswürdig – reicht dir das endlich als Beweis?", fragte mein Bruder und spielte auf seinen unausgesprochenen Hausarrest an, mit dem er schon seit seiner Rückkehr zu kämpfen hatte. Ich kannte den Grund zwar immer noch nicht, aber normalerweise hielten meine Väter nichts von diesen altmodischen Erziehungsmethoden, daher musste Lucas etwas ziemlich schlimmes auf seiner alten Schule verbrochen haben. Nichts desto trotz konnte ich aus Überzeugung sagen, dass ich es an der Zeit fand Lucas von seinem Leiden zu befreien und wieder in die weite Welt ziehen zu lassen. Er würde seine Freiheit zurück erlangen und ich würde endlich wieder Ruhe in diesem Haus haben und hoffentlich nicht mehr ständig mit Marie konfrontiert werden.

„Ich denke, du hast dieses Mal tatsächlich bewiesen, dass wir dir vertrauen können – ich bin echt überrascht wie sauber es hier ist.", meinte Papa mit einem Kopfnicken und tätschelte zum Abschied noch einmal die Schulter meines Zwillingsbruders. Ich verzichtete darauf, meine Väter auf zu klären, dass ich ebenfalls einen großen Anteil zu der Aufräumaktion beigetragen hatte, denn ich wollte meine eigene kleine Freiheit zurück erlangen.

Ich machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer, um mich noch einmal hin zu legen, als ich sah, dass mein Handy aufblinkte. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass mir mehr als nur eine Nachricht angezeigt wurde, normalerweise herrschte auf meinem Telefon immer Ebbe.

Ich las die erste Nachricht, die von Becks stammte. Sie bedankte sich noch einmal dafür, dass ich sie eingeladen hatte und sie bei mir übernachten durfte. Am Ende ließ sie es sich nicht nehmen, ein weiteres Mal zu erwähnen, wie angetan sie von meinem Bruder war – ich verdrehte die Augen. Das war typisch Becks.

Die zweite Nachricht war ausgerechnet von Alec – er hatte mir schon gestern Abend geschrieben! „Ruf mich bitte an.", hieß es und sofort erschrak ich. Sein Ton klang unnormal ernst, außerdem würde er mir nie ohne Grund schreiben. Als ich auf das Telefonsymbol klickte, um den erwarteten Anruf sofort nach zu holen, erkannte ich, dass sich ebenfalls eine Nachricht auf meiner Mailbox befand. Oh Gott, es musste wirklich ernst sein! Was war nur passiert?

„Also gut, keine Ahnung, ob du meine Nachricht nicht gesehen hast, oder ob du mich ignorierst, aber es ist etwas passiert und ich weiß nicht was ich machen soll." Brach seine Stimme tatsächlich gerade ab? Wieso hatte ich gestern nicht ein einziges Mal auf mein Handy geschaut.

Ich wählte seine Nummer mit zittriger Stimme und betete, dass er abnehmen würde. Es musste wirklich etwas Schlimmes passiert sein. Lag es an seiner Familie? War etwas mit Emma? Oder hatte er wieder einen Wutausbruch? Hat man ihn verhaftet, weil er wieder einmal ins Kino eingebrochen oder auf die Autobahn geklettert war?

„Sami!", flötete er in gewohnt unnahbarem Ton. Nichts war mehr von der Unsicherheit zu spüren, die ich auf meiner Mailbox gehört hatte.

„Hey, tut mir leid – ich habe deine Nachricht erst jetzt gesehen. Was ist passiert?"

„Nichts, nichts.", antwortete er lässig und hätte ich nicht vor weniger als eine Minute seine verzweifelte Stimme mit eigenen Ohren gehört, würde ich ihm diese Lüge ohne weiteres glauben.

„Alec, du hast mir sicher nicht ohne Grund geschrieben.", meinte ich vorsichtig und ließ seine Nachricht auf meiner Mailbox bewusst aus. Wenn er heute nicht einmal mehr zugeben wollte, wie es ihm gestern Abend ging, dann wäre es ihm vermutlich noch peinlicher, dass ich ihn so verzweifelt gehört hatte.

„Du hast mich durchschaut.", gab er endlich zu, fing jedoch kurz darauf an, unkontrolliert zu lachen. Gestern musste etwas Schlimmes passiert sein – vermutlich wollte er sich heute nicht mehr eingestehen, dass er doch so etwas wie Gefühle besaß. Daher wunderte es mich auch nicht, als er weiter sprach: „Ich hatte Langeweile und dachte, ich könne mir ein bisschen die Zeit mit dir vertreiben." Er klang dabei so locker, dass ich ihm ohne weiteres geglaubt hätte, wäre es nicht Alec mit dem ich hier sprach. Schließlich machten Alec und ich nicht einfach mal eben so etwas zusammen, sondern verbrachten nur dann Zeit miteinander, wenn einer von uns Hilfe brauchte. Das war doch der Deal zwischen uns – wir halfen einander, ohne viele Fragen zu stellen. Das war unsere Art einer Freundschaft und nur deshalb funktionierte es so gut. Außerdem hatte er es im Auto nach meinem Zusammenbruch doch genau gesagt: Ich solle seine Fürsorge nicht falsch verstehen, denn er würde nicht wegen jeder Kleinigkeit für mich da sein. Und diese Aussage beruhte auf Gegenseitigkeit.

„Jetzt hör auf mir Scheiße zu erzählen.", fuhr ich ihn an. Mein schlechtes Gewissen wuchs nur noch mehr, wenn er mir zeigte, dass er seine wenigen Gefühle einfach wieder abgestellt hatte, nur weil ich nicht für ihn da war. Ich kannte das schließlich zu gut. „Ich komme zu dir.", sagte ich und legte auf, um mir keinen Widerstand an zu hören. 


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