33. Kapitel

„Hast du heute Abend zufällig Zeit?", fragte ich Becks am Freitag, während ich neben ihr an der Bar saß – das Café war wie die meiste Zeit ziemlich leer, also konnten wir reden.

„Grundsätzlich schon. Ich muss zwar noch bis neun arbeiten, aber danach habe ich Zeit, wieso?" Ich hatte schon seit mindestens zwanzig Minuten mit mir selbst gerungen, ob ich sie überhaupt fragen sollte. Es war mein Geburtstag und ich musste zuhause sein, um gemeinsam mit meinem Zwilling eine Party zu feiern, die nur einem von uns gefiel. Ich konnte nicht darüber entscheiden, ob ich versuchen sollte mir den Abend mit Becks zu verschönern, oder mich nicht doch lieber die ganze Zeit in mein Zimmer einschließen wollte. Im Endeffekt entschied ich mich dann doch für die erste Variante und zwang mich, die Frage laut aus zu sprechen.

„Lucas feiert heute seine Geburtstagsparty und da ich dadurch auch Geburtstag habe, muss ich ebenfalls da sein. Ich dachte, vielleicht könntest du auch kommen.", stammelte ich leise und sah unsicher auf meine Hände. Was, wenn sie keine Lust hatte? Becks war schließlich schon zwanzig – vermutlich hatte sie besseres zu tun, als mit einem Haufen betrunkener Teenager ab zu hängen. Zu meiner Überraschung tat Becks etwas, das vollkommen untypisch für die Verrückte war: Sie blieb stumm und starrte mich einfach nur mit großen Augen an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich mir am liebsten selbst für meine Frage in den Hintern gebissen hätte, sprang sie schlagartig von ihrem Stuhl auf und umarmte mich stürmisch. „Du wirst achtzehn und erzählst mir nichts davon?! Happy Birthday Süße!" Ich erwiderte ihre Umarmung, um nicht vom Barhocker zu fallen, doch ich konnte nicht verstehen was gerade los war. Normalerweise gratulierte mir niemand außerhalb meiner Familie und eine Antwort auf meine Frage hatte ich auch immer noch nicht erhalten.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, ließ mich meine einzige Freundin los und sah mir in die Augen. Ihre Hände lagen noch immer auf meinen Schultern: „Aber natürlich komme ich! Das wird sicher cool, außerdem werde ich so Lucas zu Gesicht bekommen – dann habe ich endlich ein Bild im Kopf, wenn du mir wieder einmal was von deinem bescheuerten Bruder erzählst." Sie lachte und langsam konnte ich mich wieder entspannen. Becks würde vorbei kommen. Es kam tatsächlich jemand, der mich und nicht meinen Bruder an meinem Geburtstag sehen wollte. Ich wusste, dass es komisch war, dass mich ihre bevorstehende Anwesenheit so sehr freute, aber sie verriet mir einfach, dass ich in Becks eine Richtige Freundin gefunden hatte. Eine Freundin, die mir helfen würde, den Abend zu überstehen.

Als am Abend das erste Mal die Tür klingelte, zuckte ich zusammen. Es konnte noch nicht Becks sein, sie würde erst später kommen, daher musste es unausweichlich jemand von Lucas Freunden sein, die mir allesamt Angst machten. Sollte ich ebenfalls runter gehen? Nein, das wäre vermutlich keine gute Idee. Aber woher wusste ich dann, wann Becks da sein würde? So wie ich sie kannte, würde sie unten neue Bekanntschaften machen und einfach so lange dort sitzen bleiben, bis ich herunter kam. Also machte ich mich irgendwann schweren Herzens auf den Weg ins Wohnzimmer, aus dem schon die ganze Zeit laute Musik dröhnte.

„Sam!", rief Lucas sofort und zog damit jegliche Aufmerksamkeit auf mich. Es würde wohl keine große Party werden, sondern nur etwa zehn seiner Freunde, die sich alle gemütlich unterhielten und dabei ihren Alkoholpegel steigerten. Es schien so, als hätten alle schon ein paar Gläser des puren Giftes in sich, das einen alle Hemmungen verlieren ließ, denn sobald ich den Raum betrat und mein Bruder auf mich aufmerksam wurde, zog er mich in seine Arme.

Sofort wurde ich stocksteif, ich wollte nicht von ihm umarmt werden. Ich wollte Lucas nicht so nah sein und ich wollte definitiv nicht so tun, als würden wir uns super verstehen. Also drückte ich meinen Bruder unsanft von mir, sodass ich endlich wieder atmen konnte. Ein Junge mit einer Bierflasche in der Hand fing an zu lachen: „Man Alter, das ich das noch erlebe: Sie ist wohl das einzige Mädchen, dass nicht in deiner Nähe sein will." Vielleicht hatte er keine Ahnung wer ich war, oder es war ihm einfach egal, aber seine Worte regten mich auf: „Halt die Klappe.", zischte ich ausgerechnet in dem Moment, als Marie die exakt gleichen Worte an den exakt gleichen Typen gerichtet hatte. Konnte das alles noch schlimmer werden? Ihr Blick wanderte zu mir und ich wurde rot, ich wollte definitiv nicht Maries Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Eigentlich wollte ich nur auf meinen einzigen Gast warten.

Als ich dann auch noch hörte, wie ein Mädchen, das ich noch nie in der Schule gesehen hatte, sich zu meiner Erzfeindin beugte und sie fragte, ob ich das Mädchen von dem Foto war, reichte es mir. Ich drehte mich um und verließ den Raum. Wie sollte ich jemals normal von Leuten wahrgenommen werden, wenn jeder Idiot dieses Bild von mir gesehen hatte? Wenn jeder mich halb nackt gesehen hatte? Wenn jeder einen Blick auf meine Narben geworfen hatte, für die ich mich unendlich stark schämte.

In der Küche war ich kurz davor den Kühlschrank zu plündern, um meine Laune zu steigern, doch die Chance, dass irgendeiner der Idioten, im Glauben hier das Badezimmer vorzufinden, herein stürmen würde, hielt mich davon ab. Zur Not konnte ich den Plan auch noch heute Nacht nachholen.

„Ich finde du solltest unseren Geburtstag nicht alleine verbringen!", meinte Lucas, der in diesem Augenblick zu mir in die Küche ging. Zum Glück steckte ich gerade nicht mitten in einer Fressorgie!

„Ich bin nicht alleine, eine Freundin kommt gleich vorbei.", antwortete ich nüchtern und hoffte, dass mein deutlich angetrunkener Bruder mich endlich in Ruhe ließ.

„Ach ja? Wer denn? Bis auf Alec sehe ich dich nie mit anderen Leuten und bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob ihr Freunde oder mehr oder weniger seid – ihr benehmt euch immer so merkwürdig." Was wollte er hier? Warum sprach er ausgerechnet Alec an? Es war doch offensichtlich, was Alec und ich waren, oder? Was waren wir denn genau? Vermutlich konnte man unsere Freundschaft nicht einfach als solche abtun, dafür war die Verbindung zu merkwürdig. Aber wir halfen uns schließlich, wenn der andere Hilfe brauchte und irgendwie verstanden wir einander – das machte doch eine Freundschaft aus.

Erst als Lucas zum Kühlschrank ging und ein paar weitere Bierflaschen heraus holte, wurde mir klar, dass er nicht wegen mir den Weg angetreten war. Enttäuschung machte sich in mir breit – das merkwürdige Gefühl sollte sofort aufhören.

„Vielleicht achtest du auch einfach nicht drauf.", traute ich mich endlich zu sagen, als mein Bruder schon beinahe wieder aus dem Zimmer gegangen war. Irgendwie hatte ich gehofft, er würde es überhören oder es wäre ihm egal, doch leider veranlassten sie ihn dazu, sich noch einmal zu mir um zu drehen: „Glaub mir, ich habe die meiste Zeit ein Auge auf dich, bist ja schließlich meine Schwester."

Als die Tür endlich klingelte und ich mir sicher war, dass es dieses Mal Becks sein musste, verließ ich meine Küche stürmisch. Ich wollte ihr unbedingt selbst die Tür aufmachen, wollte nicht, dass sie zu Lucas Freunden kam, bevor sie mit mir geredet hatte. Doch als ich in den Flur trat, hatte mein Bruder schon die Tür geöffnet.

„Sam!", rief Becks laut und drückte sich an Lucas vorbei, um mich zur Begrüßung zu umarmen. Sie sah toll aus – mit ihrer beinahe perfekten Figur betonte das bauchfreie Oberteil ihre Taille und ein Bauchnabelpiercing kam zum Vorschein, das Make-up saß perfekt und ihre pinken Haare waren geglättet. Auf einmal kam ich mir komplett unscheinbar vor, schließlich trug ich noch immer die gleichen einfachen Sachen wie am Nachmittag im Café.

„Das ist deine Freundin?", fragte Lucas ein wenig ungläubig, als wir die Umarmung gelöst hatten. Sofort schlich sich ein Lächeln auf Becks Lippen, dass ich noch nie vorher gesehen hatte und sie sagte mit koketter Stimme: „Hey, ich bin Becks – du musst Lucas sein, ich habe schon viel von dir gehört." Ich wäre fast im Erdboden verschwunden, musste sie tatsächlich erwähnen, dass ich vielleicht ein- zweimal über meinen Bruder gesprochen hatte?

Zu meinem Erstaunen ergriff Lucas freundlich ihre Hand und lächelte ebenfalls so merkwürdig. „Ich wünschte ich könnte dasselbe über dich sagen.", meinte er und schien sie mit seinen Augen beinahe zu verschlingen. Flirteten die beiden gerade?! Was ging hier ab?

„Willst du was trinken?", fragte ich schnell und führte Becks von meinem Bruder weg, ehe sich die beiden weiter anfreunden konnten. Wo war das Mädchen hin, das Jungs verabscheute?

„Du hast mir ja gar nicht gesagt, dass dein Bruder so heiß ist!", schimpfte sie, als wir die Tür der Küche hinter uns geschlossen hatten und uns Niemand mehr hören konnte.

„Findest du?", fragte ich und überlegte, ob Lucas tatsächlich so von allen Mädchen wahrgenommen wurde. Ich konnte sie nicht verstehen. „Was ist nur aus deiner Einstellung geworden, keine Typen mehr an zu himmeln?", fragte ich um mich ab zu lenken und grinste breit. Vor ein paar Stunden hatte sie mir noch lang und breit erklärt, dass sie von nun an weder ihrem ex-Freund, noch einem anderem Mann schöne Augen machen wird, doch bereits jetzt war das vergessen?

„Jetzt siehst du mal wie verloren ich bin!", antwortete sie theatralisch, lachte jedoch ebenfalls, ehe sie etwas ernster „Aber Lucas ist sowieso tabu, er ist schließlich dein Bruder." hinzu fügte. Irgendwie machte das Becks noch wesentlich sympathischer, als ich sie eh schon fand.

Einige Zeit später saßen wir zwar immer noch zu zweit in der Küche, hatten aber beide schon eine schöne Menge an Alkohol in uns. Wir tranken irgendein Mischgetränk mit Wodka und hatten schon so viele Gläser davon neu einschenken müssen, dass ich irgendwann den Überblick verloren hatte – doch es machte einfach Spaß mit Becks.

„Vielleicht solltest du einfach lesbisch werden!", gab ich meiner Freundin den ultimativen Ratschlag, um ihre Probleme mit Männern aus dem Fenster zu werfen. Es war die perfekte Lösung, doch Becks schien nicht ganz so begeistert zu sein und seufzte stattdessen laut.

„Und wie soll ich das anstellen? Ich bekomme ja schon Schnappatmung, sobald mir ein Typ schöne Augen macht – ich verfalle ihnen sofort! – bei Frauen ist mir das noch nie passiert.", sagte sie und schien tatsächlich traurig darüber zu sein. Ich merkte, wie sie schon ein wenig lallte – ging es mir genauso? Langsam stieg mir der Alkohol wirklich zu kopf.

„Ich denke wir sollten mal zu den anderen gehen!", meinte Becks auf einmal und schien so begeistert von der Idee, dass ich unmöglich abschlagen konnte. Außerdem hatte ich mir inzwischen genug Mut angetrunken, um sowohl meinen Bruder als auch Marie zu ertragen.

Gesagt, getan. Einen Augenblick später standen wir im Wohnzimmer, in dem sich inzwischen noch mehr Leute befanden. Einige tanzten sogar, aber die meisten saßen oder standen irgendwo und unterhielten sich angeregt. Alles in Allem schien es jedoch so, dass alle Spaß hatten und das freute mich. Vielleicht würden Becks und ich dadurch weniger auffallen, wobei wir vermutlich ein abstraktes Bild abgaben – vor allem jetzt, wo es uns beide ziemlich viel Mühe kostete, uns auf den Beinen zu halten.

„Da seid ihr ja wieder!", begrüßte uns Lucas und zog ausgerechnet den Jungen mit sich, der vorhin die blöde Bemerkung gemacht hatte. „Das ist übrigens Marco, ein guter Kumpel von mir.", stellte er ihn vor und ich nahm mir die Zeit, um den unsympathischen Jungen genau zu mustern. Er war ein Stück kleiner als ich, sah aber ansonsten gar nicht schlecht aus – vermutlich würde Becks auch ihm schöne Augen machen, wenn sie die Chance bekäme.

„Marco, das sind meine Schwester Sam und ihre Freundin Becks."

„Ach das erklärt warum sie dich nicht wollte, man! Vermutlich ist er unerträglich, wenn man jeden Tag mit ihm unter einem Dach verbringt, habe ich recht?", fragte er lachend an mich gewandt, doch mir war definitiv nicht zum Lachen zumute.

„Keine Ahnung, er war ja die meiste Zeit nicht da.", sagte ich ehrlich und verließ die kleine Runde. Ich brauchte jetzt dringend etwas zu trinken! Das letzte was ich wollte war, den Abend mit Lucas zu verbringen.

Am Tisch bemerkte ich Elena, das Mädchen aus der Schule mit dem ich meistens Partnerarbeiten hinter mich brachte. Sie war zwar mit Marie befreundet, hatte sich aber immer ordentlich gegenüber mir benommen, daher mochte ich sie.

Wir begrüßten uns und schnell setzte ich mich zu ihr, um uns etwas von der grünen Waldmeister Flasche ein zu schenken. Ich schnappte mir einfach zwei der kurzen Gläser auf dem Tisch – es war mir egal ob schon jemand aus ihnen getrunken hatte – und bestand darauf, einen mit ihr zu trinken. Aus einem wurden irgendwann zwei und das ging so lange weiter, bis Becks sich neben mich auf die Couch setzte. „Ist dir klar was das für eine Folter hier für mich ist?", fragte sie mich lachend, doch ich hatte mittlerweile Schwierigkeiten einen Punkt mit meinen Augen zu fixieren – offenbar hatte ich einen Kurzen zu viel getrunken. „Dein Bruder kennt so viele süße Typen – ich muss mir die ganze Zeit einreden, wie jung die alle noch sind und dass ich auf deiner Geburtstagsparty nichts mit jemanden anfangen kann."

„Wieso hat das etwas mit meinem Geburtstag zu tun? Du solltest einfach gar nichts mehr mit einem Typen anfangen und stattdessen lesbisch werden!", meinte ich immer noch überzeugt und dachte an Robin. „Vielleicht sollte ich das auch mal überlegen, dann passiert so etwas wie mit Robin nicht mehr und ich fange vielleicht doch noch mal an, mehr als nur leichtes Bauchkribbeln zu fühlen." Das dachte ich tatsächlich, vielleicht gab es so etwas Bescheuertes wie die große Liebe doch und ich hatte einfach nur bei dem falschen Geschlecht gesucht! Außerdem waren Mädchen weitaus unkomplizierter als Jungen und dachten nicht ständig an das Eine.

Ich schenkte uns beiden einen weiteren Kurzen ein und stieß mit meiner einzigen und besten Freundin an, ehe sie seufzend antwortete: „Glaub mir Süße, wenn das so einfach wäre, wäre ich sofort dabei." 


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