32. Kapitel

Am Montagmorgen machte ich mich beinahe verrückt – wie sollte ich diesen Tag überleben? Wie sollte ich Robin begegnen? Wie würde ich bei seinem Anblick reagieren? Wie würde Alec zu mir sein? Hatte Marie irgendetwas gegen mich geplant, da ich sie ausgelacht hatte? Die Fragen kreisten in meinem Kopf umher und schienen motiviert zu sein, noch eine Weile dort zu verweilen, denn auch in der Schule wollten sie mich nicht alleine lassen.

Ich hatte bis jetzt nur Marie gesehen, die mich zwar wütend beäugt, jedoch noch keinen Schritt gegen mich gewagt hatte. Sie saß zwei Reihen vor und flüsterte einer ihrer Freundinnen etwas ins Ohr. Beide kicherten. Lachten sie über mich? Ich zwang meine Paranoia in den Hintergrund zu treten und versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren.

„Das war ja wieder nichts.", murmelte meine Spanischlehrerin, als sie mir den Grammatiktest auf den Tisch legte. Alle Augenpaare drehten sich zu mir um – inklusive dem hämischen Grinsen von Marie und dem ausdruckslosen Blick meines Bruders. Ich nickte einfach nur und fing an den Test zu einer Papierkugel zu bearbeiten, sobald der Unterricht wieder aufgenommen wurde. Ich hatte jetzt wirklich keinen Nerv, mir auch noch über die Schule Sorgen zu machen.

Als es nach scheinbar unendlichen Stunden zur Pause klingelte, versuchte ich alles möglichst langsam zu machen. Ich wollte da nicht raus, wollte niemanden über den Weg laufen. Doch Lucas machte mir wie immer einen Strich durch die Rechnung.

„Wir fangen heute an mit der Nachhilfe.", kommandierte er und griff nach meinem zerknüllten Test. „Du wärst gar nicht so schlecht in der Schule, wenn du lernen würdest." Ich hatte keine Lust ihm zu erklären, dass mich das alles nicht im geringsten Interessierte und machte mich auf den Weg nach draußen.

Meine Pause wurde nicht besser, als mir Alec ins Auge fiel. Er sah mich nicht an, doch trotzdem konnte ich die Wut in seinen Augen sehen, erkannte wie sich sein ganzer Körper anspannte und sich seine Hände zu Fäusten ballten. Als ich seinem Blick folgte verstand ich.

Robin stand dicht neben uns und redete angeregt mit seinen Freunden. Sie schienen sich über seine Erzählungen zu amüsieren und ich wusste, dass er ihnen irgendwelche Geschichten über mich erzählte. Ich wusste es einfach.

Mir wurde schlecht, doch ich stand weiterhin wie angewurzelt auf dem Schulgang und schaute auf Robin. Wie konnte ich nur in all das hinein geraten? Erst eine Bewegung aus meinem Augenwinkel ließ mich aus meiner Erstarrung erwachen. Alec schritt bedrohlich auf den ehemaligen besten Freund meines Bruders zu und schlug ihm so fest ins Gesicht, dass ich es von meinem Standpunkt aus knacken hörte.

„Was macht er da?!", hörte ich die entsetzte Stimme meines Bruders, der immer noch neben mir stand. Was tat Alec da? Das wollte ich nicht, ich brauchte keinen Retter! „Alec.", rief ich wie in Trance und Schritt auf ihn zu. „Hör auf." Er hörte auf und sah mich an. Er verstand nicht, weshalb ich nicht wollte, dass er Robin Schmerzen zufügte. Dieser wurde inzwischen von einem seiner Kumpels gestützt und funkelte Alec wütend an: „Wo ist eigentlich dein Problem?!", schrie er und schien plötzlich wieder mutig geworden zu sein, sobald sich Alec ein Stück von ihm entfernt hatte und stattdessen zu mir und Lucas ging.

„Man, was sollte das? Du bist echt verrückt." Lucas sollte besser den Mund halten, Alec schien in diesem Augenblick ziemlich aufgebracht.

„Sami, er verdient, dass ich ihn...", zische der Junge mit den eisblauen Augen. Er konnte sich nur schwer beherrschen, doch ich unterbrach ihn sofort. „Nein, Alec. Es ist nicht deine Sache." Und mit diesen Worte setzte ich mich in Bewegung. Ich musste das selber klären, musste selber deutlich machen, dass ich stark genug war.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Lucas mich am Arm packen wollte, aber von Alec zurück gehalten wurde. Er schien meine Intentionen verstanden zu haben.

„Du Miststück hetzt deinen Aggro-Freund auf mich los?", stellte Robin fest und riss sich aus dem stützenden Griff seines Kumpels, um sich mir gefährlich zu nähern. Auf einmal fühlte er sich wieder überlegen und ließ den Macker heraus hängen – dieser Feigling.

Ich hatte aufgepasst, wie genau Alec zugeschlagen hatte und auf einmal wusste ich genau was zu tun war. Ich brauchte ihm nichts zu sagen – vermutlich hätte das sowieso in einem peinlichen Tränenmeer geendet – stattdessen holte ich aus und schlug Robin mitten ins Gesicht. Ich gab ihm keine Ohrfeige, wie Mädchen in Filmen es immer taten, sondern schlug ihn so stark ich konnte mit meiner geballten Faust. Ich wollte, dass es ihm weh tat.

„Du kleines fettes Miststück.", knurrte Robin und holte aus. Ich wappnete mich innerlich für den Schlag, doch er blieb aus. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie mir Lucas zu Hilfe gekommen war und sich hinter mich gestellt hatte. Jetzt fing er Robins schlag auf, bevor dieser meinen Körper erreichte.

„Lass gefälligst meine Schwester in Ruhe.", zischte er so gefährlich, dass sogar ich eine Gänsehaut bekam. Robin verschwand mit seinen Freunden und warf mir zum Abschied einen vernichtenden Blick zu, mit dem ich ihm nicht nachts begegnen wollte. Seine Nase blutete ziemlich stark.

Es ging alles so schnell, kaum hatte ich realisiert was geschehen war, fand ich mich auch schon im Zimmer der Sekretärin wieder und wartete gemeinsam mit Lucas und Alec auf den Direktor. Irgendeiner von Robins feigen Freunden hatte bei den Lehrern gepetzt, sodass wir tatsächlich als Täter dargestellt wurden.

„Was war das gerade?", fragte Lucas leise und sah abwechselnd von mir zu Alec. Ich realisierte, dass er mir geholfen hatte, ohne auch nur den leisesten Schimmer von meinen Beweggründen gehabt zu haben. „Verdammt, redet mit mir!", schrie er nun schon beinahe und ich zuckte zusammen. Erst jetzt merkte ich, wie die Anspannung der letzten Minuten von mir abfiel und sich Tränen in meinen Augen bildeten. Normalerweise weinte ich nie und jetzt heulte ich schon das zweite Mal innerhalb weniger Tage herum, wie ein kleines Kind?!

„Sami.", sagte Alec leise und lenkte so meine Aufmerksamkeit auf sich. „Nicht hier." Er hatte Recht, ich musste stark bleiben. Ich durfte keine Schwäche zeigen – wer Schwäche zeigte wurde fertig gemacht. Es half und meine Tränen verschwanden bevor sie über meine Wange kullern konnten.

„Du hättest mal erwähnen sollen, dass es scheiße weh tut, jemanden zu schlagen.", meine ich leise und lachte dabei. Ein Blick auf meine Fingerknöchel verriet mir, warum sie so schmerzten – eine grünliche Farbe hatte sich auf meiner Haut gebildet. Damit hätte ich nun wirklich nicht rechnen können, vermutlich hatte ich mich mehr verletzt als Robin.

Alec stieß sofort in mein Lachen ein: „Jetzt verstehst du mein Dilemma.", meinet er und zeigte mir tatsächlich seine Grübchen, die er normalerweise jedem verwehrte. Ich sah nur Alec an und wagte es nicht, den Blick von ihm zu nehmen. Einerseits wollte ich einfach weiter lachen und kein großes Ding aus der Sache machen, andererseits war sein Anblick angenehmer als die besorgte Miene von Lucas und hielt meine Tränen zurück. „Lohnt sich der Schmerz wenigstens?", fragte Alec und sah mich vielsagend an. Er wusste die Antwort schon längst, trotzdem sprach ich sie noch einmal aus: „Nichts hat sich je so gut angefühlt." Ich konnte mich selbst verteidigen und hatte dabei keine einzige kindische Träne vergossen – dieser Tag war definitiv ein Erfolg.

„Was ist bloß los mit euch? Geben wir euch in letzter Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit? Ihr wisst doch, dass wir über alles reden können.", meinte Paps verzweifelt, als er Lucas und mich aus der Schule abholte. Wir wurden, so wie Alec, für den restlichen Tag suspendiert und sollten uns „über unser Verhalten klar werden". Ich hatte zwar versucht zu erklären, dass sowohl Lucas als auch Alec mir nur helfen wollten, doch trotzdem wurden wir drei gleich bestraft, während Robin seelenruhig auf der Krankenstation lag und seine Freistunde genoss.

Vielleicht hätten Alec und ich die Strafe abmildern können, wenn wir mit der Wahrheit herausgerückt wären, doch weder er noch ich verrieten mein Geheimnis. Lucas schien beinahe zu verzweifeln, weil ich mich weiterhin weigerte mit ihm zu reden, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Was ich getan hatte, das war so unvorhergesehen, so impulsiv, so erfüllend, dass ich mir selbst zuerst über einige Dinge im Klaren werden musste. Ich hatte Robin geschlagen, hatte ihm Schmerzen zugefügt, während die Initiative von mir ausging. Mir war zwar bewusst, dass es nicht richtig war einen Menschen körperlich anzugreifen, doch das berauschende Gefühl schien mich eines Besseren belehren zu wollen. Auf einmal verstand ich Alec, der sich nicht alles gefallen ließ, sondern lieber um sich schlug. Es machte Sinn. Ich hatte mich so Mächtig gefühlt, vermutlich spürte Alec jedes Mal genau das Gleiche.

„Entschuldige Paps.", murmelte ich leise. Ich sah mich im Recht, doch das konnte ich nicht erklären, ohne die ganze Wahrheit zu erwähnen.

„Du bist doch mein kleines Mädchen – ich mache mir einfach Sorgen.", murmelte Paps und verschwand kurz darauf wieder, um den Einkauf zu erledigen. Es wunderte mich, dass er mich und Lucas alleine zuhause ließ, aber da wir uns beide weigerten ihn zu begleiten, ließen wir ihm wohl keine große Wahl.

„Man Sam, was war das?", versuchte es Lucas erneut, doch ich wollte ihm nichts erklären. Ich fühlte mich endlich einmal gut und stark, das wollte ich nicht gleich wieder zerstören.

„Es war Robin, richtig? Der, der dir die Wunden zugefügt hat.", schlussfolgerte mein Bruder leise und erinnerte mich leider wieder an den beschissenen Tag, den ich eigentlich aus meinem Gedächtnis verbannen wollte.

„Kümmere dich um deine eigenen Sachen. Ruf Marie an und spiele heile Welt – mach einfach das, was du sonst auch immer tust." Ich hatte seine Worte nicht abgestritten, das glich für meinen Bruder einer Zustimmung.

„Scheiße, ich dachte er wäre mein Freund. Wie kann er dir so etwas antun?"

„Er hat aufgehört dein Freund zu sein, als du ihn genauso verlassen hast, wie alles andere in deinem Leben." Es machte mich so unendlich wütend, dass Lucas das nicht zu verstehen schien.

Ich wollte mich umdrehen und nach oben in mein Zimmer gehen, aber Lucas hielt mich zurück: „Bleib hier, ich muss dir noch Nachhilfe geben.", brummte er und ließ meine vorherige Aussage unkommentiert.

„Warum?! Es ist doch für uns beide bloß Zeitverschwendung."

„Aber irgendwie muss ich endlich das Vertrauen von Papa wieder bekommen. Ich werde fast verrückt bei diesem inoffiziellen Hausarrest!"

„Du musst ja was ziemlich Schlimmes gemacht haben.", antwortete ich ruhig – setzte mich aber zu ihm an den Tisch. Vielleicht erzählte mir Lucas endlich die ganze Geschichte, meine Neugier siegte über meine Vernunft.

„Wenn du wüsstest.", stimmte mir mein Bruder vielsagend zu und kramte in meiner Schultasche nach meinen Notizen. Er fragte nicht einmal, ob er auf diese Weise in meine Privatsphäre eindringen dürfe. Er zog einen zerknitterten Zettel aus meiner einzigen Mappe und sah ihn sich verwirrt an. „Ist das alles?", fragte er und sah auf die vielen Fragezeichen, Kreise und Striche, die ich aus Langweile auf das Blatt gezaubert hatte. Ich machte mir normalerweise nicht die Mühe, die Worte des Lehrers aufzuschreiben – ich kapierte sowieso nichts.

„Hör auf mich so geschockt anzusehen.", sagte ich, ehe ich das wesentlich interessantere Thema wieder zum Vorschein brachte. „Dann erklär mir doch zuerst mal, warum Papa und Paps so sauer auf dich sind."

„Ich dachte du interessierst dich nicht für mich.", bemerkte Lucas und schmunzelte. Er zog mich auf und bildete sich zu viel ein, ich hatte ihm noch lange nicht verziehen.

„Das tue ich auch nicht. Ich will nur endlich selbst abschätzen können, wie lange du noch hier zu Hause rumhängen musst, bevor ich endlich wieder meine Ruhe habe.", sagte ich schlicht und dachte dabei an Marie. Wenn Lucas wieder öfters rausgehen durfte, würden sie sich hoffentlich nicht mehr hier treffen.

„Noch ein paar Tage – dann sind wir volljährig und können selbst entscheiden, schon vergessen?" Zwinkerte mir Lucas gerade etwa wirklich zu? Er dachte wohl tatsächlich dass ich dieses Bruder-Schwester-Ding langsam an mich heran lassen würde. Aber da irrte er sich gewaltig.

„Wie könnte ich das vergessen? Du bettelst schließlich schon seit Tagen um diese blöde Party." Ich wollte nicht daran denken, dass meine Väter am Wochenende mit Elias zu Oma fahren und mich alleine mit einem Haufen Verrückter betrunkener Leute alleine ließen. Ich hatte versucht sie zu überreden, doch Paps meinte nur, dass es mir gut tun würde, mal etwas mit Leuten in meinem Alter zu machen. Ich verstand jedoch nicht, was daran so toll sein sollte – vermutlich hatte Paps wieder mal zu viele pädagogische Zeitschriften gelesen.

„Ach was, das wird bestimmt lustig. Du bist auch herzlich eingeladen, dich zu mir und meinen Freunden zu gesellen – sie beißen nicht." Lucas schien unsere Unterhaltung ziemlich zu genießen, aber vermutlich tat er das nur, weil er nicht die ganze Geschichte kannte. Seine Freunde – hauptsächlich Marie – bissen zwar nicht, spuckten aber nur zu gerne. Auch Kratzen und dutzende verbale Angriffe konnte ich auf die Liste schreiben.

„Ne lass mal, ich will weder mit dir, noch mit deinen Freunden meinen Geburtstag feiern." Wieso ließ er nicht locker? Wieso spielte Lucas so nett, nach allem was er mir angetan hatte?

„Unseren Geburtstag.", korrigierte er mich und ich schlug demonstrativ mein Buch auf. Es war nicht unser Geburtstag, ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr geteilt und war damit recht zufrieden. Ich tat jedes Jahr aufs Neue so, als hätte ich keinen Zwilling und jetzt, wo ich diese Fantasie perfektioniert hatte, sollte ich damit aufhören? Das konnte und wollte ich nicht.





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