31. Kapitel
„Meine Freundin braucht ein paar Schmerztabletten.", forderte Becks, als wir beide das Krankenhaus betraten. Sie sprach die erste Frau im weißen Kittel an, die ihr über den Weg lief. Sie hatte sofort eingewilligt, mich zu begleiten, als ich ihr von meiner Schulter erzählt hatte und fand es nicht für nötig, mich wegen der ganzen Sache aus zu quetschen. Ich meinte nur kurz, dass Robin nun Geschichte sei und das genügte ihr.
„Dann melden sie sich an und warten wie alle anderen auch.", sagte die Frau unfreundlich und deutete auf das volle Wartezimmer. Ich kannte sie nicht und war froh darüber, dass Papa den Tag heute zuhause verbrachte, um einige Zeit bei Elias zu sein, der inzwischen auf unserer Couch lag, sodass ich nicht in Erklärungsnot gelangen würde. Doch ich hatte keine Lust, hier den ganzen Tag zu verbringen, also ließ ich meine Beziehungen spielen:
„Hat Dr. Erika Müller heue Dienst?", fragte ich daher ernst und erntete zwei überraschte Blicke. Offenbar hatten weder Becks, noch die Ärztin damit gerechnet, dass ich das Wort ergreifen würde.
„Äh, ja. Sind sie eine Freundin von ihr?", fragte die Frau in dem weißen Kittel verwundert.
„Ich kenne sie seit meiner Kindheit und sie wird sicher wissen wollen, dass ich hier bin. Könnten Sie ihr Bescheid sagen, während meine Freundin und ich hier auf sie warten?" Ich versuchte bestimmend zu klingen und keinen Ausweg zu zulassen und offenbar schien ich damit Erfolg zu haben. Ich hatte es satt, die ängstliche zu spielen. Hatte es satt, dass Lucas mich beschützen wollte, dass Alec mich so verletzlich gesehen hatte, dass niemand mich ernst nahm. Damit würde jetzt Schluss sein, ich musste anfangen etwas zu ändern.
„Du hast mir ja gar nicht erzählt, dass du hier eine Ärztin kennst. Ach man, ich hatte mich schon darauf gefreut einen kleinen Aufstand zu fabrizieren.", meine Becks leise, als die Ärztin mit einem Nicken verschwunden war. Ihre Worte zauberten mir ein kleines Lächeln auf die Lippen – sie hätte sich wirklich für mich eingesetzt.
„Ich kenne hier ein paar Leute, mein Vater arbeitet hier, aber er hat heute keinen Dienst.", erklärte ich schnell und sah aus dem Augenwinkel wie die Tür aufging und Erika aus dem Aufzug stieg. Sie trug wie bei unserer letzten Begegnung einen strengen Dutt, doch ihr breites Lächeln ließen sie wieder jünger aussehen. Ich erinnerte mich nur zu gern, an die vielen Stunden, die Lucas und ich damals mit ihr im Krankenhaus verbracht hatten und wie sie uns trotz allem irgendwie lieb gewonnen hatte – das wäre nicht vielen Leuten so ergangen. Mein Bruder und ich hatten schließlich alles dafür unternommen, um sie zu ärgern.
„Was machst du hier?", fragte sie, nach dem sie mich leicht an sich drückte. „Hallo, ich bin Erika. Du musst eine Freundin von Sam sein." Sie gab meiner neuen Freundin die Hand und führte uns in ein Nahegelegenes Krankenzimmer.
„Bitte erzähl Papa nichts davon, aber ich habe mir irgendwie die Schulter verdreht und bräuchte jetzt einfach ein paar Schmerztabletten.", sagte ich und hoffte inständig, dass Erika mich nicht verraten würde. Papa würde vermutlich die gleichen Schlüsse wie Lucas ziehen, nur dass er sich nicht so leicht abwimmeln ließ.
„Keine Sorge, ich sage nichts, aber zieh mal bitte den Pullover aus.", meinte Erika und beäugte mich komisch. Was sollte ich sagen, wenn sie genau wissen wollte, wie ich die Wunden an meinen Armen bekommen hatte? Zuhause konnte ich die ganzen blauen Flecke um meine Handgelenke durch die langen Ärmel des Pullovers verdecken, doch wenn ich etwas gegen die Schmerzen an meiner Schulter haben wollte, war es wohl unmöglich, die anderen Blessuren zu verbergen.
Umständlich zog ich mir den Stoff über den Kopf und hörte wie Becks erschrocken auf keuchte, noch bevor ich meinen Kopf aus dem Pullover befreit hatte. „Sam!", murmelte sie mitfühlend und blickte zu der Ärztin.
„Es ist halb so wild.", sagte ich und versuchte meine Handgelenke unter meinen Händen zu verbergen. Die blauen Flecken taten kaum weh, sahen jedoch viel zu schlimm aus. Sie hatten sich über Nacht entwickelt und ich bin nicht sicher, ob Alec sie ebenfalls zu sehen bekommen hatte. Wenn doch, tat er hoffentlich nichts Unüberlegtes – ich würde schließlich alleine mit Robin fertig werden.
„Wie ist das passiert Samantha?", fragte Erika ernst und wirkte einmal mehr wie die erwachsene Ärztin, zu der ihr strenger Dutt bestens passte. Ich mochte die junge Frau mit dem seitlichen Pferdeschwanz und den bunten Armbändern lieber.
„Es ist nichts womit ich nicht fertig werden würde, kein Sorge.", antwortete ich und deutete auf meine Schulter. „Jedoch tut die hier ziemlich weh. Könntest du mir also bitte einfach ne Packung Schmerztabletten verschreiben oder soll ich einfach wieder gehen?", fragte ich schroff und wusste, dass ich gemein klang. Doch es war mir egal, ich wollte Erika zwar nicht vor den Kopf stoßen, aber es ging sie nun mal nichts an. Selbst Becks würde ich nichts davon erzählen wollen, Alec war der einzige der es wissen durfte.
„Okay, dreh dich bitte um, ich muss mir die Schulter genauer ansehen.", sagte sie leise und ich folgte ihren Anweisungen sofort. Es war mir unangenehm, aber während des ganzen Abtastens sagte keiner ein Wort. Becks sah mich die ganze Zeit besorgt an, doch selbst sie hielt ihren Mund.
„Ich gebe dir eine Salbe mit, die du bitte jeden Abend aufträgst. Wenn du merkst, dass es am Tag schlimmer werden sollte, dann schmiere deine Schulter dann auch noch mal ein – aber versuche s erst einmal nur abends."
„Danke.", meinte ich ehrlich, doch offenbar war Erika noch immer unschlüssig, was sie von meinem kleinen Wutausbruch halten sollte. „Ich werde damit fertig – ehrlich gesagt bin ich schon damit fertig geworden. Der andere wird wohl in nächster Zeit ebenfalls ein paar Spuren an seinem Körper tragen.", übertrieb ich, um die beiden Anwesenden zu beruhigen und verfehlte meine Absicht nicht. Ich merkte, wie Erika mir ein kleines Lächeln zuwarf.
„Das ist gut, aber bitte pass auf dich auf. Ich bin zwar immer gerne für dich da und werde deinem Vater natürlich nichts verraten, aber trotzdem würde ich mich freuen, dich nicht mehr so oft im Krankenhaus zu sehen." Ich gab ich ihr lächelnd recht und verließ kurz darauf mit Becks das große Gebäude.
„Was meintest du damit, dass der andere ebenfalls ziemlich zugerichtet ist?! Du hast Robin ebenfalls verprügelt?" Es schien, als wäre Becks beinahe geplatzt, so schnell redete sie auf einmal. Vorhin war sie noch nicht so neugierig gewesen, vermutlich hatten meine Handgelenke auch ihre Gelassenheit vertrieben.
„Robin hat mich nicht wirklich verprügelt.", antwortete ich gelassen, um die Situation herunter zu spielen. Ich sagte schließlich die Wahrheit, ließ nur ein paar Details aus. „Und ich habe ihm dafür ziemlich hart dahin getreten, wo es hoffentlich ziemlich weh tat.", setzte ich noch leise hinzu und erntete dafür ein unheimlich lautes Lachen von Becks.
„Du hast dem Arsch in die Eier getreten?!", fraget sie so laut, dass sich ein paar Passanten zu uns umdrehten. Ich war zwar überrascht über ihre direkte Formulierung, allerdings musste ich ebenfalls lachen, als ich ihre Frage mit einem Nicken beantwortete. „Das hat er eindeutig verdient! Ich dachte, ich falle vom Stuhl, als ich deine Hände gesehen habe, aber immerhin scheint er das bekommen zu haben, was er verdient!"
Am Nachmittag dieses Sonntages hielt ich es nicht mehr zuhause aus. Ich hatte Becks vorhin kurz zum Café gebracht, doch jetzt musste sie arbeiten und ich hatte nichts zu tun. Das einzige was ich in den paar Stunden zuhause erledigt hatte, war eine halbe Seite aus meinem Buch zu lesen, doch das Wissen, dass Marie mal wieder bei mir Zuhause war, da unsere Väter Lucas nicht erlaubten sie außerhalb zu treffen, und meine Gedanken die immer wieder zu den Geschehnissen des letzten Tages wanderten, hinderten mich daran, etwas produktives zu erledigen. Also tat ich das einzige, was mir einen klaren Kopf verschaffen konnte: Ich schnappte mir meine Kamera.
„Wie süß, sie fotografiert.", ertönte die helle Stimme und schien in diesem Augenblick noch eine Oktave höher zu schallen. Marie stand im Flur und hielt Lucas Hand fest in ihrer. Er stand mit nacktem Oberkörper hinter ihr und schaute mich überrascht an. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was die Ursache seines fehlenden T-Shirts war.
War ja klar – kaum verließ ich das erste Mal seit Stunden mein Zimmer, musste ich den beiden über den Weg laufen. Konnte dieses Mädchen nicht einmal etwas unkommentiert lassen? Ich sah auf meine Kamera und dann wieder auf Marie. Nach allem, was mir in der letzten Zeit passiert war, kam mir ihre Anwesenheit lange nicht mehr so bedrohlich vor. Ich sah sie weiterhin an und merkte, wie bescheuert unsere Beziehung all die Jahre ausgesehen haben musste. Ich war einen halben Kopf größer und viel breiter als das kleine zierliche Mädchen – ich fing an zu lachen. Wie konnte ich nur so bescheuert sein? Sie hatte doch nur so eine Macht über mich, weil ich es zuließ.
Also tat ich das einzige, was mir nach so einem Tag – nach so einer letzten Zeit – richtig erschien: Ich fing an zu lachen. Ich lachte so stark, dass mein Bauch weh tat. Lachte über Marie, die so eine Macht über mich hatte, die mir mein Leben zur Hölle machte. Lachte über meinen Bruder, der einfach wieder in meinem Leben aufgetaucht war. Lachte über Robin, der sich tatsächlich mit mir abgegeben und über den Tritt, den ich ihm dafür verpasst hatte. Ich lachte um nicht zu weinen.
„Jetzt dreht sie vollkommen durch.", kommentierte Marie an Lucas gewandt und drängte sich dichter an ihn heran. Offenbar hatte sie Angst, ich könne ihr etwas antun. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich zugeben, dass Marie Bell recht hatte: Ich wollte ihr weh tun. Wollte ihr genau so weh tun, wie ich Robin weh getan hatte. Wollte sie schlagen, ihr klar machen, dass ich stärker war – doch das tat ich nicht. Ich war nicht so wie Alec, ich prügelte mich nicht und wollte definitiv nicht damit anfangen. Also drehte ich mich um und bezwang lachend den Weg nach draußen.
Leider war die Ausbeute im Winter lange nicht so gut, wie noch vor einem Monat. Die Tage wurden kürzer, die Sonne ließ sich kaum noch blicken und die Kälte hielt die meisten Menschen in ihren Häusern. Kaum eine Menschenseele war außerhalb ihres Autos zu sehen, sodass ich kaum Motive vor meine Linse bekam. Einzig eine kleine Familie – Mutter, Vater und zwei kleine Kinder – schienen Lust auf einen Spaziergang und sich nach draußen gewagt zu haben. Das kleine Mädchen lachte, als sie den Jungen in ihrem alter die Zunge herausstreckte und dann voraus lief. Ich machte ein Bild. Der Junge folgte ihr so schnell er konnte, doch sie schlug Haken um ihm aus zu weichen. Die beiden Eltern schienen frisch verliebt zu sein und hielten die ganze Zeit Händchen. Ich machte noch ein Bild.
Irgendwie warf die Situation Fragen in mir auf, denn die beiden Kinder waren nicht älter als vier. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an meine eigene Kindheit, bevor Lucas und ich zu unseren Vätern gekommen waren. Ich wusste nur aus Erzählungen, dass es gut wäre, dass ich nichts mehr wusste – doch nie hatte mir jemand Einzelheiten erzählt. Wir waren mit fünf zu ihnen gekommen und im Grunde fing dort erst mein Leben an. Fotos wurden gemacht und mein früheres Leben wurde zum roten Tuch, das niemals wieder angesprochen wurde. Mir war klar, dass Lucas sich erinnerte. Der Junge mit dem Superhirn konnte so viele Dinge behalten, vermutlich wusste er sogar noch wie unsere Eltern aussahen, oder wieso sie uns weggegeben haben – doch er redete nicht darüber.
„Wieso hast du zwei Papas?", fragte Larissa, während wir in ihrem Zimmer saßen und mit Tusche die Weihnachtsgeschenke für unsere Eltern zu malten. Maja war auch da, schließlich war sie ebenfalls meine beste Freundin, doch sie war meistens ziemlich schweigsam und bildete somit das komplette Gegenteil zu mir.
„Hab ich doch gar nicht.", sagte ich überrascht. Sie wusste es doch eigentlich genau: „Ich habe einen Papa und einen Paps.", erklärte ich ihr aufrichtig, für den Fall, dass sie es vergessen hatte.
„Ich weiß doch, aber wieso hast du keine Mama?", hakte Larissa weiter nach, während Maja und ich unsere Bilder malten. Ich zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Das wollte mir keiner sagen, aber das ist auch nicht schlimm. Ich brauche doch keine Mama." Ich hatte zwar schon oft nachgefragt, aber immer sind mir alle Ausgewichen. Nur Lucas hat mir ins Gesicht gesagt, dass ich endlich aufhören solle zu nerven, da mir eh niemand antworten würde. Seit dem hatte ich mich nicht mehr getraut zu fragen.
Ich erinnerte wie ich nach dem Tag bei Larissa nach Hause gegangen bin und Paps noch ein letztes Mal gefragt hatte, aber er entschied sich dagegen, mir eine Antwort zu geben und seit dem hatte ich es endgültig aufgegeben. Ich hatte es damals schließlich schon richtig erkannt: Ich brauchte keine Mutter.
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