26. Kapitel

„Wollt ihr auf eines von euren Zimmern gehen, oder bleibt ihr in der Küche?", fragte Paps und schien ziemlich aus dem Häuschen zu sein. Er hätte vermutlich Luftsprünge gemacht, als Lucas ihm von unseren bevorstehenden Besuchern erzählt hatte, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre. Denn während mein Bruder sich sichtlich darüber freute, den Nachmittag mit seiner Angebeteten zu verbringen, war für mich alleine das Wissen auf ein paar bevorstehende Stunden mit Marie in meinem eigenen Haus, die pure Folter.

„Ich denke wir gehen auf mein Zimmer, das ist gemütlicher als die Küche und Sam wird sicher etwas dagegen haben, dass wir uns in ihren heiligen vier Wänden treffen.", sagte Lucas ohne gemein zu klingen und sah mich mit einem merkwürdigen Blick an. Seit der Sache vor ein paar Stunden in der Schule, hatte er mir diesen Blick des Öfteren geschenkt und mir allgemein viel mehr Beachtung gegeben, als noch am Vortag. Ich verfluchte mich für meine Schwäche, jetzt hatte ich den Salat.

Paps setzte gerade an, um etwas Freudiges zu erwidern – vermutlich wollte er verkünden, für uns alle zu kochen oder wenigstens Schnittchen zu machen – als das Telefon klingelte. Ich war unheimlich froh über diese Ablenkung, schließlich konnte ich somit legal aus der Küche verschwinden, ohne gleich ins Kreuzverhör genommen zu werden.

„Samantha Simons.", meldete ich mich und hielt unser Telefon an mein Ohr. Ich hatte damit gerechnet, dass irgendwer meinen Vater sprechen wollte oder uns jemand einen überteuerten Staubsauger andrehen wollte, aber nichts dergleichen geschah.

„Sam, Schatz. Kannst du mir mal Paps geben?" Es war Papa, obwohl er normalerweise nie anrief, wenn er auf der Arbeit war – also musste es wirklich wichtig sein.

„Was ist los?", fragte ich daher misstrauisch.

„Elias ist wohl nach der Schule mit Emma unterwegs gewesen und die beiden haben sich mit ein paar anderen geprügelt. Jetzt sitzen die beiden im Nebenzimmer – Emma will unter keinen Umständen, dass ich ihre Eltern anrufe und Elias muss wohl eine Nacht hier zur Beobachtung bleiben. Das Problem ist, dass ich jetzt weiter arbeiten muss und die beiden nicht alleine lassen will.", antwortete mir Papa ehrlich. Elias hatte sich geprügelt? Das sah ihm absolut nicht ähnlich – der Junge hielt ja sogar die meisten Playstationspiele zu brutal, die die anderen Jungen in seiner Klasse spielten und wich daher lieber gemeinsam mit mir auf MarioKart aus!

Ich reichte das Telefon sofort weiter an Paps, als ich die Nachricht verdaut hatte. Wieso prügelte sich der Kleine einfach? Hatte es etwas mit Emma zu tun? Sofort schämte ich mich für den Gedanken, ihr die Schuld zu geben, allerdings konnte ich nicht verhindern, weiterhin einen Zusammenhang zu sehen. Hatte mein Bruder etwa das Mädchen seiner Träume beeindrucken wollen? Das passte allerdings gar nicht zu ihm.

„Was ist denn jetzt genau passiert?", fragte der Junge mit den eisblauen Augen, als ich ihm die Haustür öffnete. Nachdem Paps ins Krankenhaus gefahren war, um nach den beiden Kleinen zu sehen und versprochen hatte, Emma erst hier her zu bringen, bevor er ihre Eltern anrief, hatte ich die Sache selbst in die Hand genommen und Alec Bescheid gegeben. Ich musste es tun, er hatte schließlich ein Recht darauf, zu erfahren was passiert war.

Natürlich hatte er nicht zugelassen, dass ich ihn kurz übers Telefon informierte, sondern war sofort zu mir gefahren – zumindest lenkte mich sein Auftauchen von der Tatsache ab, dass Marie in weniger als einer Stunde bei mir zuhause sein würde.

„Komm erst einmal rein.", meinte ich und trat einen Schritt zurück. „Es dauert vermutlich noch ein bisschen, bis Paps mit Emma her kommt, er muss erst noch den ganzen Papierkram erledigen, weil Elias die Nacht über da bleiben muss."

„Was ist denn passiert?!", meinte Alec völlig verzweifelt und trat ein. Ich führte ihn die Treppen nach Oben und von da aus in mein Zimmer – zum Glück war es einigermaßen aufgeräumt – damit er nicht mit Lucas zusammen stieß, der hier auch irgendwo herum schwirrte.

„Ich weiß auch nichts Genaues.", nahm ich seine Frage wieder auf und konnte sehen wie die Verzweiflung in seinem Blick in Sorge umschweifte. Also fuhr ich fort und setzte mich auf mein Bett, Alec folgte mir, ließ allerdings genügend Abstand zwischen uns: „Papa hat mir nur gesagt, dass die beiden – Elias wohl wesentlich mehr, als Emma – in eine Schlägerei verwickelt waren. Ich weiß nicht, wer noch alles beteiligt war, nur dass Elias vermutlich eine Gehirnerschütterung hat und Emma einen riesigen Aufstand gemacht hat, damit niemand bei ihr Zuhause anruft.", sagte ich und hielt einen Moment inne, um Alecs Reaktion sehen zu können.

„Shit.", murmelte er leise und vergaß wohl für einen Moment seine Maske zu waren. Als er mich wieder in Erinnerung rief, setzte er sich ein bisschen Aufrechter hin und räusperte sich einmal. „Also hast du mich heimlich angerufen? Warum solltest du das tun?" Dieses Mal war er an der Reihe die Reaktion des Gegenübers zu analysieren.

Warum hatte ich ihn eigentlich angerufen? Klar, ich wollte jemanden aus Emmas Familie Bescheid geben, weil ich das als einzig Richtig ansah, allerdings wäre es doch nahe liegender gewesen, ihre Eltern zu verständigen. Ich hätte Lügen können und sagen, dass mein Handy, mit Alecs Nummer, einfach näher gelegen hatte als das Telefon mit der normalen Telefonnummer der Pechts, aber Alec hätte eine von meinen Lügen sowieso sofort enttarnt.

Stattdessen versuchte ich so ehrlich wie möglich zu sein, ohne gleich paranoid zu wirken: „Es muss einen Grund gegeben haben, warum Emma so eine Angst hatte, eure Eltern in Kenntnis zu setzen. Das war vermutlich das gleiche wie damals, als ich bei euch anrufen musste, weil sie sich nicht traute. Irgendetwas stimmt nicht und ich wollte nichts schlimmer machen.", sagte ich Achselzuckend und versuchte nicht zu involviert zu klingen, schließlich ging es mich im Grunde wirklich nichts an.

„Und dann rufst du mich an? Könnte ich nicht auch der Grund sein, warum Emma nicht Bescheid sagen wollte?", stellte Alec die nächste Frage und wirkte auf einmal so ernst, dass ich mir beinahe sicher war, ins Schwarze getroffen zu haben. Jedoch hatte ich absolut keine Ahnung was das bedeutete – vielleicht waren Emmas und Alecs Eltern einfach nur extrem streng und würden ihr Hausarrest geben, jedoch sagte mir mein Gefühl, dass da noch mehr hinter stecken musste. Ich hatte nur einfach keine Ahnung, was es sein könnte.

„Du sorgst dich dafür zu sehr um sie und ich denke nicht, dass Emma das anders sieht.", antwortete ich ehrlich. In seiner Gegenwart fiel es mir ziemlich einfach, die Wahrheit zu sagen – vermutlich weil der Junge mit den eisblauen Augen sowieso schon zu undurchschaubar war. Da wollte ich nicht alles komplizierter machen, als es eh schon war.

„Du scheinst dir ja viele Gedanken über meine Familie zu machen.", erkannte Alec und wirkte nicht allzu begeistert davon. Er sah mich mit dem gleichen kalten Ausdruck in seinen Augen an, mit dem er auch meinen Bruder angesehen hatte, noch bevor dieser Alec K.O. geschlagen hatte.

Ich wollte nicht, dass Alec mich so ansah und bereute meine ehrliche Antwort sofort – es ging mich schließlich wirklich nichts an. Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich heraus reden könnte, als es an der Tür klingelte.

Alec sprang sofort auf, weil er annahm, dass Emma schon da war, allerdings hätte Paps nicht geklingelt. „Beruhige dich, das ist nicht Emma, sondern Marie.", murmelte ich Lustlos und spürte schon wieder den Druck in meiner Brust, der mir sagte, dass es eine ganz blöde Idee war, in den nächsten Stunden aus meinem sicheren Zimmer zu gehen.

„Marie Bell?!", fragte er erstaunt und vergaß für einen Moment seine Sorge – er strafte mich ja nicht einmal mehr mit dem kalten Blick.

„Jap.", sagte ich und bereute sofort, dass ich Alec angerufen hatte. Nun hielten sich in diesem Haus genau vier Personen auf: Lucas, Marie, Alec und ich – nicht einmal Paps war da – das konnte doch nur schief gehen! Ich hatte ja auf Marvin gehofft, der schließlich auch in unserer Gruppe war, allerdings hatte er mir schon vorhin in der Schule abgesagt und meinte er müsse zum Arzt. Vermutlich hatte er einfach keine Lust auf das ganze Drama, welches sich schon in der Stunde zwischen uns drei Angestaut hatte. „Der Riese hat uns gezwungen, die Gruppenarbeit zu beenden und Lucas hat daraufhin seine Angebetete zu mir nach Hause eingeladen.", erzählte ich bitter und bewegte mich kein Stück. Ich würde dieses Zimmer nicht verlassen – niemals! Ich konnte doch jetzt nicht einfach raus gehen und dem Mädchen einen guten Tag wünschen, die mich vermutlich im Schlaf ersticken würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte. Ich war schließlich nicht lebensmüde. Marie konnte sich vermutlich sowieso viel besser alleine mit Lucas beschäftigen, die beiden brauchten mich nicht.

„Solltest du dann nicht zu den anderen gehen, damit ihr anfangen könnt?", fragte Alec und schien unser vorheriges Thema gänzlich vergessen zu haben.

„Die werden mich vermutlich eh nicht vermissen." Ich sagte es nicht zu Alec, sondern zu mir selbst. Leider glaubte ich mir diese Lüge nicht mal ansatzweise – ich war definitiv verloren.

Wie auf Kommando öffnete jemand meine Tür von außen. Lucas stand im Türrahmen und staunte nicht schlecht über meinen Besuch. Offenbar hatte er nicht mitbekommen, wie die Tür beim ersten Mal geklingelt hatte.

Marie hatte sich hinter meinen Bruder gestellt und musterte uns mit verschränkten Armen. Ihr Blick zeigte mir, dass sie genau so wenig von der ganzen absurden Situation hielt wie ich. Ob ich einen Sprung aus dem Fenster inzwischen ohne gebrochene Knochen überstehen würde? Ich konnte mich noch perfekt an die Technik erinnern, die Lucas und ich uns damals angeeignet hatten – vielleicht hätte ich dieses Mal Glück.

„Was mach der hier?!", fragte meine Bruder und verengte seine Augen zu dünnen Schlitzen. Seine fehlende Sympathie für Alec war nicht zu übersehen.

„Der hat einen Namen, der dir ziemlich geläufig sein sollte, also spreche ihn gefälligst nicht so abfällig an.", antwortete ich Angriffslustig. Ich musste mich mutig fühlen, damit ich nicht wirklich aus dem Fenster sprang. Als Lucas nicht reagierte und die Stille zwischen uns zu erdrückend wurde, fügte ich in normalem Ton hinzu: „Ich habe ihn wegen Emma angerufen. Sei nett."

„Wie soll ich zu Aggro-Alec nett sein?! Der Typ ist krank und geht jetzt!", befahl Lucas, aber weder Alec noch ich machten Anstalten ihm zu gehorchen. Was sollte das auch? So kindisch hatte ich Lucas schon lange nicht mehr erlebt – er konnte den Jungen mit den eisblauen Augen offensichtlich absolut nicht leiden.

„Hör endlich auf dich so kindisch zu benehmen. Entweder wir fangen jetzt an, alles über die Französische Revolution auf zu schreiben, einen Vortrag darüber vor zu bereiten und gehen dafür alle in dein Zimmer, oder du schließt die Tür wieder von außen und lässt uns in Ruhe." Wo bekam ich nur die Kraft in meiner Stimme her? Es wirkte für Außenstehende bestimmt so, als würde ich mich absolut nicht von der Situation (und Marie) einschüchtern lassen – dabei hatte ich schon lange nicht mehr so viel Angst gespürt, wie in diesem Augenblick, und mein Herz klopfte so stark, als würde es versuchen aus meiner Brust zu springen. Doch all das merkte man mir nicht an – ein Glück.

Lucas gab auf und machte sich mit Marie auf den Weg in sein Zimmer – meine Tür schloss er nicht. „Soll ich wirklich mitkommen?", fragte Alec, der offensichtlich immer noch Probleme hatte, die Situation ein zu ordnen. „Ich will nicht stören." Erkannte ich da einen Hauch von Unbehagen an Alec Pecht? Ich konnte nicht glauben, dass der Junge mit den eisblauen Augen tatsächlich so etwas fühlen konnte.

„Klar, alleine würde ich mich vermutlich aus dem Fenster stürzen.", antwortete ich und brachte Alec zum schmunzeln. Er hatte ja keine Ahnung, wie ernst mir die Sache war.

Alec ging zur Tür und ich schaffte es mich aus meiner Position zu befreien. Als ich neben ihm stand, fiel mir noch etwas ein: „Ich bekomme nur so viel wegen Elias mit. Er ist echt ziemlich in Emma verschossen und würde momentan alles für sie machen – er macht sich Sorgen." Wir hatten das Thema vorhin so schnell abgebrochen, dabei war ich ihm eine Erklärung schuldig geblieben.

Alec nickte und versuchte mir ein kleines zusprechendes Lächeln zu zuwerfen, allerdings bildete sein Ausdruck eher eine Grimasse. Er war sich wohl nicht sicher, ob er die Erklärung wirklich zufriedenstellend fand. 


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